Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.und die Gnade des Himmels für den armen Schauspieler angefleht, der Gotteslästerun- gen sagen mußte, weil er sie gelernt hatte. Und was beym Griechen mein ganzes Mit- leiden aus der Brust herausgeschluchst ha- ben würde, macht beym Franzosen mein Herz für Abscheu zum Stein. Wer? was? Oedip? ist das geschehen? Wenn es gesche- hen ist, warum bringt ihrs auf die Bühne wie es geschah, nicht vielmehr, wie Aristo- teles selber verlangt, wie es geschehen soll- te. Bey dem Griechen sollte Oedip ein Monstrum von Unglück werden, weil Joka- sta durch ihren Fürwitz Apolln geärgert, die Ehrfurcht vor ihm aus den Augen gesetzt. Aber bey dem Franzosen hätt' er sein Un- glück verdienen sollen, oder fort von der Bühne. Wenigstens mußt du mir ein Brett zuwerfen, Dichter, woran ich halten kann, wenn du mich auf diese Höhe führst. Jch fordre Rechenschaft von dir. Du sollst mir keinen Menschen auf die Folter bringen, oh- ne zu sagen warum. Damit wir nun, unsern Religionsbegriffen heut D 2
und die Gnade des Himmels fuͤr den armen Schauſpieler angefleht, der Gotteslaͤſterun- gen ſagen mußte, weil er ſie gelernt hatte. Und was beym Griechen mein ganzes Mit- leiden aus der Bruſt herausgeſchluchſt ha- ben wuͤrde, macht beym Franzoſen mein Herz fuͤr Abſcheu zum Stein. Wer? was? Oedip? iſt das geſchehen? Wenn es geſche- hen iſt, warum bringt ihrs auf die Buͤhne wie es geſchah, nicht vielmehr, wie Ariſto- teles ſelber verlangt, wie es geſchehen ſoll- te. Bey dem Griechen ſollte Oedip ein Monſtrum von Ungluͤck werden, weil Joka- ſta durch ihren Fuͤrwitz Apolln geaͤrgert, die Ehrfurcht vor ihm aus den Augen geſetzt. Aber bey dem Franzoſen haͤtt’ er ſein Un- gluͤck verdienen ſollen, oder fort von der Buͤhne. Wenigſtens mußt du mir ein Brett zuwerfen, Dichter, woran ich halten kann, wenn du mich auf dieſe Hoͤhe fuͤhrſt. Jch fordre Rechenſchaft von dir. Du ſollſt mir keinen Menſchen auf die Folter bringen, oh- ne zu ſagen warum. Damit wir nun, unſern Religionsbegriffen heut D 2
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und die Gnade des Himmels fuͤr den armen
Schauſpieler angefleht, der Gotteslaͤſterun-
gen ſagen mußte, weil er ſie gelernt hatte.
Und was beym Griechen mein ganzes Mit-
leiden aus der Bruſt herausgeſchluchſt ha-
ben wuͤrde, macht beym Franzoſen mein
Herz fuͤr Abſcheu zum Stein. Wer? was?
Oedip? iſt das geſchehen? Wenn es geſche-
hen iſt, warum bringt ihrs auf die Buͤhne
wie es geſchah, nicht vielmehr, wie Ariſto-
teles ſelber verlangt, wie es geſchehen ſoll-
te. Bey dem Griechen ſollte Oedip ein
Monſtrum von Ungluͤck werden, weil Joka-
ſta durch ihren Fuͤrwitz Apolln geaͤrgert, die
Ehrfurcht vor ihm aus den Augen geſetzt.
Aber bey dem Franzoſen haͤtt’ er ſein Un-
gluͤck verdienen ſollen, oder fort von der
Buͤhne. Wenigſtens mußt du mir ein Brett
zuwerfen, Dichter, woran ich halten kann,
wenn du mich auf dieſe Hoͤhe fuͤhrſt. Jch
fordre Rechenſchaft von dir. Du ſollſt mir
keinen Menſchen auf die Folter bringen, oh-
ne zu ſagen warum.
Damit wir nun, unſern Religionsbegriffen
und ganzen Art zu denken und zu handeln ana-
log, die Graͤnzen unſers Trauerſpiels richtiger
abſtecken, als bisher geſchehen, ſo muͤſſen wir
von einem andern Punkt ausgehen, als Ari-
ſtoteles, wir muͤſſen, um den unſrigen zu neh-
men, den Volksgeſchmack der Vorzeit und un-
ſers Vaterlandes zu Rathe ziehen, der noch
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