Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_072.001 ple_072.003 ple_072.001 ple_072.003 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0086" n="72"/><lb n="ple_072.001"/> deutscher Ästheten — wir werden beim Kapitel <hi rendition="#g">Lyrik</hi> auf sie zurückkommen <lb n="ple_072.002"/> — verkörpert diesen Typus.</p> <p><lb n="ple_072.003"/> Dieser Standpunkt ist freilich bequem für die Poetik, denn er zieht <lb n="ple_072.004"/> keine Werte in Betracht, die sie nicht nachprüfen kann. Aber er führt zu <lb n="ple_072.005"/> einer Einseitigkeit, die mit dem Wesen der Poesie unvereinbar ist; er <lb n="ple_072.006"/> macht die Mittel der Poesie zum Zweck und zieht den Dichter zum Virtuosen <lb n="ple_072.007"/> herab. Eine Dichtung, die in der <hi rendition="#g">Stimmung</hi> ihr einziges und letztes Ziel <lb n="ple_072.008"/> sieht, vergißt, daß diese Stimmung nur ein Mittel ist, um den Lebensinhalt <lb n="ple_072.009"/> des Dichtergeistes dem Hörer lebendig zu machen, und die Notwendigkeit, <lb n="ple_072.010"/> von der Schiller spricht, hervorzurufen, nur ein Mittel also, um den Leser <lb n="ple_072.011"/> zu zwingen, an den Dichter und sein Gedicht zu glauben. Wo sich freilich <lb n="ple_072.012"/> der ganze Lebensinhalt des Dichters zu bloßen Stimmungen verflüchtigt, <lb n="ple_072.013"/> wie das bei vielen unserer modernen Artisten und Ästheten der Fall ist, <lb n="ple_072.014"/> da vermag er auch im besten Falle nichts anderes zu geben als Stimmung. <lb n="ple_072.015"/> Wenn es ihm nun an Formentalent nicht fehlt, so wird er auf dem <lb n="ple_072.016"/> rein lyrischen Gebiet, wo die Stimmung <hi rendition="#g">herrscht,</hi> mancherlei Wirksames <lb n="ple_072.017"/> schaffen und auf Momente fesseln können, auf die Dauer aber wird sich <lb n="ple_072.018"/> der Leser, der volleres Leben und echten Gehalt sucht, durch die Inhaltlosigkeit <lb n="ple_072.019"/> dieser Poesie angeödet, von ihr abwenden. Denn daran kann <lb n="ple_072.020"/> kein Zweifel sein, daß es die Persönlichkeit des Dichters ist, aus der seine <lb n="ple_072.021"/> Werke Inhalt und Leben, mithin den letzten und höchsten Wert empfangen <lb n="ple_072.022"/> und durch die allein Stoff und Form seiner Dichtungen ihre Bedeutsamkeit <lb n="ple_072.023"/> erhalten. Gerade weil dem so ist, kann die Poetik diesen Wert nicht <lb n="ple_072.024"/> im einzelnen abschätzen und wägen lehren; denn das Persönliche ist <lb n="ple_072.025"/> seinem Wesen nach irrational und inkommensurabel. Eben deshalb aber <lb n="ple_072.026"/> ist es in der Dichtung niemals mit der bloßen Form und auf die Dauer <lb n="ple_072.027"/> auch nicht mit der bloßen Stimmung getan. Nur ein großer Mensch kann <lb n="ple_072.028"/> ein großer Künstler sein: der Satz ist nicht unbestreitbar für die bildenden <lb n="ple_072.029"/> Künste; für die Poesie aber gilt er zweifellos. Und wenn die Modeschätzung <lb n="ple_072.030"/> Talente zweiten oder dritten Rangs, mögen sie der Gegenwart oder der <lb n="ple_072.031"/> Vergangenheit angehören, weil sie Form und Stimmung beherrschen, zu <lb n="ple_072.032"/> Künstlern ersten Ranges stempelt, so überdauert eine solche Schätzung die <lb n="ple_072.033"/> Mode niemals. Die gewaltige Wirkung unserer klassischen Dichter ist von <lb n="ple_072.034"/> ihrer Persönlichkeit losgelöst nicht zu denken. Die beste und vollste <lb n="ple_072.035"/> Kraft dieser Persönlichkeit steckt und wirkt in ihren Werken, und je vollendeter <lb n="ple_072.036"/> diese in künstlerischer Hinsicht sind, desto weniger braucht man <lb n="ple_072.037"/> hinter ihnen und durch sie hindurch nach der rein menschlichen Individualität <lb n="ple_072.038"/> des Dichters zu suchen, um die volle Macht seines Wissens zu <lb n="ple_072.039"/> empfinden; man braucht das daher bei Goethe noch weniger als bei <lb n="ple_072.040"/> Schiller. Aber freilich, es lohnt andrerseits schon, wenn nicht in künstlerischer, <lb n="ple_072.041"/> so doch in menschlicher Hinsicht: sie gewähren, in ihrer vorbildlichen <lb n="ple_072.042"/> Entfaltung höchsten Menschentums und losgelöst von dem Einzelinhalt <lb n="ple_072.043"/> ihrer Werke, eine Quelle der Freude und Erhebung.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [72/0086]
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deutscher Ästheten — wir werden beim Kapitel Lyrik auf sie zurückkommen ple_072.002
— verkörpert diesen Typus.
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Dieser Standpunkt ist freilich bequem für die Poetik, denn er zieht ple_072.004
keine Werte in Betracht, die sie nicht nachprüfen kann. Aber er führt zu ple_072.005
einer Einseitigkeit, die mit dem Wesen der Poesie unvereinbar ist; er ple_072.006
macht die Mittel der Poesie zum Zweck und zieht den Dichter zum Virtuosen ple_072.007
herab. Eine Dichtung, die in der Stimmung ihr einziges und letztes Ziel ple_072.008
sieht, vergißt, daß diese Stimmung nur ein Mittel ist, um den Lebensinhalt ple_072.009
des Dichtergeistes dem Hörer lebendig zu machen, und die Notwendigkeit, ple_072.010
von der Schiller spricht, hervorzurufen, nur ein Mittel also, um den Leser ple_072.011
zu zwingen, an den Dichter und sein Gedicht zu glauben. Wo sich freilich ple_072.012
der ganze Lebensinhalt des Dichters zu bloßen Stimmungen verflüchtigt, ple_072.013
wie das bei vielen unserer modernen Artisten und Ästheten der Fall ist, ple_072.014
da vermag er auch im besten Falle nichts anderes zu geben als Stimmung. ple_072.015
Wenn es ihm nun an Formentalent nicht fehlt, so wird er auf dem ple_072.016
rein lyrischen Gebiet, wo die Stimmung herrscht, mancherlei Wirksames ple_072.017
schaffen und auf Momente fesseln können, auf die Dauer aber wird sich ple_072.018
der Leser, der volleres Leben und echten Gehalt sucht, durch die Inhaltlosigkeit ple_072.019
dieser Poesie angeödet, von ihr abwenden. Denn daran kann ple_072.020
kein Zweifel sein, daß es die Persönlichkeit des Dichters ist, aus der seine ple_072.021
Werke Inhalt und Leben, mithin den letzten und höchsten Wert empfangen ple_072.022
und durch die allein Stoff und Form seiner Dichtungen ihre Bedeutsamkeit ple_072.023
erhalten. Gerade weil dem so ist, kann die Poetik diesen Wert nicht ple_072.024
im einzelnen abschätzen und wägen lehren; denn das Persönliche ist ple_072.025
seinem Wesen nach irrational und inkommensurabel. Eben deshalb aber ple_072.026
ist es in der Dichtung niemals mit der bloßen Form und auf die Dauer ple_072.027
auch nicht mit der bloßen Stimmung getan. Nur ein großer Mensch kann ple_072.028
ein großer Künstler sein: der Satz ist nicht unbestreitbar für die bildenden ple_072.029
Künste; für die Poesie aber gilt er zweifellos. Und wenn die Modeschätzung ple_072.030
Talente zweiten oder dritten Rangs, mögen sie der Gegenwart oder der ple_072.031
Vergangenheit angehören, weil sie Form und Stimmung beherrschen, zu ple_072.032
Künstlern ersten Ranges stempelt, so überdauert eine solche Schätzung die ple_072.033
Mode niemals. Die gewaltige Wirkung unserer klassischen Dichter ist von ple_072.034
ihrer Persönlichkeit losgelöst nicht zu denken. Die beste und vollste ple_072.035
Kraft dieser Persönlichkeit steckt und wirkt in ihren Werken, und je vollendeter ple_072.036
diese in künstlerischer Hinsicht sind, desto weniger braucht man ple_072.037
hinter ihnen und durch sie hindurch nach der rein menschlichen Individualität ple_072.038
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Schiller. Aber freilich, es lohnt andrerseits schon, wenn nicht in künstlerischer, ple_072.041
so doch in menschlicher Hinsicht: sie gewähren, in ihrer vorbildlichen ple_072.042
Entfaltung höchsten Menschentums und losgelöst von dem Einzelinhalt ple_072.043
ihrer Werke, eine Quelle der Freude und Erhebung.
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