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Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876.

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i. Die Casus des Singulars.
[Tabelle]

Also im plur. herrscht, abgesehen von dem im dat. plur., sonst aber nirgends
bezeichneten Quantitätsunterschied im Stammauslaut, absolute Gleichheit der
Formen. Nun ist es mir im höchsten Grade wahrscheinlich, dass der nom. plur.
fem. aus einer Anlehnung an das msc. hervorgegangen sei. Wir haben zwar im
Griechischen sicher eine Pluralform des femininalen a-stammes mit i-suffix, diese
ist aber auch dort auffallend genug und erklärt sich vielleicht ebenfalls nur durch
Analogiebildung, um so mehr als ein nom. plur. fem. auf altes -as mit dem gen.
zusammenfallen musste, ganz wie es, abgesehen von dem, aber bloss als Mög-
lichkeit vorhandenen Accentwechsel, z. B. im Litauischen wirklich der Fall ist:
rankos repräsentirt beide Formen, mergos ist gen. sg., mergos nom. plur. An-
dererseits hat das Litauisch-lettische keine Spur eines nom. plur. fem. auf ai,
und auch die eigenthümliche slavische Form auf -y, -e (ein acc.) führt indirect,
wie unten auszuführen, auf -as. Drittens scheint mir sogar wenigstens ein Bei-
spiel der dem Litauischen gleichen femininalen Pluralform Katech. III, 27 erhalten
zu sein in dem Satze: staweidas madlas ast steismu tawan en dangon enimmewingi,
deutsch: "solche bitte sind u. s. w.", also im Deutschen Plural. Es ist doch un-
glaublich, dass das häufig vorkommende und an dieser Stelle des Katechismus
(im Vaterunser) siebenmal nach einander stehende fem. madla gerade hier als
msc. behandelt und die Stelle noch dazu falsch übersetzt sein soll, wie Nessel-
mann meint, der madlas für nom. sg. masc. hält; es ist eben der alte nom. plur.
fem. Dazu kommt noch die Doppelform des dat. sg. msc., von der die auf -u die
genaue Entsprechung in den beiden andern litauischen Sprachen und vielleicht im
Slav. hat, die auf -ai wieder der Femininalform gleicht; da nun u aus ai nicht ent-
standen sein kann, bleibt auch hier nur Annahme einer Entlehnung vom fem.
übrig. Bei dieser Sachlage, die uns eine Ausgleichung zwischen den Formen des
msc. und fem. als höchst wahrscheinlich annehmen lässt, kann man auf die
Genitivform des msc. für die Vergleichung unmöglich etwas geben. Wie viel
freilich von den auffallenden Erscheinungen in der Sprache der preussischen
Katechismen auf die damalige Gestalt des Dialekts, wie viel auf Unwissenheit und
Missverständnisse des Uebersetzers kommt, ist nicht auszumachen; wie dem aber
auch sei, die Authenticität der Form im Sinne einer ursprünglichen gewinnt in
keinem Falle.

Also ich fasse die preussische Form deivas als eine unursprüngliche, von
der die eigentliche Form des msc. vollkommen verdrängt ist. Und doch vielleicht
nicht vollkommen; eine freilich kühne Vermuthung in Bezug auf eine verzweifelte
Stelle des Katech. III führt möglicher Weise auf eine letzte Spur des dem litaui-
schen analogen Genitivs. III, 52 ist der Satz: "du sollst dem Ochsen, der da
drischet, das Maul nicht verbinden", übersetzt durch: tu turei stesmu kurwan,

Leskien, slav.-lit. u. germ. Decl. 3
i. Die Casus des Singulars.
[Tabelle]

Also im plur. herrscht, abgesehen von dem im dat. plur., sonst aber nirgends
bezeichneten Quantitätsunterschied im Stammauslaut, absolute Gleichheit der
Formen. Nun ist es mir im höchsten Grade wahrscheinlich, dass der nom. plur.
fem. aus einer Anlehnung an das msc. hervorgegangen sei. Wir haben zwar im
Griechischen sicher eine Pluralform des femininalen a-stammes mit i-suffix, diese
ist aber auch dort auffallend genug und erklärt sich vielleicht ebenfalls nur durch
Analogiebildung, um so mehr als ein nom. plur. fem. auf altes -ās mit dem gen.
zusammenfallen musste, ganz wie es, abgesehen von dem, aber bloss als Mög-
lichkeit vorhandenen Accentwechsel, z. B. im Litauischen wirklich der Fall ist:
rànkos repräsentirt beide Formen, mergós ist gen. sg., mérgos nom. plur. An-
dererseits hat das Litauisch-lettische keine Spur eines nom. plur. fem. auf ai,
und auch die eigenthümliche slavische Form auf -y, -ę (ein acc.) führt indirect,
wie unten auszuführen, auf -ās. Drittens scheint mir sogar wenigstens ein Bei-
spiel der dem Litauischen gleichen femininalen Pluralform Katech. III, 27 erhalten
zu sein in dem Satze: stawîdas madlas ast steismu tâwan en dangon enimmewingi,
deutsch: «solche bitte sind u. s. w.», also im Deutschen Plural. Es ist doch un-
glaublich, dass das häufig vorkommende und an dieser Stelle des Katechismus
(im Vaterunser) siebenmal nach einander stehende fem. madla gerade hier als
msc. behandelt und die Stelle noch dazu falsch übersetzt sein soll, wie Nessel-
mann meint, der madlas für nom. sg. masc. hält; es ist eben der alte nom. plur.
fem. Dazu kommt noch die Doppelform des dat. sg. msc., von der die auf -u die
genaue Entsprechung in den beiden andern litauischen Sprachen und vielleicht im
Slav. hat, die auf -ai wieder der Femininalform gleicht; da nun u aus ai nicht ent-
standen sein kann, bleibt auch hier nur Annahme einer Entlehnung vom fem.
übrig. Bei dieser Sachlage, die uns eine Ausgleichung zwischen den Formen des
msc. und fem. als höchst wahrscheinlich annehmen lässt, kann man auf die
Genitivform des msc. für die Vergleichung unmöglich etwas geben. Wie viel
freilich von den auffallenden Erscheinungen in der Sprache der preussischen
Katechismen auf die damalige Gestalt des Dialekts, wie viel auf Unwissenheit und
Missverständnisse des Uebersetzers kommt, ist nicht auszumachen; wie dem aber
auch sei, die Authenticität der Form im Sinne einer ursprünglichen gewinnt in
keinem Falle.

Also ich fasse die preussische Form deivās als eine unursprüngliche, von
der die eigentliche Form des msc. vollkommen verdrängt ist. Und doch vielleicht
nicht vollkommen; eine freilich kühne Vermuthung in Bezug auf eine verzweifelte
Stelle des Katech. III führt möglicher Weise auf eine letzte Spur des dem litaui-
schen analogen Genitivs. III, 52 ist der Satz: «du sollst dem Ochsen, der da
drischet, das Maul nicht verbinden», übersetzt durch: tu turei stesmu kurwan,

Leskien, slav.-lit. u. germ. Decl. 3
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[33/0069] i. Die Casus des Singulars. Also im plur. herrscht, abgesehen von dem im dat. plur., sonst aber nirgends bezeichneten Quantitätsunterschied im Stammauslaut, absolute Gleichheit der Formen. Nun ist es mir im höchsten Grade wahrscheinlich, dass der nom. plur. fem. aus einer Anlehnung an das msc. hervorgegangen sei. Wir haben zwar im Griechischen sicher eine Pluralform des femininalen a-stammes mit i-suffix, diese ist aber auch dort auffallend genug und erklärt sich vielleicht ebenfalls nur durch Analogiebildung, um so mehr als ein nom. plur. fem. auf altes -ās mit dem gen. zusammenfallen musste, ganz wie es, abgesehen von dem, aber bloss als Mög- lichkeit vorhandenen Accentwechsel, z. B. im Litauischen wirklich der Fall ist: rànkos repräsentirt beide Formen, mergós ist gen. sg., mérgos nom. plur. An- dererseits hat das Litauisch-lettische keine Spur eines nom. plur. fem. auf ai, und auch die eigenthümliche slavische Form auf -y, -ę (ein acc.) führt indirect, wie unten auszuführen, auf -ās. Drittens scheint mir sogar wenigstens ein Bei- spiel der dem Litauischen gleichen femininalen Pluralform Katech. III, 27 erhalten zu sein in dem Satze: stawîdas madlas ast steismu tâwan en dangon enimmewingi, deutsch: «solche bitte sind u. s. w.», also im Deutschen Plural. Es ist doch un- glaublich, dass das häufig vorkommende und an dieser Stelle des Katechismus (im Vaterunser) siebenmal nach einander stehende fem. madla gerade hier als msc. behandelt und die Stelle noch dazu falsch übersetzt sein soll, wie Nessel- mann meint, der madlas für nom. sg. masc. hält; es ist eben der alte nom. plur. fem. Dazu kommt noch die Doppelform des dat. sg. msc., von der die auf -u die genaue Entsprechung in den beiden andern litauischen Sprachen und vielleicht im Slav. hat, die auf -ai wieder der Femininalform gleicht; da nun u aus ai nicht ent- standen sein kann, bleibt auch hier nur Annahme einer Entlehnung vom fem. übrig. Bei dieser Sachlage, die uns eine Ausgleichung zwischen den Formen des msc. und fem. als höchst wahrscheinlich annehmen lässt, kann man auf die Genitivform des msc. für die Vergleichung unmöglich etwas geben. Wie viel freilich von den auffallenden Erscheinungen in der Sprache der preussischen Katechismen auf die damalige Gestalt des Dialekts, wie viel auf Unwissenheit und Missverständnisse des Uebersetzers kommt, ist nicht auszumachen; wie dem aber auch sei, die Authenticität der Form im Sinne einer ursprünglichen gewinnt in keinem Falle. Also ich fasse die preussische Form deivās als eine unursprüngliche, von der die eigentliche Form des msc. vollkommen verdrängt ist. Und doch vielleicht nicht vollkommen; eine freilich kühne Vermuthung in Bezug auf eine verzweifelte Stelle des Katech. III führt möglicher Weise auf eine letzte Spur des dem litaui- schen analogen Genitivs. III, 52 ist der Satz: «du sollst dem Ochsen, der da drischet, das Maul nicht verbinden», übersetzt durch: tu turei stesmu kurwan, Leskien, slav.-lit. u. germ. Decl. 3

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Zitationshilfe: Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/leskien_declination_1876/69>, abgerufen am 05.05.2024.