Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

Bild:
<< vorherige Seite

ple_081.001
müssen". "Für alle Beschreibungen des Dichters gilt nur die eine Regel: ple_081.002
er bilde jeden einzelnen Zug so lebensvoll als möglich und sorge dafür, ple_081.003
daß die Gehaltssumme der einzelnen Züge sich zu einer lebendigen Gehaltseinheit ple_081.004
zusammenschließt; dann stellt sich Illusion des einheitlichen ple_081.005
Bildes ein, und diese Illusion möglichst kräftig zu erzeugen, ist seine Aufgabe."

ple_081.006

ple_081.007
Dies ist in ihren wesentlichen Zügen die Theorie Theodor A. Meyers. ple_081.008
Sie hat überall Beachtung, vielfach Anklang gefunden.1) Und in der Tat, ple_081.009
wie sie mit sich selbst übereinstimmt, so steht sie auch in Übereinstimmung ple_081.010
mit dem, was jeder an sich selbst erleben kann und was sich uns ple_081.011
im vorigen Abschnitt ergeben hat: der Dichter erweckt nicht durch anschauliche ple_081.012
Bilder, die er entwirft, so wenig wie durch den Inhalt seiner

1) ple_081.013
) Insbesondere Dessoir hat ihr lebhaft beigestimmt und in einem der besten Abschnitte ple_081.014
seiner Ästhetik (S. 353-368) in dem gleichen Sinne über die Anschaulichkeit ple_081.015
der Sprache gehandelt. "Unser seelisches Leben ist so eigentümlich entwickelt, daß an ple_081.016
Worte dieselben Folgen sich anschließen, wie an das Erleben einer Wirklichkeit, der die ple_081.017
Worte entsprechen; ja es gibt Menschen, bei denen der durch die Rede hervorgerufene ple_081.018
Eindruck stärker ist als der aus der Realität stammende Eindruck." "Darnach braucht die ple_081.019
Schilderung eines Menschen oder einer Gegend keineswegs optische Vorstellungen zu ple_081.020
wecken und kann doch so eindrucksvoll sein wie ein Gemälde." Wenn freilich Dessoir ple_081.021
die Auffassung der Poesie als Wortkunst so auf die Spitze treibt, daß der ästhetische ple_081.022
Genuß ihm ein für allemal "an den Wort- und Satzvorstellungen selber haftet", so klingt ple_081.023
das doch gar zu sehr nach artistischer Einseitigkeit, die über der Form den Gehalt vergißt, ple_081.024
und der Versuch, Redekunst (im Sinne von Rhetorik) und Drama in enge Verbindung ple_081.025
zu bringen, der sich für ihn als Folgerung dieser Anschauungsweise ergibt, muß ple_081.026
mißglücken, weil er den Wesensgehalt dieser Kunstform unberücksichtigt läßt; -- wiewohl ple_081.027
nicht zu verkennen ist, daß ein rhetorisch dialektisches Element in der griechischen ple_081.028
Tragödie oft stark hervortritt. ple_081.029
In der jüngsten Zeit hat Jonas Cohn in der bereits angeführten Abhandlung einige ple_081.030
Einwendungen und Einschränkungen Meyer gegenüber erhoben. Indessen, wenn er "den ple_081.031
Erlebnischarakter" des poetischen Eindrucks hervorhebt, so setzt er sich damit sachlich ple_081.032
nicht in Widerspruch zu Meyer, der ja Wiedergabe des Lebens als die Aufgabe der Kunst ple_081.033
und Nachempfinden des Lebensgehalts als das Wesen der dichterischen Wirkung betrachtet. ple_081.034
Und die These, mit der Cohn seine Kritik schließt, daß nämlich, wenn man nur unter ple_081.035
Anschauung im ästhetischen Sinne "vollständiges bewußtes Erleben" verstehe, die poetische ple_081.036
Sprache sehr wohl im Stande sei, Anschauungen zu erzeugen, kann Meyer von seinem ple_081.037
Standpunkte durchaus gelten lassen. Schwerer wiegt, was Cohn S. 9 hervorhebt: "Die ple_081.038
ganze Trennung des Seelischen und Körperlichen, die in der Wissenschaft notwendig ist, ple_081.039
geht im Grunde die Kunst nichts an. Für den Künstler besteht überall die volle Einheit ple_081.040
der Erscheinung wie für den naiven Menschen. Die ausdrucksvolle Gebärde und ple_081.041
das ausgedrückte Gefühl, der blühende Baum und der Eindruck fröhlichen Lebens, den ple_081.042
er erweckt, sind für ihn nicht zwei Dinge, die vereint werden sollen, sondern sie sind ple_081.043
unmittelbar dasselbe." Aber auch dies trifft doch mehr die Formulierung Meyers als den ple_081.044
Inhalt seiner Lehre, die ja gerade auf der Untrennbarkeit seelischer und sinnlicher Eindrücke ple_081.045
beruht. -- ple_081.046
Auch H. Roetteken hat im Eingangskapitel seiner oben angeführten Poetik der ple_081.047
Frage eine eingehende Erörterung gewidmet und besonders die psychologische Selbstbeobachtung ple_081.048
herangezogen.

ple_081.001
müssen“. „Für alle Beschreibungen des Dichters gilt nur die eine Regel: ple_081.002
er bilde jeden einzelnen Zug so lebensvoll als möglich und sorge dafür, ple_081.003
daß die Gehaltssumme der einzelnen Züge sich zu einer lebendigen Gehaltseinheit ple_081.004
zusammenschließt; dann stellt sich Illusion des einheitlichen ple_081.005
Bildes ein, und diese Illusion möglichst kräftig zu erzeugen, ist seine Aufgabe.“

ple_081.006

ple_081.007
Dies ist in ihren wesentlichen Zügen die Theorie Theodor A. Meyers. ple_081.008
Sie hat überall Beachtung, vielfach Anklang gefunden.1) Und in der Tat, ple_081.009
wie sie mit sich selbst übereinstimmt, so steht sie auch in Übereinstimmung ple_081.010
mit dem, was jeder an sich selbst erleben kann und was sich uns ple_081.011
im vorigen Abschnitt ergeben hat: der Dichter erweckt nicht durch anschauliche ple_081.012
Bilder, die er entwirft, so wenig wie durch den Inhalt seiner

1) ple_081.013
) Insbesondere Dessoir hat ihr lebhaft beigestimmt und in einem der besten Abschnitte ple_081.014
seiner Ästhetik (S. 353–368) in dem gleichen Sinne über die Anschaulichkeit ple_081.015
der Sprache gehandelt. „Unser seelisches Leben ist so eigentümlich entwickelt, daß an ple_081.016
Worte dieselben Folgen sich anschließen, wie an das Erleben einer Wirklichkeit, der die ple_081.017
Worte entsprechen; ja es gibt Menschen, bei denen der durch die Rede hervorgerufene ple_081.018
Eindruck stärker ist als der aus der Realität stammende Eindruck.“ „Darnach braucht die ple_081.019
Schilderung eines Menschen oder einer Gegend keineswegs optische Vorstellungen zu ple_081.020
wecken und kann doch so eindrucksvoll sein wie ein Gemälde.“ Wenn freilich Dessoir ple_081.021
die Auffassung der Poesie als Wortkunst so auf die Spitze treibt, daß der ästhetische ple_081.022
Genuß ihm ein für allemal „an den Wort- und Satzvorstellungen selber haftet“, so klingt ple_081.023
das doch gar zu sehr nach artistischer Einseitigkeit, die über der Form den Gehalt vergißt, ple_081.024
und der Versuch, Redekunst (im Sinne von Rhetorik) und Drama in enge Verbindung ple_081.025
zu bringen, der sich für ihn als Folgerung dieser Anschauungsweise ergibt, muß ple_081.026
mißglücken, weil er den Wesensgehalt dieser Kunstform unberücksichtigt läßt; — wiewohl ple_081.027
nicht zu verkennen ist, daß ein rhetorisch dialektisches Element in der griechischen ple_081.028
Tragödie oft stark hervortritt. ple_081.029
In der jüngsten Zeit hat Jonas Cohn in der bereits angeführten Abhandlung einige ple_081.030
Einwendungen und Einschränkungen Meyer gegenüber erhoben. Indessen, wenn er „den ple_081.031
Erlebnischarakter“ des poetischen Eindrucks hervorhebt, so setzt er sich damit sachlich ple_081.032
nicht in Widerspruch zu Meyer, der ja Wiedergabe des Lebens als die Aufgabe der Kunst ple_081.033
und Nachempfinden des Lebensgehalts als das Wesen der dichterischen Wirkung betrachtet. ple_081.034
Und die These, mit der Cohn seine Kritik schließt, daß nämlich, wenn man nur unter ple_081.035
Anschauung im ästhetischen Sinne „vollständiges bewußtes Erleben“ verstehe, die poetische ple_081.036
Sprache sehr wohl im Stande sei, Anschauungen zu erzeugen, kann Meyer von seinem ple_081.037
Standpunkte durchaus gelten lassen. Schwerer wiegt, was Cohn S. 9 hervorhebt: „Die ple_081.038
ganze Trennung des Seelischen und Körperlichen, die in der Wissenschaft notwendig ist, ple_081.039
geht im Grunde die Kunst nichts an. Für den Künstler besteht überall die volle Einheit ple_081.040
der Erscheinung wie für den naiven Menschen. Die ausdrucksvolle Gebärde und ple_081.041
das ausgedrückte Gefühl, der blühende Baum und der Eindruck fröhlichen Lebens, den ple_081.042
er erweckt, sind für ihn nicht zwei Dinge, die vereint werden sollen, sondern sie sind ple_081.043
unmittelbar dasselbe.“ Aber auch dies trifft doch mehr die Formulierung Meyers als den ple_081.044
Inhalt seiner Lehre, die ja gerade auf der Untrennbarkeit seelischer und sinnlicher Eindrücke ple_081.045
beruht. — ple_081.046
Auch H. Roetteken hat im Eingangskapitel seiner oben angeführten Poetik der ple_081.047
Frage eine eingehende Erörterung gewidmet und besonders die psychologische Selbstbeobachtung ple_081.048
herangezogen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0095" n="81"/><lb n="ple_081.001"/>
müssen&#x201C;. &#x201E;Für alle Beschreibungen des Dichters gilt nur die eine Regel: <lb n="ple_081.002"/>
er bilde jeden einzelnen Zug so lebensvoll als möglich und sorge dafür, <lb n="ple_081.003"/>
daß die Gehaltssumme der einzelnen Züge sich zu einer lebendigen Gehaltseinheit <lb n="ple_081.004"/>
zusammenschließt; dann stellt sich Illusion des einheitlichen <lb n="ple_081.005"/>
Bildes ein, und diese Illusion möglichst kräftig zu erzeugen, ist seine Aufgabe.&#x201C;</p>
            <lb n="ple_081.006"/>
            <p><lb n="ple_081.007"/>
Dies ist in ihren wesentlichen Zügen die Theorie Theodor A. Meyers. <lb n="ple_081.008"/>
Sie hat überall Beachtung, vielfach Anklang gefunden.<note xml:id="ple_081_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_081.013"/><p>) Insbesondere <hi rendition="#g">Dessoir</hi> hat ihr lebhaft beigestimmt und in einem der besten Abschnitte <lb n="ple_081.014"/>
seiner Ästhetik (S. 353&#x2013;368) in dem gleichen Sinne über die Anschaulichkeit <lb n="ple_081.015"/>
der Sprache gehandelt. &#x201E;Unser seelisches Leben ist so eigentümlich entwickelt, daß an <lb n="ple_081.016"/>
Worte dieselben Folgen sich anschließen, wie an das Erleben einer Wirklichkeit, der die <lb n="ple_081.017"/>
Worte entsprechen; ja es gibt Menschen, bei denen der durch die Rede hervorgerufene <lb n="ple_081.018"/>
Eindruck stärker ist als der aus der Realität stammende Eindruck.&#x201C; &#x201E;Darnach braucht die <lb n="ple_081.019"/>
Schilderung eines Menschen oder einer Gegend keineswegs optische Vorstellungen zu <lb n="ple_081.020"/>
wecken und kann doch so <hi rendition="#g">eindrucksvoll</hi> sein wie ein Gemälde.&#x201C; Wenn freilich Dessoir <lb n="ple_081.021"/>
die Auffassung der Poesie als Wortkunst so auf die Spitze treibt, daß der ästhetische <lb n="ple_081.022"/>
Genuß ihm ein für allemal &#x201E;an den Wort- und Satzvorstellungen selber haftet&#x201C;, so klingt <lb n="ple_081.023"/>
das doch gar zu sehr nach artistischer Einseitigkeit, die über der Form den Gehalt vergißt, <lb n="ple_081.024"/>
und der Versuch, <hi rendition="#g">Redekunst</hi> (im Sinne von Rhetorik) und Drama in enge Verbindung <lb n="ple_081.025"/>
zu bringen, der sich für ihn als Folgerung dieser Anschauungsweise ergibt, muß <lb n="ple_081.026"/>
mißglücken, weil er den Wesensgehalt dieser Kunstform unberücksichtigt läßt; &#x2014; wiewohl <lb n="ple_081.027"/>
nicht zu verkennen ist, daß ein rhetorisch dialektisches Element in der griechischen <lb n="ple_081.028"/>
Tragödie oft stark hervortritt.</p><lb n="ple_081.029"/><p>In der jüngsten Zeit hat <hi rendition="#g">Jonas Cohn</hi> in der bereits angeführten Abhandlung einige <lb n="ple_081.030"/>
Einwendungen und Einschränkungen Meyer gegenüber erhoben. Indessen, wenn er &#x201E;den <lb n="ple_081.031"/>
Erlebnischarakter&#x201C; des poetischen Eindrucks hervorhebt, so setzt er sich damit sachlich <lb n="ple_081.032"/>
nicht in Widerspruch zu Meyer, der ja Wiedergabe des Lebens als die Aufgabe der Kunst <lb n="ple_081.033"/>
und Nachempfinden des Lebensgehalts als das Wesen der dichterischen Wirkung betrachtet. <lb n="ple_081.034"/>
Und die These, mit der Cohn seine Kritik schließt, daß nämlich, wenn man nur unter <lb n="ple_081.035"/>
Anschauung im ästhetischen Sinne &#x201E;vollständiges bewußtes Erleben&#x201C; verstehe, die poetische <lb n="ple_081.036"/>
Sprache sehr wohl im Stande sei, Anschauungen zu erzeugen, kann Meyer von seinem <lb n="ple_081.037"/>
Standpunkte durchaus gelten lassen. Schwerer wiegt, was Cohn S. 9 hervorhebt: &#x201E;Die <lb n="ple_081.038"/>
ganze Trennung des Seelischen und Körperlichen, die in der Wissenschaft notwendig ist, <lb n="ple_081.039"/>
geht im Grunde die Kunst nichts an. Für den Künstler besteht überall die volle Einheit <lb n="ple_081.040"/>
der Erscheinung wie für den naiven Menschen. Die ausdrucksvolle Gebärde und <lb n="ple_081.041"/>
das ausgedrückte Gefühl, der blühende Baum und der Eindruck fröhlichen Lebens, den <lb n="ple_081.042"/>
er erweckt, sind für ihn nicht zwei Dinge, die vereint werden sollen, sondern sie sind <lb n="ple_081.043"/>
unmittelbar dasselbe.&#x201C; Aber auch dies trifft doch mehr die Formulierung Meyers als den <lb n="ple_081.044"/>
Inhalt seiner Lehre, die ja gerade auf der Untrennbarkeit seelischer und sinnlicher Eindrücke <lb n="ple_081.045"/>
beruht. &#x2014;</p><lb n="ple_081.046"/><p>Auch H. <hi rendition="#g">Roetteken</hi> hat im Eingangskapitel seiner oben angeführten Poetik der <lb n="ple_081.047"/>
Frage eine eingehende Erörterung gewidmet und besonders die psychologische Selbstbeobachtung <lb n="ple_081.048"/>
herangezogen.</p></note>  Und in der Tat, <lb n="ple_081.009"/>
wie sie mit sich selbst übereinstimmt, so steht sie auch in Übereinstimmung <lb n="ple_081.010"/>
mit dem, was jeder an sich selbst erleben kann und was sich uns <lb n="ple_081.011"/>
im vorigen Abschnitt ergeben hat: der Dichter erweckt nicht durch anschauliche <lb n="ple_081.012"/>
Bilder, die er entwirft, so wenig wie durch den Inhalt seiner
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[81/0095] ple_081.001 müssen“. „Für alle Beschreibungen des Dichters gilt nur die eine Regel: ple_081.002 er bilde jeden einzelnen Zug so lebensvoll als möglich und sorge dafür, ple_081.003 daß die Gehaltssumme der einzelnen Züge sich zu einer lebendigen Gehaltseinheit ple_081.004 zusammenschließt; dann stellt sich Illusion des einheitlichen ple_081.005 Bildes ein, und diese Illusion möglichst kräftig zu erzeugen, ist seine Aufgabe.“ ple_081.006 ple_081.007 Dies ist in ihren wesentlichen Zügen die Theorie Theodor A. Meyers. ple_081.008 Sie hat überall Beachtung, vielfach Anklang gefunden. 1) Und in der Tat, ple_081.009 wie sie mit sich selbst übereinstimmt, so steht sie auch in Übereinstimmung ple_081.010 mit dem, was jeder an sich selbst erleben kann und was sich uns ple_081.011 im vorigen Abschnitt ergeben hat: der Dichter erweckt nicht durch anschauliche ple_081.012 Bilder, die er entwirft, so wenig wie durch den Inhalt seiner 1) ple_081.013 ) Insbesondere Dessoir hat ihr lebhaft beigestimmt und in einem der besten Abschnitte ple_081.014 seiner Ästhetik (S. 353–368) in dem gleichen Sinne über die Anschaulichkeit ple_081.015 der Sprache gehandelt. „Unser seelisches Leben ist so eigentümlich entwickelt, daß an ple_081.016 Worte dieselben Folgen sich anschließen, wie an das Erleben einer Wirklichkeit, der die ple_081.017 Worte entsprechen; ja es gibt Menschen, bei denen der durch die Rede hervorgerufene ple_081.018 Eindruck stärker ist als der aus der Realität stammende Eindruck.“ „Darnach braucht die ple_081.019 Schilderung eines Menschen oder einer Gegend keineswegs optische Vorstellungen zu ple_081.020 wecken und kann doch so eindrucksvoll sein wie ein Gemälde.“ Wenn freilich Dessoir ple_081.021 die Auffassung der Poesie als Wortkunst so auf die Spitze treibt, daß der ästhetische ple_081.022 Genuß ihm ein für allemal „an den Wort- und Satzvorstellungen selber haftet“, so klingt ple_081.023 das doch gar zu sehr nach artistischer Einseitigkeit, die über der Form den Gehalt vergißt, ple_081.024 und der Versuch, Redekunst (im Sinne von Rhetorik) und Drama in enge Verbindung ple_081.025 zu bringen, der sich für ihn als Folgerung dieser Anschauungsweise ergibt, muß ple_081.026 mißglücken, weil er den Wesensgehalt dieser Kunstform unberücksichtigt läßt; — wiewohl ple_081.027 nicht zu verkennen ist, daß ein rhetorisch dialektisches Element in der griechischen ple_081.028 Tragödie oft stark hervortritt. ple_081.029 In der jüngsten Zeit hat Jonas Cohn in der bereits angeführten Abhandlung einige ple_081.030 Einwendungen und Einschränkungen Meyer gegenüber erhoben. Indessen, wenn er „den ple_081.031 Erlebnischarakter“ des poetischen Eindrucks hervorhebt, so setzt er sich damit sachlich ple_081.032 nicht in Widerspruch zu Meyer, der ja Wiedergabe des Lebens als die Aufgabe der Kunst ple_081.033 und Nachempfinden des Lebensgehalts als das Wesen der dichterischen Wirkung betrachtet. ple_081.034 Und die These, mit der Cohn seine Kritik schließt, daß nämlich, wenn man nur unter ple_081.035 Anschauung im ästhetischen Sinne „vollständiges bewußtes Erleben“ verstehe, die poetische ple_081.036 Sprache sehr wohl im Stande sei, Anschauungen zu erzeugen, kann Meyer von seinem ple_081.037 Standpunkte durchaus gelten lassen. Schwerer wiegt, was Cohn S. 9 hervorhebt: „Die ple_081.038 ganze Trennung des Seelischen und Körperlichen, die in der Wissenschaft notwendig ist, ple_081.039 geht im Grunde die Kunst nichts an. Für den Künstler besteht überall die volle Einheit ple_081.040 der Erscheinung wie für den naiven Menschen. Die ausdrucksvolle Gebärde und ple_081.041 das ausgedrückte Gefühl, der blühende Baum und der Eindruck fröhlichen Lebens, den ple_081.042 er erweckt, sind für ihn nicht zwei Dinge, die vereint werden sollen, sondern sie sind ple_081.043 unmittelbar dasselbe.“ Aber auch dies trifft doch mehr die Formulierung Meyers als den ple_081.044 Inhalt seiner Lehre, die ja gerade auf der Untrennbarkeit seelischer und sinnlicher Eindrücke ple_081.045 beruht. — ple_081.046 Auch H. Roetteken hat im Eingangskapitel seiner oben angeführten Poetik der ple_081.047 Frage eine eingehende Erörterung gewidmet und besonders die psychologische Selbstbeobachtung ple_081.048 herangezogen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/95
Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/95>, abgerufen am 24.11.2024.