Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Leibniz, Gottfried Wilhelm: Unvorgreiffliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache. In: Pietsch, Paul (Hg.), Leibniz und die deutsche Sprache. Berlin, 1908 (= Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Vierte Reihe), S. 327-356.

Bild:
<< vorherige Seite

iedesmahl so offt sie vorkommt, von neuen zu bedencken. Daher wenn
er sie einmahl wohl gefasset, begnügt er sich hernach offt, nicht
nur in äusserlichen Reden, sondern auch in den Gedancken und inner-
lichen Selbst-Gespräch das Wort an die Stelle der Sache zu setzen.

6. Und gleichwie ein Rechen-Meister der keine Zahl schreiben
wolte, deren Halt er nicht zugleich bedächte und gleichsam an den
Fingern abzehlete, wie man die Uhr zehlet, nimmer mit der Rech-
nung fertig werden würde: Also wenn man im Reden und auch selbst
im Gedencken kein Wort sprechen wolte, ohne sich ein eigentliches
Bildniss von dessen Bedeutung zu machen, würde man überaus lang-
sam sprechen oder vielmehr verstummen müssen, auch den Lauff der
Gedancken nothwendig hemmen und also im Reden und Dencken nicht
weit kommen.

7. Daher braucht man offt die Wort als Zifern oder als Rechen-Pfennige
an statt der Bildnisse und Sachen, biss man Stuffen weise
zum Facit schreitet und beym Vernunfft-Schluss zur Sache selbst ge-
langet. Woraus erscheinet wie ein Grosses daran gelegen, dass die
Worte als Vorbilde und gleichsam als Wechsel-Zeddel des Verstandes
wohl gefasset, wohl unterschieden, zulänglich, häuffig, leichtfliessend
und angenehm seyn.

8. Es haben die Wiss-Künstler (wie man die so mit der Mathe-
matik beschäfftiget, nach der Holländer Beyspiel gar füglich nennen
kan) eine Erfindung der Zeichen-Kunst, davon die so genandte Algebra
nur ein Theil: Damit findet man heute zu Tage Dinge aus, so die
Alten nicht erreichen können, und dennoch bestehet die gantze Kunst
in nichts, als im Gebrauch wol angebrachter Zeichen. Die Alten
haben mit der Cabbala viel Wesens gemacht und Geheimnisse in
den Worten gesuchet. Und die würden sie in der That in einer wohl-
gefasseten Sprache finden: als welche dienet nicht nur vor die Wiss-Kunst,
sondern für alle Wissenschafften, Künste und Geschäffte. Und
hat man demnach die Cabbala oder Zeichen-Kunst nicht nur in denen
Hebräischen Sprach-Geheimnissen, sondern auch bey einer ieden
Sprach nicht zwar in gewissen buchstäblichen Deuteleyen, sondern im
rechten Verstand und Gebrauch der Worte zu suchen.


iedesmahl so offt sie vorkommt, von neuen zu bedencken. Daher wenn
er sie einmahl wohl gefasset, begnügt er sich hernach offt, nicht
nur in äusserlichen Reden, sondern auch in den Gedancken und inner-
lichen Selbst-Gespräch das Wort an die Stelle der Sache zu setzen.

6. Und gleichwie ein Rechen-Meister der keine Zahl schreiben
wolte, deren Halt er nicht zugleich bedächte und gleichsam an den
Fingern abzehlete, wie man die Uhr zehlet, nimmer mit der Rech-
nung fertig werden würde: Also wenn man im Reden und auch selbst
im Gedencken kein Wort sprechen wolte, ohne sich ein eigentliches
Bildniss von dessen Bedeutung zu machen, würde man überaus lang-
sam sprechen oder vielmehr verstummen müssen, auch den Lauff der
Gedancken nothwendig hemmen und also im Reden und Dencken nicht
weit kommen.

7. Daher braucht man offt die Wort als Zifern oder als Rechen-Pfennige
an statt der Bildnisse und Sachen, biss man Stuffen weise
zum Facit schreitet und beym Vernunfft-Schluss zur Sache selbst ge-
langet. Woraus erscheinet wie ein Grosses daran gelegen, dass die
Worte als Vorbilde und gleichsam als Wechsel-Zeddel des Verstandes
wohl gefasset, wohl unterschieden, zulänglich, häuffig, leichtfliessend
und angenehm seyn.

8. Es haben die Wiss-Künstler (wie man die so mit der Mathe-
matik beschäfftiget, nach der Holländer Beyspiel gar füglich nennen
kan) eine Erfindung der Zeichen-Kunst, davon die so genandte Algebra
nur ein Theil: Damit findet man heute zu Tage Dinge aus, so die
Alten nicht erreichen können, und dennoch bestehet die gantze Kunst
in nichts, als im Gebrauch wol angebrachter Zeichen. Die Alten
haben mit der Cabbala viel Wesens gemacht und Geheimnisse in
den Worten gesuchet. Und die würden sie in der That in einer wohl-
gefasseten Sprache finden: als welche dienet nicht nur vor die Wiss-Kunst,
sondern für alle Wissenschafften, Künste und Geschäffte. Und
hat man demnach die Cabbala oder Zeichen-Kunst nicht nur in denen
Hebräischen Sprach-Geheimnissen, sondern auch bey einer ieden
Sprach nicht zwar in gewissen buchstäblichen Deuteleyen, sondern im
rechten Verstand und Gebrauch der Worte zu suchen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#0003" n="329"/>
iedesmahl so offt sie vorkommt, von
                     neuen zu bedencken. Daher wenn<lb/>
er sie einmahl wohl gefasset, begnügt er sich
                     hernach offt, nicht<lb/>
nur in äusserlichen Reden, sondern auch in den Gedancken
                     und inner-<lb/>
lichen Selbst-Gespräch das Wort an die Stelle der Sache zu
                     setzen.</p><lb/>
        <p>6. Und gleichwie ein Rechen-Meister der keine Zahl schreiben<lb/>
wolte, deren
                     Halt er nicht zugleich bedächte und gleichsam an den<lb/>
Fingern abzehlete, wie
                     man die Uhr zehlet, nimmer mit der Rech-<lb/>
nung fertig werden würde: Also wenn
                     man im Reden und auch selbst<lb/>
im Gedencken kein Wort sprechen wolte, ohne
                     sich ein eigentliches<lb/>
Bildniss von dessen Bedeutung zu machen, würde man
                     überaus lang-<lb/>
sam sprechen oder vielmehr verstummen müssen, auch den Lauff
                     der<lb/>
Gedancken nothwendig hemmen und also im Reden und Dencken nicht<lb/>
weit
                     kommen.</p><lb/>
        <p>7. Daher braucht man offt die Wort als Zifern oder als Rechen-Pfennige<lb/>
an
                     statt der Bildnisse und Sachen, biss man Stuffen weise<lb/>
zum Facit schreitet
                     und beym Vernunfft-Schluss zur Sache selbst ge-<lb/>
langet. Woraus erscheinet
                     wie ein Grosses daran gelegen, dass die<lb/>
Worte als Vorbilde und gleichsam als
                     Wechsel-Zeddel des Verstandes<lb/>
wohl gefasset, wohl unterschieden, zulänglich,
                     häuffig, leichtfliessend<lb/>
und angenehm seyn.</p><lb/>
        <p>8. Es haben die Wiss-Künstler (wie man die so mit der Mathe-<lb/>
matik
                     beschäfftiget, nach der Holländer Beyspiel gar füglich nennen<lb/>
kan) eine
                     Erfindung der Zeichen-Kunst, davon die so genandte Algebra<lb/>
nur ein Theil:
                     Damit findet man heute zu Tage Dinge aus, so die<lb/>
Alten nicht erreichen
                     können, und dennoch bestehet die gantze Kunst<lb/>
in nichts, als im Gebrauch wol
                     angebrachter Zeichen. Die Alten<lb/>
haben mit der Cabbala viel Wesens gemacht
                     und Geheimnisse in<lb/>
den Worten gesuchet. Und die würden sie in der That in
                     einer wohl-<lb/>
gefasseten Sprache finden: als welche dienet nicht nur vor die
                     Wiss-Kunst,<lb/>
sondern für alle Wissenschafften, Künste und Geschäffte.
                     Und<lb/>
hat man demnach die Cabbala oder Zeichen-Kunst nicht nur in
                     denen<lb/>
Hebräischen Sprach-Geheimnissen, sondern auch bey einer
                     ieden<lb/>
Sprach nicht zwar in gewissen buchstäblichen Deuteleyen, sondern
                     im<lb/>
rechten Verstand und Gebrauch der Worte zu suchen.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[329/0003] iedesmahl so offt sie vorkommt, von neuen zu bedencken. Daher wenn er sie einmahl wohl gefasset, begnügt er sich hernach offt, nicht nur in äusserlichen Reden, sondern auch in den Gedancken und inner- lichen Selbst-Gespräch das Wort an die Stelle der Sache zu setzen. 6. Und gleichwie ein Rechen-Meister der keine Zahl schreiben wolte, deren Halt er nicht zugleich bedächte und gleichsam an den Fingern abzehlete, wie man die Uhr zehlet, nimmer mit der Rech- nung fertig werden würde: Also wenn man im Reden und auch selbst im Gedencken kein Wort sprechen wolte, ohne sich ein eigentliches Bildniss von dessen Bedeutung zu machen, würde man überaus lang- sam sprechen oder vielmehr verstummen müssen, auch den Lauff der Gedancken nothwendig hemmen und also im Reden und Dencken nicht weit kommen. 7. Daher braucht man offt die Wort als Zifern oder als Rechen-Pfennige an statt der Bildnisse und Sachen, biss man Stuffen weise zum Facit schreitet und beym Vernunfft-Schluss zur Sache selbst ge- langet. Woraus erscheinet wie ein Grosses daran gelegen, dass die Worte als Vorbilde und gleichsam als Wechsel-Zeddel des Verstandes wohl gefasset, wohl unterschieden, zulänglich, häuffig, leichtfliessend und angenehm seyn. 8. Es haben die Wiss-Künstler (wie man die so mit der Mathe- matik beschäfftiget, nach der Holländer Beyspiel gar füglich nennen kan) eine Erfindung der Zeichen-Kunst, davon die so genandte Algebra nur ein Theil: Damit findet man heute zu Tage Dinge aus, so die Alten nicht erreichen können, und dennoch bestehet die gantze Kunst in nichts, als im Gebrauch wol angebrachter Zeichen. Die Alten haben mit der Cabbala viel Wesens gemacht und Geheimnisse in den Worten gesuchet. Und die würden sie in der That in einer wohl- gefasseten Sprache finden: als welche dienet nicht nur vor die Wiss-Kunst, sondern für alle Wissenschafften, Künste und Geschäffte. Und hat man demnach die Cabbala oder Zeichen-Kunst nicht nur in denen Hebräischen Sprach-Geheimnissen, sondern auch bey einer ieden Sprach nicht zwar in gewissen buchstäblichen Deuteleyen, sondern im rechten Verstand und Gebrauch der Worte zu suchen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Gloning: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-10-05T14:54:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-10-05T14:54:07Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • langes s (?): als s transkribiert
  • Vollständigkeit: teilweise erfasst

Die Transkription beruht auf dem Abdruck in Pietsch, Paul (Hg.): Leibniz und die deutsche Sprache. Berlin, 1908 (= Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Vierte Reihe), S. 327-356.

Pietsch stützte sich vor allem auf den Druck von 1717, zog für die Textherstellung aber auch die drei Handschriften A, B, C, alle in Hannover,heran. Der abweichende Schluß der ältesten Handschrift A wird unten in den Paragraphen A114 bis A119 wiedergegeben. Digitale Fassung bearbeitet von Thomas Gloning, Stand 22.7.2000. Korrekturhinweis 20.9.2013: hospes korr. zu hostes (freundlicher Hinweis von Dieter Maue). In A118, Z. 2 wurde "uach" zu "auch" korrigiert, in A119,4 "vermitttelst" zu "vermittelst" (Druckfehler).




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/leibniz_sprache_1717
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/leibniz_sprache_1717/3
Zitationshilfe: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Unvorgreiffliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache. In: Pietsch, Paul (Hg.), Leibniz und die deutsche Sprache. Berlin, 1908 (= Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Vierte Reihe), S. 327-356, hier S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/leibniz_sprache_1717/3>, abgerufen am 24.11.2024.