Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_080.001 ple_080.010 ple_080.017 ple_080.026 ple_080.001 ple_080.010 ple_080.017 ple_080.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0094" n="80"/><lb n="ple_080.001"/> in uns die lebendige Vorstellung, und wir glauben anschauliche Bilder <lb n="ple_080.002"/> zu sehen, weil wir das Leben empfinden, das den Inhalt solcher Bilder erfüllt <lb n="ple_080.003"/> und das der Dichter uns vorempfunden hat. „Der Dichter bringt also <lb n="ple_080.004"/> auch das scheinbar Tonlose zum Klingen.“ Man wird an den schönen <lb n="ple_080.005"/> Eichendorffschen Vers erinnert: <lb n="ple_080.006"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>„Schläft ein Lied in allen Dingen,</l><lb n="ple_080.007"/><l>Die da träumen fort und fort,</l><lb n="ple_080.008"/><l>Und die Welt hebt an zu klingen,</l><lb n="ple_080.009"/><l>Sprichst du aus das Zauberwort.“</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_080.010"/> In Wirklichkeit freilich sind es nicht die Dinge, die in uns tönen, sondern <lb n="ple_080.011"/> unser eigenes Gefühlsleben ist es, das ihnen Leben verleiht, wenn es durch <lb n="ple_080.012"/> die Sprachkunst des Dichters geweckt ist. <lb n="ple_080.013"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>„Worte sind <hi rendition="#g">der Seele</hi> Bild, —</l><lb n="ple_080.014"/><l><hi rendition="#g">Nicht ein Bild,</hi> sie sind ein Schatten.</l><lb n="ple_080.015"/><l>Sagen herbe, deuten mild,</l><lb n="ple_080.016"/><l>Was wir haben, was wir hatten.“</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_080.017"/> So steht die Poesie als Wortkunst zwischen den bildenden Künsten <lb n="ple_080.018"/> und der Musik in der Mitte. Vermitteln jene im wesentlichen Anschauungsgehalt <lb n="ple_080.019"/> und Sinnenbilder, erweckt diese Gefühl und Stimmungen ohne Anschauungsgehalt; <lb n="ple_080.020"/> so vereinigt die Dichtung beides, aber doch so, daß sie <lb n="ple_080.021"/> statt greifbarer Anschauungen äußerer Wirklichkeit vielmehr, indem sie lebendige <lb n="ple_080.022"/> Kraft, inneres Leben verkörpert, die Illusion solcher Anschauungen <lb n="ple_080.023"/> schafft. Das Leben, in seinen Zusammenhängen gefühlsmäßig erfaßt, ist <lb n="ple_080.024"/> der Gegenstand der Poesie, denn es ist das, was die Dichtersprache auszudrücken <lb n="ple_080.025"/> und wiederzugeben vermag.</p> <p><lb n="ple_080.026"/> Hieraus ergibt sich denn auch die Antwort auf die besonderen Stilfragen, <lb n="ple_080.027"/> die im Laokoon gestellt sind, und es zeigt sich, daß Herder im <lb n="ple_080.028"/> wesentlichen gegen Lessing recht behält. Poesie kann nicht Bilder ohne <lb n="ple_080.029"/> Bewegung malen, wie die bildende Kunst. Diese These Lessings ist richtig, <lb n="ple_080.030"/> aber nicht weil der sukzessive Charakter der Sprache sie verhindert, einheitliche <lb n="ple_080.031"/> Vorstellungen hervorzubringen, sondern vielmehr weil sie Leben <lb n="ple_080.032"/> im Zustand der Erregung und Bewegung braucht, um anschaulich zu wirken. <lb n="ple_080.033"/> Denn nicht an unsere Sinne, sondern an unsere Lebensgefühle muß sich <lb n="ple_080.034"/> die Dichtung wenden, wenn sie anschauliche Vorstellungen wachrufen will. <lb n="ple_080.035"/> Wo das pulsierende Leben fehlt, wo das Gefühl nicht erregt und genötigt <lb n="ple_080.036"/> wird, die aufeinander folgenden Reihen von Zuständen zu durchleben und <lb n="ple_080.037"/> hierdurch zu verknüpfen, da ist es ganz gleichgültig, ob der Dichter Koexistierendes <lb n="ple_080.038"/> oder Sukzessives darstellt: was er schreibt, bleibt immer bloße <lb n="ple_080.039"/> Beschreibung und als solche matt und unwirksam. Dies zeigen eben jene <lb n="ple_080.040"/> Schilderungen Zolas und der modernen Naturalisten überhaupt. Wo sie <lb n="ple_080.041"/> wirken, wirken sie durch lebendige Züge, nicht aber durch die Fülle der <lb n="ple_080.042"/> aufgehäuften Einzelheiten. Diese sind vielmehr oft genug ein Hindernis, <lb n="ple_080.043"/> „weil dabei notwendigerweise eine Masse gehaltloser Züge mit unterlaufen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [80/0094]
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in uns die lebendige Vorstellung, und wir glauben anschauliche Bilder ple_080.002
zu sehen, weil wir das Leben empfinden, das den Inhalt solcher Bilder erfüllt ple_080.003
und das der Dichter uns vorempfunden hat. „Der Dichter bringt also ple_080.004
auch das scheinbar Tonlose zum Klingen.“ Man wird an den schönen ple_080.005
Eichendorffschen Vers erinnert: ple_080.006
„Schläft ein Lied in allen Dingen, ple_080.007
Die da träumen fort und fort, ple_080.008
Und die Welt hebt an zu klingen, ple_080.009
Sprichst du aus das Zauberwort.“
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In Wirklichkeit freilich sind es nicht die Dinge, die in uns tönen, sondern ple_080.011
unser eigenes Gefühlsleben ist es, das ihnen Leben verleiht, wenn es durch ple_080.012
die Sprachkunst des Dichters geweckt ist. ple_080.013
„Worte sind der Seele Bild, — ple_080.014
Nicht ein Bild, sie sind ein Schatten. ple_080.015
Sagen herbe, deuten mild, ple_080.016
Was wir haben, was wir hatten.“
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So steht die Poesie als Wortkunst zwischen den bildenden Künsten ple_080.018
und der Musik in der Mitte. Vermitteln jene im wesentlichen Anschauungsgehalt ple_080.019
und Sinnenbilder, erweckt diese Gefühl und Stimmungen ohne Anschauungsgehalt; ple_080.020
so vereinigt die Dichtung beides, aber doch so, daß sie ple_080.021
statt greifbarer Anschauungen äußerer Wirklichkeit vielmehr, indem sie lebendige ple_080.022
Kraft, inneres Leben verkörpert, die Illusion solcher Anschauungen ple_080.023
schafft. Das Leben, in seinen Zusammenhängen gefühlsmäßig erfaßt, ist ple_080.024
der Gegenstand der Poesie, denn es ist das, was die Dichtersprache auszudrücken ple_080.025
und wiederzugeben vermag.
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Hieraus ergibt sich denn auch die Antwort auf die besonderen Stilfragen, ple_080.027
die im Laokoon gestellt sind, und es zeigt sich, daß Herder im ple_080.028
wesentlichen gegen Lessing recht behält. Poesie kann nicht Bilder ohne ple_080.029
Bewegung malen, wie die bildende Kunst. Diese These Lessings ist richtig, ple_080.030
aber nicht weil der sukzessive Charakter der Sprache sie verhindert, einheitliche ple_080.031
Vorstellungen hervorzubringen, sondern vielmehr weil sie Leben ple_080.032
im Zustand der Erregung und Bewegung braucht, um anschaulich zu wirken. ple_080.033
Denn nicht an unsere Sinne, sondern an unsere Lebensgefühle muß sich ple_080.034
die Dichtung wenden, wenn sie anschauliche Vorstellungen wachrufen will. ple_080.035
Wo das pulsierende Leben fehlt, wo das Gefühl nicht erregt und genötigt ple_080.036
wird, die aufeinander folgenden Reihen von Zuständen zu durchleben und ple_080.037
hierdurch zu verknüpfen, da ist es ganz gleichgültig, ob der Dichter Koexistierendes ple_080.038
oder Sukzessives darstellt: was er schreibt, bleibt immer bloße ple_080.039
Beschreibung und als solche matt und unwirksam. Dies zeigen eben jene ple_080.040
Schilderungen Zolas und der modernen Naturalisten überhaupt. Wo sie ple_080.041
wirken, wirken sie durch lebendige Züge, nicht aber durch die Fülle der ple_080.042
aufgehäuften Einzelheiten. Diese sind vielmehr oft genug ein Hindernis, ple_080.043
„weil dabei notwendigerweise eine Masse gehaltloser Züge mit unterlaufen
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