Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_071.001 ple_071.016 ple_071.032 ple_071.001 ple_071.016 ple_071.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0085" n="71"/><lb n="ple_071.001"/> politische Element in Schillers Dramen, so die erzieherische Lebensweisheit <lb n="ple_071.002"/> im letzten Akte des Faust, so die sozialen und sittlichen Gedanken in <lb n="ple_071.003"/> Ibsens Brand oder Nora. Überall aber, wo der Dichter sein Werk mit bewußter <lb n="ple_071.004"/> Absicht in den Dienst eines allgemeinen Gedankens, einer politischen <lb n="ple_071.005"/> oder sozialen Richtung stellt, wird der künstlerische Wert durch <lb n="ple_071.006"/> das Gewollte und Lehrhafte geschädigt werden. Seine Gestalten werden <lb n="ple_071.007"/> sich nicht von innen heraus ausleben und darstellen, wie in einem echten <lb n="ple_071.008"/> Kunstwerk; ihre Handlungen werden mehr oder weniger der Absicht des <lb n="ple_071.009"/> Dichters, nicht der Notwendigkeit ihrer eigenen Natur entspringen. Das <lb n="ple_071.010"/> ist z. B. in den sogenannten Tendenzromanen des 19. Jahrhunderts der <lb n="ple_071.011"/> Fall, selbst in so hochstehenden wie Gutzkows <hi rendition="#g">Zauberer von Rom</hi> und <lb n="ple_071.012"/> seinen <hi rendition="#g">Rittern vom Geist.</hi> Und auch in Gustav Freytags trefflichem <lb n="ple_071.013"/> <hi rendition="#g">Soll und Haben</hi> ist die Schwäche mancher Partien, so das unwahrscheinliche <lb n="ple_071.014"/> und sensationelle Ende seines Veitel Itzig, der Tendenz des Buches <lb n="ple_071.015"/> zuzuschreiben.</p> <p><lb n="ple_071.016"/> Aber wir müssen noch einen Schritt weiter gehen und ganz allgemein <lb n="ple_071.017"/> zugeben, daß es unmöglich ist, die Bedeutsamkeit einer Dichtung nach <lb n="ple_071.018"/> einem künstlerischen Maßstab zu messen. Dieser Aufgabe gegenüber versagt <lb n="ple_071.019"/> die Poetik und muß versagen; denn der Wert, um den es sich hier <lb n="ple_071.020"/> handelt, hängt nicht von künstlerischen Vorzügen ab, sondern von anders <lb n="ple_071.021"/> gearteten Beziehungen, von einem Zusammenhang, der durch die allgemeine <lb n="ple_071.022"/> Geisteskultur, ihre Bedürfnisse und Richtungen gegeben ist. Daher kommt <lb n="ple_071.023"/> es denn auch, daß die Wirkung, die durch den künstlerischen Charakter <lb n="ple_071.024"/> eines Werkes hervorgerufen wird, auch dann noch dauert, wenn im Laufe <lb n="ple_071.025"/> einer langen Kulturentwicklung die Bedeutsamkeit des Inhalts abgestorben <lb n="ple_071.026"/> oder doch abgeblaßt ist. Was ist uns heute der Orakelglaube und überhaupt <lb n="ple_071.027"/> die Götterfurcht der Hellenen? Und dennoch ist der Einfluß des <lb n="ple_071.028"/> König Ödipus einer der stärksten und furchtbarsten, von denen die moderne <lb n="ple_071.029"/> Literaturgeschichte weiß. Und Satiren wie Don Quichote oder Figaros <lb n="ple_071.030"/> Hochzeit, deren Tendenz längst jede tatsächliche Spitze verloren hat, üben <lb n="ple_071.031"/> noch heute die Wirkung auf uns, die von vollendeten Dichtungen ausgeht.</p> <p><lb n="ple_071.032"/> So könnte man versucht sein, einen künstlerischen Wert der Intention <lb n="ple_071.033"/> als solcher, der Tiefe und Bedeutsamkeit einer Dichtung, überhaupt nicht <lb n="ple_071.034"/> zuzugestehen und denselben vielmehr ausschließlich in der künstlerischen <lb n="ple_071.035"/> Ausführung zu suchen. Es ist dies der Grundsatz, den man neuerdings <lb n="ple_071.036"/> mit dem Schlagwort „l'art pour l'art“ zu bezeichnen pflegt: im Wesen einer <lb n="ple_071.037"/> Kunst, die nichts als Technik sein will, liegt es, daß sie nur auf den berechnet <lb n="ple_071.038"/> ist, der die Technik in ihren Einzelheiten zu würdigen weiß. Diese <lb n="ple_071.039"/> Anschauung setzt den Artisten an Stelle des Dichters. Sie setzt den Inhalt <lb n="ple_071.040"/> zurück hinter der Form, den metrischen und sprachlichen Ausdrucksmitteln. <lb n="ple_071.041"/> Ja dieses Formenprinzip führt in seinem Extrem zu einer gänzlich <lb n="ple_071.042"/> inhaltlosen Kunst, die nur noch durch den Klang der Worte und Rhythmen <lb n="ple_071.043"/> wirken will: eine Reihe moderner und modernster französischer und </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [71/0085]
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politische Element in Schillers Dramen, so die erzieherische Lebensweisheit ple_071.002
im letzten Akte des Faust, so die sozialen und sittlichen Gedanken in ple_071.003
Ibsens Brand oder Nora. Überall aber, wo der Dichter sein Werk mit bewußter ple_071.004
Absicht in den Dienst eines allgemeinen Gedankens, einer politischen ple_071.005
oder sozialen Richtung stellt, wird der künstlerische Wert durch ple_071.006
das Gewollte und Lehrhafte geschädigt werden. Seine Gestalten werden ple_071.007
sich nicht von innen heraus ausleben und darstellen, wie in einem echten ple_071.008
Kunstwerk; ihre Handlungen werden mehr oder weniger der Absicht des ple_071.009
Dichters, nicht der Notwendigkeit ihrer eigenen Natur entspringen. Das ple_071.010
ist z. B. in den sogenannten Tendenzromanen des 19. Jahrhunderts der ple_071.011
Fall, selbst in so hochstehenden wie Gutzkows Zauberer von Rom und ple_071.012
seinen Rittern vom Geist. Und auch in Gustav Freytags trefflichem ple_071.013
Soll und Haben ist die Schwäche mancher Partien, so das unwahrscheinliche ple_071.014
und sensationelle Ende seines Veitel Itzig, der Tendenz des Buches ple_071.015
zuzuschreiben.
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Aber wir müssen noch einen Schritt weiter gehen und ganz allgemein ple_071.017
zugeben, daß es unmöglich ist, die Bedeutsamkeit einer Dichtung nach ple_071.018
einem künstlerischen Maßstab zu messen. Dieser Aufgabe gegenüber versagt ple_071.019
die Poetik und muß versagen; denn der Wert, um den es sich hier ple_071.020
handelt, hängt nicht von künstlerischen Vorzügen ab, sondern von anders ple_071.021
gearteten Beziehungen, von einem Zusammenhang, der durch die allgemeine ple_071.022
Geisteskultur, ihre Bedürfnisse und Richtungen gegeben ist. Daher kommt ple_071.023
es denn auch, daß die Wirkung, die durch den künstlerischen Charakter ple_071.024
eines Werkes hervorgerufen wird, auch dann noch dauert, wenn im Laufe ple_071.025
einer langen Kulturentwicklung die Bedeutsamkeit des Inhalts abgestorben ple_071.026
oder doch abgeblaßt ist. Was ist uns heute der Orakelglaube und überhaupt ple_071.027
die Götterfurcht der Hellenen? Und dennoch ist der Einfluß des ple_071.028
König Ödipus einer der stärksten und furchtbarsten, von denen die moderne ple_071.029
Literaturgeschichte weiß. Und Satiren wie Don Quichote oder Figaros ple_071.030
Hochzeit, deren Tendenz längst jede tatsächliche Spitze verloren hat, üben ple_071.031
noch heute die Wirkung auf uns, die von vollendeten Dichtungen ausgeht.
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So könnte man versucht sein, einen künstlerischen Wert der Intention ple_071.033
als solcher, der Tiefe und Bedeutsamkeit einer Dichtung, überhaupt nicht ple_071.034
zuzugestehen und denselben vielmehr ausschließlich in der künstlerischen ple_071.035
Ausführung zu suchen. Es ist dies der Grundsatz, den man neuerdings ple_071.036
mit dem Schlagwort „l'art pour l'art“ zu bezeichnen pflegt: im Wesen einer ple_071.037
Kunst, die nichts als Technik sein will, liegt es, daß sie nur auf den berechnet ple_071.038
ist, der die Technik in ihren Einzelheiten zu würdigen weiß. Diese ple_071.039
Anschauung setzt den Artisten an Stelle des Dichters. Sie setzt den Inhalt ple_071.040
zurück hinter der Form, den metrischen und sprachlichen Ausdrucksmitteln. ple_071.041
Ja dieses Formenprinzip führt in seinem Extrem zu einer gänzlich ple_071.042
inhaltlosen Kunst, die nur noch durch den Klang der Worte und Rhythmen ple_071.043
wirken will: eine Reihe moderner und modernster französischer und
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