Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_062.001 ple_062.034 ple_062.001 ple_062.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0076" n="62"/><lb n="ple_062.001"/> des Hörers. Auf diese will der Dichter übertragen, was er in der <lb n="ple_062.002"/> eigenen Phantasie erlebt hat. Die Phantasie aber wird bekanntlich vor <lb n="ple_062.003"/> allem durch die irrationalen Zustände des Seelenlebens, durch Gefühle und <lb n="ple_062.004"/> Empfindungen angeregt, weit stärker als durch verstandesmäßig faßliche <lb n="ple_062.005"/> Eindrücke und Gedankenreihen. Daher ist die <hi rendition="#g">Stimmung</hi> das Element, <lb n="ple_062.006"/> das alle künstlerische Wirkung vermittelt und allein möglich macht. Die <lb n="ple_062.007"/> Stimmung hervorzurufen, aus der heraus seine Schöpfungen glaubhaft und <lb n="ple_062.008"/> lebendig werden, ist bewußt oder unbewußt das erste Absehen jedes Dichters. <lb n="ple_062.009"/> Hierzu dient die innere Eigenart seiner Sprache, die Bilder, in denen <lb n="ple_062.010"/> sie sich bewegt und die sie wachruft; hierzu vor allem aber auch die <lb n="ple_062.011"/> musikalischen Elemente seiner Kunst, Wortklang und Rhythmus; ja, zu <lb n="ple_062.012"/> diesem Zweck ruft er die Musik selber zu Hilfe, sei es als Vertonung <lb n="ple_062.013"/> oder Begleitung seiner Worte, sei es als Vorspiel und Zwischenaktsmusik <lb n="ple_062.014"/> in der dramatischen Aufführung. In einem nicht geringen Teilgebiet der <lb n="ple_062.015"/> Dichtung, nämlich in der ganzen eigentlichen Gefühlslyrik, ist die Stimmung <lb n="ple_062.016"/> nicht nur der erste, sondern zugleich auch der letzte Zweck des <lb n="ple_062.017"/> Dichters: der Lyriker will uns eben seine Stimmungen und Empfindungen <lb n="ple_062.018"/> erleben lassen. Für den epischen aber und besonders für den dramatischen <lb n="ple_062.019"/> Dichter ist sie nur das Medium, in dem seine Gestalten erwachsen und <lb n="ple_062.020"/> sich bewegen; dem verstandesmäßig faßbaren Erlebnis gilt hier die eigentliche <lb n="ple_062.021"/> Intention des Dichters. Aber auch hier ist die Phantasie und nicht <lb n="ple_062.022"/> der Verstand das tragende Element; auch hier zeigt sich die ursprüngliche <lb n="ple_062.023"/> Kraft des Künstlers zunächst in der Gewalt, mit der er uns in die Stimmungen <lb n="ple_062.024"/> und in die Gefühlswelt hineinzwingt, in der seine Menschen leben <lb n="ple_062.025"/> und handeln. Diese Handlungen wirken wiederum auf die Stimmung der <lb n="ple_062.026"/> Zuschauer zurück; ein echtes Kunstwerk will niemals bloß unseren Verstand <lb n="ple_062.027"/> befriedigen. Dennoch treten im Drama und Epos neue Bedingungen <lb n="ple_062.028"/> rationaler Natur auf, ohne welche die Absicht des Dichters nicht erreicht <lb n="ple_062.029"/> werden kann: faßbare Bestimmtheit der Anschauung, Folgerichtigkeit der <lb n="ple_062.030"/> Entwicklung und, wenigstens innerhalb gewisser Grenzen, Übereinstimmung <lb n="ple_062.031"/> mit der äußeren Wirklichkeit. Ja, die Stimmung selbst wird zerstört und <lb n="ple_062.032"/> kann nicht aufkommen, wo diese Forderungen nicht erfüllt werden, wo <lb n="ple_062.033"/> uns Widersprüche und Verschwommenheiten entgegentreten.</p> <p><lb n="ple_062.034"/> Die genannten Bedingungen sind nicht alle gleich wesentlich; man <lb n="ple_062.035"/> möchte sagen, je ausschließlicher verstandesmäßig sie sind, desto mehr <lb n="ple_062.036"/> tritt ihre Bedeutung zurück. Am wenigsten darf man das Rationale der <lb n="ple_062.037"/> äußeren Gestaltung überschätzen, wie das z. B. die Theorie und Technik <lb n="ple_062.038"/> der klassischen Tragödie der Franzosen getan hat: die Phantasietätigkeit <lb n="ple_062.039"/> wird um nichts gefördert noch erleichtert, wenn man den Verlauf einer <lb n="ple_062.040"/> Handlung nach Stunden berechnen kann und wenn die Illusion, die das <lb n="ple_062.041"/> Theater in den Schauplatz wirklichen Geschehens verwandeln muß, sich <lb n="ple_062.042"/> nur auf <hi rendition="#g">einen</hi> solchen Schauplatz erstreckt. Aber auch die Übereinstimmung <lb n="ple_062.043"/> mit der äußeren Wirklichkeit des Lebens ist von geringerem </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [62/0076]
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des Hörers. Auf diese will der Dichter übertragen, was er in der ple_062.002
eigenen Phantasie erlebt hat. Die Phantasie aber wird bekanntlich vor ple_062.003
allem durch die irrationalen Zustände des Seelenlebens, durch Gefühle und ple_062.004
Empfindungen angeregt, weit stärker als durch verstandesmäßig faßliche ple_062.005
Eindrücke und Gedankenreihen. Daher ist die Stimmung das Element, ple_062.006
das alle künstlerische Wirkung vermittelt und allein möglich macht. Die ple_062.007
Stimmung hervorzurufen, aus der heraus seine Schöpfungen glaubhaft und ple_062.008
lebendig werden, ist bewußt oder unbewußt das erste Absehen jedes Dichters. ple_062.009
Hierzu dient die innere Eigenart seiner Sprache, die Bilder, in denen ple_062.010
sie sich bewegt und die sie wachruft; hierzu vor allem aber auch die ple_062.011
musikalischen Elemente seiner Kunst, Wortklang und Rhythmus; ja, zu ple_062.012
diesem Zweck ruft er die Musik selber zu Hilfe, sei es als Vertonung ple_062.013
oder Begleitung seiner Worte, sei es als Vorspiel und Zwischenaktsmusik ple_062.014
in der dramatischen Aufführung. In einem nicht geringen Teilgebiet der ple_062.015
Dichtung, nämlich in der ganzen eigentlichen Gefühlslyrik, ist die Stimmung ple_062.016
nicht nur der erste, sondern zugleich auch der letzte Zweck des ple_062.017
Dichters: der Lyriker will uns eben seine Stimmungen und Empfindungen ple_062.018
erleben lassen. Für den epischen aber und besonders für den dramatischen ple_062.019
Dichter ist sie nur das Medium, in dem seine Gestalten erwachsen und ple_062.020
sich bewegen; dem verstandesmäßig faßbaren Erlebnis gilt hier die eigentliche ple_062.021
Intention des Dichters. Aber auch hier ist die Phantasie und nicht ple_062.022
der Verstand das tragende Element; auch hier zeigt sich die ursprüngliche ple_062.023
Kraft des Künstlers zunächst in der Gewalt, mit der er uns in die Stimmungen ple_062.024
und in die Gefühlswelt hineinzwingt, in der seine Menschen leben ple_062.025
und handeln. Diese Handlungen wirken wiederum auf die Stimmung der ple_062.026
Zuschauer zurück; ein echtes Kunstwerk will niemals bloß unseren Verstand ple_062.027
befriedigen. Dennoch treten im Drama und Epos neue Bedingungen ple_062.028
rationaler Natur auf, ohne welche die Absicht des Dichters nicht erreicht ple_062.029
werden kann: faßbare Bestimmtheit der Anschauung, Folgerichtigkeit der ple_062.030
Entwicklung und, wenigstens innerhalb gewisser Grenzen, Übereinstimmung ple_062.031
mit der äußeren Wirklichkeit. Ja, die Stimmung selbst wird zerstört und ple_062.032
kann nicht aufkommen, wo diese Forderungen nicht erfüllt werden, wo ple_062.033
uns Widersprüche und Verschwommenheiten entgegentreten.
ple_062.034
Die genannten Bedingungen sind nicht alle gleich wesentlich; man ple_062.035
möchte sagen, je ausschließlicher verstandesmäßig sie sind, desto mehr ple_062.036
tritt ihre Bedeutung zurück. Am wenigsten darf man das Rationale der ple_062.037
äußeren Gestaltung überschätzen, wie das z. B. die Theorie und Technik ple_062.038
der klassischen Tragödie der Franzosen getan hat: die Phantasietätigkeit ple_062.039
wird um nichts gefördert noch erleichtert, wenn man den Verlauf einer ple_062.040
Handlung nach Stunden berechnen kann und wenn die Illusion, die das ple_062.041
Theater in den Schauplatz wirklichen Geschehens verwandeln muß, sich ple_062.042
nur auf einen solchen Schauplatz erstreckt. Aber auch die Übereinstimmung ple_062.043
mit der äußeren Wirklichkeit des Lebens ist von geringerem
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