Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_079.001 ple_079.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0093" n="79"/> <p><lb n="ple_079.001"/> Die Psychologie lehrt uns, daß Empfindungen die Elemente eines <lb n="ple_079.002"/> jeden Anschauungsbildes sind. Jede Empfindung enthält mithin etwas <lb n="ple_079.003"/> Objektives oder Repräsentatives; sie trägt dazu bei, eine Anschauung der <lb n="ple_079.004"/> Außenwelt in uns hervorzurufen. Sie ist aber zugleich stets mit einem <lb n="ple_079.005"/> mehr oder weniger starken subjektiven Gefühlston verbunden, und jeder <lb n="ple_079.006"/> Empfindungskomplex, jede Anschauung löst in uns Gefühle und Stimmungen <lb n="ple_079.007"/> aus. In den Eindrücken, die wir von der Außenwelt empfangen, <lb n="ple_079.008"/> kann nun entweder die objektive Seite, der Inhalt der Anschauung, stärker <lb n="ple_079.009"/> hervortreten, oder das subjektive, gefühlsmäßige Element das herrschende <lb n="ple_079.010"/> sein. Fassen wir daraufhin die verschiedenen Künste ins Auge, so ist das <lb n="ple_079.011"/> erstere der Fall bei der bildenden Kunst, das zweite bei der Musik und <lb n="ple_079.012"/> der Dichtung: auf dem Objektiven der Anschauung beruht das Wesen der <lb n="ple_079.013"/> Malerei und der Plastik, auf dem gefühlsmäßigen Nacherleben jede dichterische <lb n="ple_079.014"/> und musikalische Wirkung. Während aber in der Musik der objektive <lb n="ple_079.015"/> Anschauungsgehalt fast völlig zurücktritt, ist es die Eigenart der <lb n="ple_079.016"/> Poesie, daß das <hi rendition="#g">Nachfühlen</hi> hier „seine volle Entfaltung erreicht, ohne <lb n="ple_079.017"/> daß darum das Nach<hi rendition="#g">empfinden</hi> unwesentlich würde: Nachempfinden und <lb n="ple_079.018"/> Nachfühlen sind in der Poesie einander besonders nahe gerückt.“ (Meyer <lb n="ple_079.019"/> S. 150, 151.) Die Dichtersprache vermag ebensowenig wie die Prosa individuelle <lb n="ple_079.020"/> Sinnenbilder unmittelbar zu bezeichnen oder zu erwecken, aber sie <lb n="ple_079.021"/> vermag — und eben dies ist ihre eigentümliche Kraft und Wirkung — den <lb n="ple_079.022"/> Gefühlston auszudrücken und wachzurufen, welchen die Anschauungen und <lb n="ple_079.023"/> Eindrücke der Außenwelt sowohl wie die Vorgänge der Innenwelt in uns hervorbringen. <lb n="ple_079.024"/> „Sie wecket der dunklen Gefühle Gewalt, die im Herzen wunderbar <lb n="ple_079.025"/> schliefen.“ Und wunderbar genug: diese Gefühle erweckt sie ohne Vermittlung <lb n="ple_079.026"/> von Sinnenbildern und Anschauungen; das Wort selbst, diese Abbreviatur <lb n="ple_079.027"/> der Wirklichkeit, ihr längst abgeblaßtes Bild, besitzt diese Kraft. Ja mehr als <lb n="ple_079.028"/> das, indem es das Gefühl in voller Stärke hervorruft, welches sonst nur <lb n="ple_079.029"/> Anschauungsbilder in uns erregt, erweckt es die Vorstellung, daß auch <lb n="ple_079.030"/> hier mit dem Gefühl zugleich das Sinnenbild, der objektive Anschauungsgehalt, <lb n="ple_079.031"/> lebendig wird, daß wir, wenn auch in schwächerem und blasserem <lb n="ple_079.032"/> Maße die Vorgänge sehen und hören, von denen der Dichter berichtet. <lb n="ple_079.033"/> Diese Vorstellung ist eine Illusion. „Was der Dichter mit seinem unanschaulichen <lb n="ple_079.034"/> Willen schafft, ist nicht innere Sinnlichkeit und innere Sinnenwahrnehmung, <lb n="ple_079.035"/> sondern nur ihr Schein. Aber dieser Schein ist psychische Notwendigkeit <lb n="ple_079.036"/> und darum ist die Täuschung für lebhafter empfindende Naturen <lb n="ple_079.037"/> so unentrinnbar.“ Auch Herder spricht schon in demselben Sinne von der <lb n="ple_079.038"/> Täuschung der Phantasie durch die Energie der Dichtersprache. Dichterische <lb n="ple_079.039"/> Kraft und Gabe, Sprachgewalt und poetische Wirkung besteht mithin <lb n="ple_079.040"/> darin, Gefühlstöne anzuschlagen, aus denen heraus die Illusion der <lb n="ple_079.041"/> Anschauung erwächst. Der Dichter weiß in der Bezeichnung der Gegenstände, <lb n="ple_079.042"/> in der Darstellung der Vorgänge diejenigen Elemente herauszuheben, <lb n="ple_079.043"/> die in unserem Gefühlsleben den stärksten Widerhall finden; dadurch entsteht </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [79/0093]
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Die Psychologie lehrt uns, daß Empfindungen die Elemente eines ple_079.002
jeden Anschauungsbildes sind. Jede Empfindung enthält mithin etwas ple_079.003
Objektives oder Repräsentatives; sie trägt dazu bei, eine Anschauung der ple_079.004
Außenwelt in uns hervorzurufen. Sie ist aber zugleich stets mit einem ple_079.005
mehr oder weniger starken subjektiven Gefühlston verbunden, und jeder ple_079.006
Empfindungskomplex, jede Anschauung löst in uns Gefühle und Stimmungen ple_079.007
aus. In den Eindrücken, die wir von der Außenwelt empfangen, ple_079.008
kann nun entweder die objektive Seite, der Inhalt der Anschauung, stärker ple_079.009
hervortreten, oder das subjektive, gefühlsmäßige Element das herrschende ple_079.010
sein. Fassen wir daraufhin die verschiedenen Künste ins Auge, so ist das ple_079.011
erstere der Fall bei der bildenden Kunst, das zweite bei der Musik und ple_079.012
der Dichtung: auf dem Objektiven der Anschauung beruht das Wesen der ple_079.013
Malerei und der Plastik, auf dem gefühlsmäßigen Nacherleben jede dichterische ple_079.014
und musikalische Wirkung. Während aber in der Musik der objektive ple_079.015
Anschauungsgehalt fast völlig zurücktritt, ist es die Eigenart der ple_079.016
Poesie, daß das Nachfühlen hier „seine volle Entfaltung erreicht, ohne ple_079.017
daß darum das Nachempfinden unwesentlich würde: Nachempfinden und ple_079.018
Nachfühlen sind in der Poesie einander besonders nahe gerückt.“ (Meyer ple_079.019
S. 150, 151.) Die Dichtersprache vermag ebensowenig wie die Prosa individuelle ple_079.020
Sinnenbilder unmittelbar zu bezeichnen oder zu erwecken, aber sie ple_079.021
vermag — und eben dies ist ihre eigentümliche Kraft und Wirkung — den ple_079.022
Gefühlston auszudrücken und wachzurufen, welchen die Anschauungen und ple_079.023
Eindrücke der Außenwelt sowohl wie die Vorgänge der Innenwelt in uns hervorbringen. ple_079.024
„Sie wecket der dunklen Gefühle Gewalt, die im Herzen wunderbar ple_079.025
schliefen.“ Und wunderbar genug: diese Gefühle erweckt sie ohne Vermittlung ple_079.026
von Sinnenbildern und Anschauungen; das Wort selbst, diese Abbreviatur ple_079.027
der Wirklichkeit, ihr längst abgeblaßtes Bild, besitzt diese Kraft. Ja mehr als ple_079.028
das, indem es das Gefühl in voller Stärke hervorruft, welches sonst nur ple_079.029
Anschauungsbilder in uns erregt, erweckt es die Vorstellung, daß auch ple_079.030
hier mit dem Gefühl zugleich das Sinnenbild, der objektive Anschauungsgehalt, ple_079.031
lebendig wird, daß wir, wenn auch in schwächerem und blasserem ple_079.032
Maße die Vorgänge sehen und hören, von denen der Dichter berichtet. ple_079.033
Diese Vorstellung ist eine Illusion. „Was der Dichter mit seinem unanschaulichen ple_079.034
Willen schafft, ist nicht innere Sinnlichkeit und innere Sinnenwahrnehmung, ple_079.035
sondern nur ihr Schein. Aber dieser Schein ist psychische Notwendigkeit ple_079.036
und darum ist die Täuschung für lebhafter empfindende Naturen ple_079.037
so unentrinnbar.“ Auch Herder spricht schon in demselben Sinne von der ple_079.038
Täuschung der Phantasie durch die Energie der Dichtersprache. Dichterische ple_079.039
Kraft und Gabe, Sprachgewalt und poetische Wirkung besteht mithin ple_079.040
darin, Gefühlstöne anzuschlagen, aus denen heraus die Illusion der ple_079.041
Anschauung erwächst. Der Dichter weiß in der Bezeichnung der Gegenstände, ple_079.042
in der Darstellung der Vorgänge diejenigen Elemente herauszuheben, ple_079.043
die in unserem Gefühlsleben den stärksten Widerhall finden; dadurch entsteht
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