Ein französischer Kunstrichter (*) nahm hiervon Gelegenheit, sich gegen die Trauerspiele von dieser Gattung überhaupt zu erklären: "Uns wäre, sagt er, ein Stoff aus der Geschlchte weit lieber gewesen. Die Jahrbücher der Welt sind an berüchtigten Ver- brechen ja so reich; und die Tragödie ist ja ausdrück- lich dazu, daß sie uns die großen Handlungen wirk- licher Helden zur Bewunderung und Nachahmung vorstellen soll. Indem sie so den Tribut bezahlt, den die Nachwelt ihrer Asche schuldig ist, befeuert sie zu- gleich die Herzen der Itztlebenden mit der edlen Be- gierde, ihnen gleich zu werden. Man wende nicht ein, daß Zayre, Alzire, Mahomet, doch auch nur Geburthen der Erdichtung wären. Die Namen der beiden ersten sind erdichtet, aber der Grund der Be- gebenheiten ist historisch. Es hat wirklich Kreutz- züge gegeben, in welchen sich Christen und Türken, zur Ehre Gottes, ihres gemeinschaftlichen Vaters, haßten und würgten. Bey der Eroberung von Mexico haben sich nothwendig die glücklichen und erhabenen Contraste zwischen den europäischen und amerikanischen Sitten, zwischen der Schwärmerey und der wahren Religion, äußern müssen. Und was den Mahomet anbelangt, so ist er der Auszug, die Quintessenz, so zu reden, aus dem ganzen Leben dieses Betrügers; der Fanatismus, in Handlung gezeigt; das schönste philosophischste Gemählde, das jemals von diesem gefährlichen Ungeheuer gemacht worden."
Ham-
(*)Journal Encyclopedique. Juillet 1762.
Ein franzoͤſiſcher Kunſtrichter (*) nahm hiervon Gelegenheit, ſich gegen die Trauerſpiele von dieſer Gattung uͤberhaupt zu erklaͤren: „Uns waͤre, ſagt er, ein Stoff aus der Geſchlchte weit lieber geweſen. Die Jahrbuͤcher der Welt ſind an beruͤchtigten Ver- brechen ja ſo reich; und die Tragoͤdie iſt ja ausdruͤck- lich dazu, daß ſie uns die großen Handlungen wirk- licher Helden zur Bewunderung und Nachahmung vorſtellen ſoll. Indem ſie ſo den Tribut bezahlt, den die Nachwelt ihrer Aſche ſchuldig iſt, befeuert ſie zu- gleich die Herzen der Itztlebenden mit der edlen Be- gierde, ihnen gleich zu werden. Man wende nicht ein, daß Zayre, Alzire, Mahomet, doch auch nur Geburthen der Erdichtung waͤren. Die Namen der beiden erſten ſind erdichtet, aber der Grund der Be- gebenheiten iſt hiſtoriſch. Es hat wirklich Kreutz- zuͤge gegeben, in welchen ſich Chriſten und Tuͤrken, zur Ehre Gottes, ihres gemeinſchaftlichen Vaters, haßten und wuͤrgten. Bey der Eroberung von Mexico haben ſich nothwendig die gluͤcklichen und erhabenen Contraſte zwiſchen den europaͤiſchen und amerikaniſchen Sitten, zwiſchen der Schwaͤrmerey und der wahren Religion, aͤußern muͤſſen. Und was den Mahomet anbelangt, ſo iſt er der Auszug, die Quinteſſenz, ſo zu reden, aus dem ganzen Leben dieſes Betruͤgers; der Fanatismus, in Handlung gezeigt; das ſchoͤnſte philoſophiſchſte Gemaͤhlde, das jemals von dieſem gefaͤhrlichen Ungeheuer gemacht worden.„
Ham-
(*)Journal Encyclopédique. Juillet 1762.
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Ein franzoͤſiſcher Kunſtrichter (*) nahm hiervon
Gelegenheit, ſich gegen die Trauerſpiele von dieſer
Gattung uͤberhaupt zu erklaͤren: „Uns waͤre, ſagt
er, ein Stoff aus der Geſchlchte weit lieber geweſen.
Die Jahrbuͤcher der Welt ſind an beruͤchtigten Ver-
brechen ja ſo reich; und die Tragoͤdie iſt ja ausdruͤck-
lich dazu, daß ſie uns die großen Handlungen wirk-
licher Helden zur Bewunderung und Nachahmung
vorſtellen ſoll. Indem ſie ſo den Tribut bezahlt, den
die Nachwelt ihrer Aſche ſchuldig iſt, befeuert ſie zu-
gleich die Herzen der Itztlebenden mit der edlen Be-
gierde, ihnen gleich zu werden. Man wende nicht
ein, daß Zayre, Alzire, Mahomet, doch auch nur
Geburthen der Erdichtung waͤren. Die Namen der
beiden erſten ſind erdichtet, aber der Grund der Be-
gebenheiten iſt hiſtoriſch. Es hat wirklich Kreutz-
zuͤge gegeben, in welchen ſich Chriſten und Tuͤrken,
zur Ehre Gottes, ihres gemeinſchaftlichen Vaters,
haßten und wuͤrgten. Bey der Eroberung von
Mexico haben ſich nothwendig die gluͤcklichen und
erhabenen Contraſte zwiſchen den europaͤiſchen und
amerikaniſchen Sitten, zwiſchen der Schwaͤrmerey
und der wahren Religion, aͤußern muͤſſen. Und
was den Mahomet anbelangt, ſo iſt er der Auszug,
die Quinteſſenz, ſo zu reden, aus dem ganzen Leben
dieſes Betruͤgers; der Fanatismus, in Handlung
gezeigt; das ſchoͤnſte philoſophiſchſte Gemaͤhlde, das
jemals von dieſem gefaͤhrlichen Ungeheuer gemacht
worden.„
Ham-
(*) Journal Encyclopédique. Juillet 1762.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/158>, abgerufen am 25.11.2024.
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