Es ist einem jeden vergönnt, seinen eigenen Geschmack zu haben; und es ist rühmlich, sich von seinem eigenen Geschmacke Rechen- schaft zu geben suchen. Aber den Gründen, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allge- meinheit ertheilen, die, wenn es seine Richtig- keit damit hätte, ihn zu dem einzigen wahren Geschmacke machen müßte, heißt aus den Gren- zen des forschenden Liebhabers herausgehen, und sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwer- fen. Der angeführte französische Schriftsteller fängt mit einem bescheidenen, "Uns wäre lieber gewesen" an, und geht zu so allgemein verbin- denden Aussprüchen fort, daß man glauben sollte, dieses Uns sey aus dem Munde der Kritik selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter fol- gert keine Regeln aus seinem Geschmacke, son- dern hat seinen Geschmack nach den Regeln
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Hamburgiſche Dramaturgie. Neunzehntes Stuͤck.
Den 3ten Julius, 1767.
Es iſt einem jeden vergoͤnnt, ſeinen eigenen Geſchmack zu haben; und es iſt ruͤhmlich, ſich von ſeinem eigenen Geſchmacke Rechen- ſchaft zu geben ſuchen. Aber den Gruͤnden, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allge- meinheit ertheilen, die, wenn es ſeine Richtig- keit damit haͤtte, ihn zu dem einzigen wahren Geſchmacke machen muͤßte, heißt aus den Gren- zen des forſchenden Liebhabers herausgehen, und ſich zu einem eigenſinnigen Geſetzgeber aufwer- fen. Der angefuͤhrte franzoͤſiſche Schriftſteller faͤngt mit einem beſcheidenen, „Uns waͤre lieber geweſen„ an, und geht zu ſo allgemein verbin- denden Ausſpruͤchen fort, daß man glauben ſollte, dieſes Uns ſey aus dem Munde der Kritik ſelbſt gekommen. Der wahre Kunſtrichter fol- gert keine Regeln aus ſeinem Geſchmacke, ſon- dern hat ſeinen Geſchmack nach den Regeln
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[[145]/0159]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Neunzehntes Stuͤck.
Den 3ten Julius, 1767.
Es iſt einem jeden vergoͤnnt, ſeinen eigenen
Geſchmack zu haben; und es iſt ruͤhmlich,
ſich von ſeinem eigenen Geſchmacke Rechen-
ſchaft zu geben ſuchen. Aber den Gruͤnden,
durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allge-
meinheit ertheilen, die, wenn es ſeine Richtig-
keit damit haͤtte, ihn zu dem einzigen wahren
Geſchmacke machen muͤßte, heißt aus den Gren-
zen des forſchenden Liebhabers herausgehen, und
ſich zu einem eigenſinnigen Geſetzgeber aufwer-
fen. Der angefuͤhrte franzoͤſiſche Schriftſteller
faͤngt mit einem beſcheidenen, „Uns waͤre lieber
geweſen„ an, und geht zu ſo allgemein verbin-
denden Ausſpruͤchen fort, daß man glauben
ſollte, dieſes Uns ſey aus dem Munde der Kritik
ſelbſt gekommen. Der wahre Kunſtrichter fol-
gert keine Regeln aus ſeinem Geſchmacke, ſon-
dern hat ſeinen Geſchmack nach den Regeln
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. [145]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/159>, abgerufen am 22.11.2024.
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