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Leibniz, Gottfried Wilhelm: Unvorgreiffliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache. In: Pietsch, Paul (Hg.), Leibniz und die deutsche Sprache. Berlin, 1908 (= Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Vierte Reihe), S. 327-356.

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Tacitus oder anderer vortrefflicher Lateinischer Schrifften, die bündige
Krafft des Vorbildes erreichen solten.

62. Inzwischen ist gleichwohl diejenige Sprache die reichste und
bequemste, welche am besten mit wörtlicher Ubersetzung zurechte
kommen kan, und dem Original Fuss vor Fuss zu folgen vermag; und
weiln, wie ob erwehnet, bey der Teutschen Sprache kein geringer
Abgang hierinn zu spüren, zumahl in gewissen Materien, absonderlich
da der Wille und willkührliches Thun der Menschen einläufft, so hätte
man Fleiss daran zu strecken, dass man diessfals andern zu weichen
nicht mehr nöthig haben möge.

63. Solches könte geschehen durch Auffsuchung guter Wörter, die
schon vorhanden aber ietzo fast verlassen, mithin zu rechter Zeit nicht
beyfallen, wie auch ferner durch Wiederbringung alter verlegener
Worte, so von besonderer Güte; auch durch Einbürgerung (oder
Naturalisirung) frembder Benennungen, wo sie solches sonderlich ver-
dienen, und letztens (wo kein ander Mittel) durch wolbedächtliche Er-
findung oder Zusammensetzung neuer Worte, so vermittelst des Urtheils
und Ansehens wackerer Leute in Schwang gebracht werden müsten.

64. Es sind nemlich viel gute Worte in den Teutschen Schrifften
so wohl der Frucht-bringenden als anderer, die mit Nutzen zu ge-
brauchen, aber darauff man im Noth-Fall sich nicht besinnet. Ich
erinnere mich ehmahlen bei einigen gemercket zu haben, dass sie das
Frantzösische Tendre, wann es vom Gemüth verstanden wird, durch
innig oder hertzinnig bey gewissen Gelegenheiten nicht übel gegeben.
Die alten Teutschen haben Innigkeit vor Andacht gebrauchet. Nun will
ich zwar nicht sagen, dass dieses Teutsche Wort bey allen Gelegenheiten
für das Frantzösische treten könne; nichts desto minder ist es doch werth,
angemerckt zu werden, damit es sich bey guter Gelegenheit angäbe.

65. Solches zu erreichen wäre gewissen gelehrten Leuten auff-
zutragen, dass sie eine Besichtigung, Munsterung und Ausschuss an-
stellen, und dissfalls in guten Teutschen schrifften sich ersehen
möchten, als sonderlich in des Opitzens Wercken, welche nicht nur
in Versen herauskommen, sondern auch in freyer Rede, dergleichen
seine Hercynia, seine Ubersetzung der Argenis und Arcadia. Es wäre
auch hauptsächlich zu gebrauchen, eines durchlauchtigsten Autoren

Tacitus oder anderer vortrefflicher Lateinischer Schrifften, die bündige
Krafft des Vorbildes erreichen solten.

62. Inzwischen ist gleichwohl diejenige Sprache die reichste und
bequemste, welche am besten mit wörtlicher Ubersetzung zurechte
kommen kan, und dem Original Fuss vor Fuss zu folgen vermag; und
weiln, wie ob erwehnet, bey der Teutschen Sprache kein geringer
Abgang hierinn zu spüren, zumahl in gewissen Materien, absonderlich
da der Wille und willkührliches Thun der Menschen einläufft, so hätte
man Fleiss daran zu strecken, dass man diessfals andern zu weichen
nicht mehr nöthig haben möge.

63. Solches könte geschehen durch Auffsuchung guter Wörter, die
schon vorhanden aber ietzo fast verlassen, mithin zu rechter Zeit nicht
beyfallen, wie auch ferner durch Wiederbringung alter verlegener
Worte, so von besonderer Güte; auch durch Einbürgerung (oder
Naturalisirung) frembder Benennungen, wo sie solches sonderlich ver-
dienen, und letztens (wo kein ander Mittel) durch wolbedächtliche Er-
findung oder Zusammensetzung neuer Worte, so vermittelst des Urtheils
und Ansehens wackerer Leute in Schwang gebracht werden müsten.

64. Es sind nemlich viel gute Worte in den Teutschen Schrifften
so wohl der Frucht-bringenden als anderer, die mit Nutzen zu ge-
brauchen, aber darauff man im Noth-Fall sich nicht besinnet. Ich
erinnere mich ehmahlen bei einigen gemercket zu haben, dass sie das
Frantzösische Tendre, wann es vom Gemüth verstanden wird, durch
innig oder hertzinnig bey gewissen Gelegenheiten nicht übel gegeben.
Die alten Teutschen haben Innigkeit vor Andacht gebrauchet. Nun will
ich zwar nicht sagen, dass dieses Teutsche Wort bey allen Gelegenheiten
für das Frantzösische treten könne; nichts desto minder ist es doch werth,
angemerckt zu werden, damit es sich bey guter Gelegenheit angäbe.

65. Solches zu erreichen wäre gewissen gelehrten Leuten auff-
zutragen, dass sie eine Besichtigung, Munsterung und Ausschuss an-
stellen, und dissfalls in guten Teutschen schrifften sich ersehen
möchten, als sonderlich in des Opitzens Wercken, welche nicht nur
in Versen herauskommen, sondern auch in freyer Rede, dergleichen
seine Hercynia, seine Ubersetzung der Argenis und Arcadia. Es wäre
auch hauptsächlich zu gebrauchen, eines durchlauchtigsten Autoren

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[345/0019] Tacitus oder anderer vortrefflicher Lateinischer Schrifften, die bündige Krafft des Vorbildes erreichen solten. 62. Inzwischen ist gleichwohl diejenige Sprache die reichste und bequemste, welche am besten mit wörtlicher Ubersetzung zurechte kommen kan, und dem Original Fuss vor Fuss zu folgen vermag; und weiln, wie ob erwehnet, bey der Teutschen Sprache kein geringer Abgang hierinn zu spüren, zumahl in gewissen Materien, absonderlich da der Wille und willkührliches Thun der Menschen einläufft, so hätte man Fleiss daran zu strecken, dass man diessfals andern zu weichen nicht mehr nöthig haben möge. 63. Solches könte geschehen durch Auffsuchung guter Wörter, die schon vorhanden aber ietzo fast verlassen, mithin zu rechter Zeit nicht beyfallen, wie auch ferner durch Wiederbringung alter verlegener Worte, so von besonderer Güte; auch durch Einbürgerung (oder Naturalisirung) frembder Benennungen, wo sie solches sonderlich ver- dienen, und letztens (wo kein ander Mittel) durch wolbedächtliche Er- findung oder Zusammensetzung neuer Worte, so vermittelst des Urtheils und Ansehens wackerer Leute in Schwang gebracht werden müsten. 64. Es sind nemlich viel gute Worte in den Teutschen Schrifften so wohl der Frucht-bringenden als anderer, die mit Nutzen zu ge- brauchen, aber darauff man im Noth-Fall sich nicht besinnet. Ich erinnere mich ehmahlen bei einigen gemercket zu haben, dass sie das Frantzösische Tendre, wann es vom Gemüth verstanden wird, durch innig oder hertzinnig bey gewissen Gelegenheiten nicht übel gegeben. Die alten Teutschen haben Innigkeit vor Andacht gebrauchet. Nun will ich zwar nicht sagen, dass dieses Teutsche Wort bey allen Gelegenheiten für das Frantzösische treten könne; nichts desto minder ist es doch werth, angemerckt zu werden, damit es sich bey guter Gelegenheit angäbe. 65. Solches zu erreichen wäre gewissen gelehrten Leuten auff- zutragen, dass sie eine Besichtigung, Munsterung und Ausschuss an- stellen, und dissfalls in guten Teutschen schrifften sich ersehen möchten, als sonderlich in des Opitzens Wercken, welche nicht nur in Versen herauskommen, sondern auch in freyer Rede, dergleichen seine Hercynia, seine Ubersetzung der Argenis und Arcadia. Es wäre auch hauptsächlich zu gebrauchen, eines durchlauchtigsten Autoren

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Gloning: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-10-05T14:54:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-10-05T14:54:07Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • langes s (?): als s transkribiert
  • Vollständigkeit: teilweise erfasst

Die Transkription beruht auf dem Abdruck in Pietsch, Paul (Hg.): Leibniz und die deutsche Sprache. Berlin, 1908 (= Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Vierte Reihe), S. 327-356.

Pietsch stützte sich vor allem auf den Druck von 1717, zog für die Textherstellung aber auch die drei Handschriften A, B, C, alle in Hannover,heran. Der abweichende Schluß der ältesten Handschrift A wird unten in den Paragraphen A114 bis A119 wiedergegeben. Digitale Fassung bearbeitet von Thomas Gloning, Stand 22.7.2000. Korrekturhinweis 20.9.2013: hospes korr. zu hostes (freundlicher Hinweis von Dieter Maue). In A118, Z. 2 wurde "uach" zu "auch" korrigiert, in A119,4 "vermitttelst" zu "vermittelst" (Druckfehler).




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Zitationshilfe: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Unvorgreiffliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache. In: Pietsch, Paul (Hg.), Leibniz und die deutsche Sprache. Berlin, 1908 (= Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Vierte Reihe), S. 327-356, hier S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/leibniz_sprache_1717/19>, abgerufen am 18.04.2024.