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Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.

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rechneten, sie bebten vor dem Gedanken zu-
rück. Es war Gottesdienst, die furchtbare
Gewalt des Schicksals anzuerkennen, vor
seinem blinden Despotismus hinzuzittern.
Daher war Oedip ein sehr schickliches Sujet
fürs Theater, einen Diomed führte man
nicht gern auf. Die Hauptempfindung, wel-
che erregt werden sollte, war nicht Hochach-
tung für den Helden, sondern blinde und
knechtische Furcht vor den Göttern. Wie
konnte Aristoteles also anders: secundum au-
tem sunt mores.
Jch sage, blinde und knech-
tische Furcht, wenn ich als Theologe spreche.
Als Aesthetiker, war diese Furcht das ein-
zige, was dem Trauerspiele der Alten den
haut gout, den Bitterreiz gab, der ihre Lei-
denschaften allein in Bewegung zu setzen
wuste. Von jeher und zu allen Zeiten sind
die Empfindungen, Gemüthsbewegungen
und Leidenschaften der Menschen auf ihre
Religionsbegriffe gepfropfet, ein Mensch oh-
ne alle Religion hat gar keine Empfindung
(weh ihm!) ein Mensch mit schiefer Reli-
gion schiefe Empfindungen und ein Dichter,
der die Religion seines Volks nicht gegrün-
det hat, ist weniger als ein Meßmusikant.

Was wird nun aus dem Oedip des Herrn
Voltaire, aus seinem impitoyables dieux, mes
crimes sont les votres.
Gott verzeihe mir, so
oft ich das gehört, hab ich meinen Hut an-
dächtig zwischen beyde Hände genommen,

und



rechneten, ſie bebten vor dem Gedanken zu-
ruͤck. Es war Gottesdienſt, die furchtbare
Gewalt des Schickſals anzuerkennen, vor
ſeinem blinden Deſpotismus hinzuzittern.
Daher war Oedip ein ſehr ſchickliches Sujet
fuͤrs Theater, einen Diomed fuͤhrte man
nicht gern auf. Die Hauptempfindung, wel-
che erregt werden ſollte, war nicht Hochach-
tung fuͤr den Helden, ſondern blinde und
knechtiſche Furcht vor den Goͤttern. Wie
konnte Ariſtoteles alſo anders: ſecundum au-
tem ſunt mores.
Jch ſage, blinde und knech-
tiſche Furcht, wenn ich als Theologe ſpreche.
Als Aeſthetiker, war dieſe Furcht das ein-
zige, was dem Trauerſpiele der Alten den
haut gout, den Bitterreiz gab, der ihre Lei-
denſchaften allein in Bewegung zu ſetzen
wuſte. Von jeher und zu allen Zeiten ſind
die Empfindungen, Gemuͤthsbewegungen
und Leidenſchaften der Menſchen auf ihre
Religionsbegriffe gepfropfet, ein Menſch oh-
ne alle Religion hat gar keine Empfindung
(weh ihm!) ein Menſch mit ſchiefer Reli-
gion ſchiefe Empfindungen und ein Dichter,
der die Religion ſeines Volks nicht gegruͤn-
det hat, iſt weniger als ein Meßmuſikant.

Was wird nun aus dem Oedip des Herrn
Voltaire, aus ſeinem impitoyables dieux, mes
crimes ſont les votres.
Gott verzeihe mir, ſo
oft ich das gehoͤrt, hab ich meinen Hut an-
daͤchtig zwiſchen beyde Haͤnde genommen,

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[50/0056] rechneten, ſie bebten vor dem Gedanken zu- ruͤck. Es war Gottesdienſt, die furchtbare Gewalt des Schickſals anzuerkennen, vor ſeinem blinden Deſpotismus hinzuzittern. Daher war Oedip ein ſehr ſchickliches Sujet fuͤrs Theater, einen Diomed fuͤhrte man nicht gern auf. Die Hauptempfindung, wel- che erregt werden ſollte, war nicht Hochach- tung fuͤr den Helden, ſondern blinde und knechtiſche Furcht vor den Goͤttern. Wie konnte Ariſtoteles alſo anders: ſecundum au- tem ſunt mores. Jch ſage, blinde und knech- tiſche Furcht, wenn ich als Theologe ſpreche. Als Aeſthetiker, war dieſe Furcht das ein- zige, was dem Trauerſpiele der Alten den haut gout, den Bitterreiz gab, der ihre Lei- denſchaften allein in Bewegung zu ſetzen wuſte. Von jeher und zu allen Zeiten ſind die Empfindungen, Gemuͤthsbewegungen und Leidenſchaften der Menſchen auf ihre Religionsbegriffe gepfropfet, ein Menſch oh- ne alle Religion hat gar keine Empfindung (weh ihm!) ein Menſch mit ſchiefer Reli- gion ſchiefe Empfindungen und ein Dichter, der die Religion ſeines Volks nicht gegruͤn- det hat, iſt weniger als ein Meßmuſikant. Was wird nun aus dem Oedip des Herrn Voltaire, aus ſeinem impitoyables dieux, mes crimes ſont les votres. Gott verzeihe mir, ſo oft ich das gehoͤrt, hab ich meinen Hut an- daͤchtig zwiſchen beyde Haͤnde genommen, und

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Zitationshilfe: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/56>, abgerufen am 25.11.2024.