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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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Tugenden, machten ihn selbst bey den Feinden
verehrungswürdig, über die er siegte: aber
welche kleine, jämmerliche Rolle läßt ihn Mar-
montel spielen? Roxelane war, nach der Ge-
schichte, eine verschlagene, ehrgeitzige Frau, die,
ihren Stolz zu befriedigen, der kühnsten, schwär-
zesten Streiche fähig war, die den Sultan durch
ihre Ränke und falsche Zärtlichkeit so weit zu
bringen wußte, daß er wider sein eigenes Blut
wüthete, daß er seinen Ruhm durch die Hinrich-
tung eines unschuldigen Sohnes befleckte: und
diese Roxelane ist bey dem Marmontel eine kleine
närrische Coquette, wie nur immer eine in Paris
herumflattert, den Kopf voller Wind, doch das
Herz mehr gut als böse. Sind dergleichen Ver-
kleidungen, fragen sie, wohl erlaubt? Darf
ein Poet, oder ein Erzehler, wenn man ihn auch
noch so viel Freyheit verstattet, diese Freyheit
wohl bis auf die allerbekanntesten Charaktere er-
strecken? Wenn er Facta nach seinem Gutdün-
ken verändern darf, darf er auch eine Lucretia
verbuhlt, und einen Sokrates galant schildern?"

Das heißt einem mit aller Bescheidenheit zu Leibe
gehen. Ich möchte die Rechtfertigung des Hrn. Mar-
montel nicht übernehmen; ich habe mich vielmehr
schon dahin geäußert, (*) daß die Charaktere dem Dich-
ter weit heiliger seyn müssen, als die Facta. Einmal,
weil, wenn jene genau beobachtet werden, diese, inso-
fern sie eine Folge von jenen sind, von selbst nicht viel
anders ausfallen können; da hingegen einerley Factum
sich aus ganz verschiednen Charakteren herleiten läßt.

Zwey-
(*) Oben S. 184.

Tugenden, machten ihn ſelbſt bey den Feinden
verehrungswuͤrdig, uͤber die er ſiegte: aber
welche kleine, jaͤmmerliche Rolle laͤßt ihn Mar-
montel ſpielen? Roxelane war, nach der Ge-
ſchichte, eine verſchlagene, ehrgeitzige Frau, die,
ihren Stolz zu befriedigen, der kuͤhnſten, ſchwaͤr-
zeſten Streiche faͤhig war, die den Sultan durch
ihre Raͤnke und falſche Zaͤrtlichkeit ſo weit zu
bringen wußte, daß er wider ſein eigenes Blut
wuͤthete, daß er ſeinen Ruhm durch die Hinrich-
tung eines unſchuldigen Sohnes befleckte: und
dieſe Roxelane iſt bey dem Marmontel eine kleine
naͤrriſche Coquette, wie nur immer eine in Paris
herumflattert, den Kopf voller Wind, doch das
Herz mehr gut als boͤſe. Sind dergleichen Ver-
kleidungen, fragen ſie, wohl erlaubt? Darf
ein Poet, oder ein Erzehler, wenn man ihn auch
noch ſo viel Freyheit verſtattet, dieſe Freyheit
wohl bis auf die allerbekannteſten Charaktere er-
ſtrecken? Wenn er Facta nach ſeinem Gutduͤn-
ken veraͤndern darf, darf er auch eine Lucretia
verbuhlt, und einen Sokrates galant ſchildern?〟

Das heißt einem mit aller Beſcheidenheit zu Leibe
gehen. Ich moͤchte die Rechtfertigung des Hrn. Mar-
montel nicht uͤbernehmen; ich habe mich vielmehr
ſchon dahin geaͤußert, (*) daß die Charaktere dem Dich-
ter weit heiliger ſeyn muͤſſen, als die Facta. Einmal,
weil, wenn jene genau beobachtet werden, dieſe, inſo-
fern ſie eine Folge von jenen ſind, von ſelbſt nicht viel
anders ausfallen koͤnnen; da hingegen einerley Factum
ſich aus ganz verſchiednen Charakteren herleiten laͤßt.

Zwey-
(*) Oben S. 184.
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[263/0277] Tugenden, machten ihn ſelbſt bey den Feinden verehrungswuͤrdig, uͤber die er ſiegte: aber welche kleine, jaͤmmerliche Rolle laͤßt ihn Mar- montel ſpielen? Roxelane war, nach der Ge- ſchichte, eine verſchlagene, ehrgeitzige Frau, die, ihren Stolz zu befriedigen, der kuͤhnſten, ſchwaͤr- zeſten Streiche faͤhig war, die den Sultan durch ihre Raͤnke und falſche Zaͤrtlichkeit ſo weit zu bringen wußte, daß er wider ſein eigenes Blut wuͤthete, daß er ſeinen Ruhm durch die Hinrich- tung eines unſchuldigen Sohnes befleckte: und dieſe Roxelane iſt bey dem Marmontel eine kleine naͤrriſche Coquette, wie nur immer eine in Paris herumflattert, den Kopf voller Wind, doch das Herz mehr gut als boͤſe. Sind dergleichen Ver- kleidungen, fragen ſie, wohl erlaubt? Darf ein Poet, oder ein Erzehler, wenn man ihn auch noch ſo viel Freyheit verſtattet, dieſe Freyheit wohl bis auf die allerbekannteſten Charaktere er- ſtrecken? Wenn er Facta nach ſeinem Gutduͤn- ken veraͤndern darf, darf er auch eine Lucretia verbuhlt, und einen Sokrates galant ſchildern?〟 Das heißt einem mit aller Beſcheidenheit zu Leibe gehen. Ich moͤchte die Rechtfertigung des Hrn. Mar- montel nicht uͤbernehmen; ich habe mich vielmehr ſchon dahin geaͤußert, (*) daß die Charaktere dem Dich- ter weit heiliger ſeyn muͤſſen, als die Facta. Einmal, weil, wenn jene genau beobachtet werden, dieſe, inſo- fern ſie eine Folge von jenen ſind, von ſelbſt nicht viel anders ausfallen koͤnnen; da hingegen einerley Factum ſich aus ganz verſchiednen Charakteren herleiten laͤßt. Zwey- (*) Oben S. 184.

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/277>, abgerufen am 15.05.2024.