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Leibniz, Gottfried Wilhelm: Unvorgreiffliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache. In: Pietsch, Paul (Hg.), Leibniz und die deutsche Sprache. Berlin, 1908 (= Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Vierte Reihe), S. 327-356.

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um des willen noch nicht wohl angehen wollen, weil Oesterreich am Ende
Teutschlandes, und also die Wienerische Mund-Art nicht wol zum Grunde
gesetzet werden kan; da sonst, wann ein Kayser mitten im Reiche seinen
Sitz hätte, die Regel der Sprache besser daher genommen werden könte.

105. So geht auch den Italiänern noch biss dato ein und anders
hierinn ab, ohngeachtet alles Fleisses, den die Crusca angewendet,
gegen welche der scharffsinnige Tassoni und andere geschrieben,
und ihr Urtheil nicht allemahl ohne Schein in Zweiffel gezogen.
Und also, obschon die Italiänische Sprache unter allen Europäischen,
die erste gewesen, so zu dem Stande kommen, darin sie sich ietzo im
Hauptwerck noch befindet; immassen Petrarca und Dante noch ietzo
gut seyn, welches von keinem Teutschen, Frantzösischen, Spanischen oder
Englischen Buch selbiger Zeit gesaget werden kan. So sind doch annoch
viele Grammatische Knoten und Scrupel auch bey ihr übrig blieben.

106. Ob nun schon wir Teutsche uns also desto weniger zu ver-
wundern oder auch zu schämen haben, dass unsere Grammatic noch
nicht in vollkommenem Stande, so düncket mich doch gleichwohl, sie
sey noch allzuviel davon entfernet, und habe daher einer grossen
Verbesserung nöthig, sey also auch dermahleins von Teutschgesinneten
Gelehrten solche mit Nachdruck vorzunehmen.

107. Und zwar nicht allein um uns selbst aus einigen Zweiffeln
zu helffen, weilen endlich solche nicht so gar wichtig seyn, sondern
auch so wohl unsere Leute zu unterrichten, zumahl die kein Lateinisch
studiret haben, welche gar offt schlecht Teutsch schreiben, als auch
den Frembden die Teutsche Sprache leichter und begreifflicher zu
machen; welches zu unserm Ruhm gereichen, andern zu den Teut-
schen Büchern Lust bringen, und den von etlichen gefassten Wahn
benehmen würde, als ob unsere Sprache der Regeln unfähig, und
aus dem Gebrauch fast allein erlernet werden müste.

108. Sonst sind wohl einige Zweiffel bey uns vorhanden, darüber
gantze Länder von einander unterschieden und Canzeleyen selbst gegen
Canzeleyen streiten, als zum Exempel, was für Geschlechts das Wort
Urtheil sey. Im Reiche beym Reichs-Hoff-Rath, beym Reichs-Kammer-Gerichte
und sonst ist Urtheil weiblichen Geschlechts und saget man
die Urtheil; Hingegen in denen Ober-Sächsischen Gerichten spricht
man das Urtheil.


um des willen noch nicht wohl angehen wollen, weil Oesterreich am Ende
Teutschlandes, und also die Wienerische Mund-Art nicht wol zum Grunde
gesetzet werden kan; da sonst, wann ein Kayser mitten im Reiche seinen
Sitz hätte, die Regel der Sprache besser daher genommen werden könte.

105. So geht auch den Italiänern noch biss dato ein und anders
hierinn ab, ohngeachtet alles Fleisses, den die Crusca angewendet,
gegen welche der scharffsinnige Tassoni und andere geschrieben,
und ihr Urtheil nicht allemahl ohne Schein in Zweiffel gezogen.
Und also, obschon die Italiänische Sprache unter allen Europäischen,
die erste gewesen, so zu dem Stande kommen, darin sie sich ietzo im
Hauptwerck noch befindet; immassen Petrarca und Dante noch ietzo
gut seyn, welches von keinem Teutschen, Frantzösischen, Spanischen oder
Englischen Buch selbiger Zeit gesaget werden kan. So sind doch annoch
viele Grammatische Knoten und Scrupel auch bey ihr übrig blieben.

106. Ob nun schon wir Teutsche uns also desto weniger zu ver-
wundern oder auch zu schämen haben, dass unsere Grammatic noch
nicht in vollkommenem Stande, so düncket mich doch gleichwohl, sie
sey noch allzuviel davon entfernet, und habe daher einer grossen
Verbesserung nöthig, sey also auch dermahleins von Teutschgesinneten
Gelehrten solche mit Nachdruck vorzunehmen.

107. Und zwar nicht allein um uns selbst aus einigen Zweiffeln
zu helffen, weilen endlich solche nicht so gar wichtig seyn, sondern
auch so wohl unsere Leute zu unterrichten, zumahl die kein Lateinisch
studiret haben, welche gar offt schlecht Teutsch schreiben, als auch
den Frembden die Teutsche Sprache leichter und begreifflicher zu
machen; welches zu unserm Ruhm gereichen, andern zu den Teut-
schen Büchern Lust bringen, und den von etlichen gefassten Wahn
benehmen würde, als ob unsere Sprache der Regeln unfähig, und
aus dem Gebrauch fast allein erlernet werden müste.

108. Sonst sind wohl einige Zweiffel bey uns vorhanden, darüber
gantze Länder von einander unterschieden und Canzeleyen selbst gegen
Canzeleyen streiten, als zum Exempel, was für Geschlechts das Wort
Urtheil sey. Im Reiche beym Reichs-Hoff-Rath, beym Reichs-Kammer-Gerichte
und sonst ist Urtheil weiblichen Geschlechts und saget man
die Urtheil; Hingegen in denen Ober-Sächsischen Gerichten spricht
man das Urtheil.


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[354/0028] um des willen noch nicht wohl angehen wollen, weil Oesterreich am Ende Teutschlandes, und also die Wienerische Mund-Art nicht wol zum Grunde gesetzet werden kan; da sonst, wann ein Kayser mitten im Reiche seinen Sitz hätte, die Regel der Sprache besser daher genommen werden könte. 105. So geht auch den Italiänern noch biss dato ein und anders hierinn ab, ohngeachtet alles Fleisses, den die Crusca angewendet, gegen welche der scharffsinnige Tassoni und andere geschrieben, und ihr Urtheil nicht allemahl ohne Schein in Zweiffel gezogen. Und also, obschon die Italiänische Sprache unter allen Europäischen, die erste gewesen, so zu dem Stande kommen, darin sie sich ietzo im Hauptwerck noch befindet; immassen Petrarca und Dante noch ietzo gut seyn, welches von keinem Teutschen, Frantzösischen, Spanischen oder Englischen Buch selbiger Zeit gesaget werden kan. So sind doch annoch viele Grammatische Knoten und Scrupel auch bey ihr übrig blieben. 106. Ob nun schon wir Teutsche uns also desto weniger zu ver- wundern oder auch zu schämen haben, dass unsere Grammatic noch nicht in vollkommenem Stande, so düncket mich doch gleichwohl, sie sey noch allzuviel davon entfernet, und habe daher einer grossen Verbesserung nöthig, sey also auch dermahleins von Teutschgesinneten Gelehrten solche mit Nachdruck vorzunehmen. 107. Und zwar nicht allein um uns selbst aus einigen Zweiffeln zu helffen, weilen endlich solche nicht so gar wichtig seyn, sondern auch so wohl unsere Leute zu unterrichten, zumahl die kein Lateinisch studiret haben, welche gar offt schlecht Teutsch schreiben, als auch den Frembden die Teutsche Sprache leichter und begreifflicher zu machen; welches zu unserm Ruhm gereichen, andern zu den Teut- schen Büchern Lust bringen, und den von etlichen gefassten Wahn benehmen würde, als ob unsere Sprache der Regeln unfähig, und aus dem Gebrauch fast allein erlernet werden müste. 108. Sonst sind wohl einige Zweiffel bey uns vorhanden, darüber gantze Länder von einander unterschieden und Canzeleyen selbst gegen Canzeleyen streiten, als zum Exempel, was für Geschlechts das Wort Urtheil sey. Im Reiche beym Reichs-Hoff-Rath, beym Reichs-Kammer-Gerichte und sonst ist Urtheil weiblichen Geschlechts und saget man die Urtheil; Hingegen in denen Ober-Sächsischen Gerichten spricht man das Urtheil.

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Gloning: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-10-05T14:54:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-10-05T14:54:07Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • langes s (?): als s transkribiert
  • Vollständigkeit: teilweise erfasst

Die Transkription beruht auf dem Abdruck in Pietsch, Paul (Hg.): Leibniz und die deutsche Sprache. Berlin, 1908 (= Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Vierte Reihe), S. 327-356.

Pietsch stützte sich vor allem auf den Druck von 1717, zog für die Textherstellung aber auch die drei Handschriften A, B, C, alle in Hannover,heran. Der abweichende Schluß der ältesten Handschrift A wird unten in den Paragraphen A114 bis A119 wiedergegeben. Digitale Fassung bearbeitet von Thomas Gloning, Stand 22.7.2000. Korrekturhinweis 20.9.2013: hospes korr. zu hostes (freundlicher Hinweis von Dieter Maue). In A118, Z. 2 wurde "uach" zu "auch" korrigiert, in A119,4 "vermitttelst" zu "vermittelst" (Druckfehler).




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Zitationshilfe: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Unvorgreiffliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache. In: Pietsch, Paul (Hg.), Leibniz und die deutsche Sprache. Berlin, 1908 (= Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Vierte Reihe), S. 327-356, hier S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/leibniz_sprache_1717/28>, abgerufen am 29.03.2024.