Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_061.001 ple_061.005 ple_061.024 ple_061.042 ple_061.001 ple_061.005 ple_061.024 ple_061.042 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0075" n="61"/><lb n="ple_061.001"/> der Weltliteratur oder auch nur die der deutschen Dichtung <lb n="ple_061.002"/> messen und bewerten können. Sie würde stets genötigt sein, auch andere <lb n="ple_061.003"/> Ideale und Richtungen als die des eigenen Zeitalters zu verstehen und <lb n="ple_061.004"/> anzuerkennen.</p> <p><lb n="ple_061.005"/> Und so müßte die Poetik gänzlich darauf verzichten, Werturteile festzustellen, <lb n="ple_061.006"/> zwischen echter Poesie und Afterkunst, zwischen Geschmack und <lb n="ple_061.007"/> Ungeschmack zu scheiden? Sie müßte das Bedürfnis, das ihr von den <lb n="ple_061.008"/> Dichtern selbst wie vom Publikum entgegengebracht wird, das Bedürfnis <lb n="ple_061.009"/> nach Sicherung und Begründung der Kritik, unbefriedigt, ja unberücksichtigt <lb n="ple_061.010"/> lassen? Sie müßte sich darauf beschränken, das, was <hi rendition="#g">ist</hi> oder gewesen <lb n="ple_061.011"/> ist, in seiner Eigenart zu erkennen, und dürfte auf das, was sein <lb n="ple_061.012"/> <hi rendition="#g">soll,</hi> keinerlei Einfluß in Anspruch nehmen? Aber sollte nicht etwa das <lb n="ple_061.013"/> Verständnis einer geistigen Eigenart, beabsichtigt oder nicht, stets eine gewisse <lb n="ple_061.014"/> Abschätzung dieser Eigenart in sich schließen? Man kann ein dichterisches <lb n="ple_061.015"/> Werk nicht näher betrachten, geschweige denn tiefer in dasselbe <lb n="ple_061.016"/> eindringen, ohne entschieden angezogen oder abgestoßen zu werden: sollte <lb n="ple_061.017"/> das subjektive Werturteil, das zunächst gefühlsmäßig entsteht, wirklich in <lb n="ple_061.018"/> keiner Weise objektiv zu begründen sein, wenn es nicht von oben herab <lb n="ple_061.019"/> aus allgemeinen und vorhergefaßten Prinzipien deduziert wird? Liegt nicht <lb n="ple_061.020"/> schon in der Tatsache dieser persönlichen Wirkung und Wertung ein Ansatz, <lb n="ple_061.021"/> der zu einem objektiven Werturteil erweitert und entwickelt werden <lb n="ple_061.022"/> kann, auch wenn es kein, im metaphysischen Sinne absolut gültiges Urteil <lb n="ple_061.023"/> sein sollte?</p> <p><lb n="ple_061.024"/> In der Tat ein Moment dieser Art, und zwar ein entscheidendes, ergibt <lb n="ple_061.025"/> sich aus unseren bisherigen Betrachtungen. Wir wissen, daß nach dem <lb n="ple_061.026"/> Ausdruck Schillers „jedem Dichter eine dunkle, aber mächtige Totalidee vorschwebt“, <lb n="ple_061.027"/> wir sagen gewöhnlich kurz: eine <hi rendition="#g">Intention.</hi> Diese Intention will <lb n="ple_061.028"/> er verwirklichen, d. h. er will mit den Mitteln seiner Kunst den Hörer oder <lb n="ple_061.029"/> Zuschauer zwingen, was er darstellt, als Wirklichkeit zu betrachten und zu <lb n="ple_061.030"/> erleben, — sei es, daß er uns nötigt, seine lyrisch ausgesprochenen Gefühle <lb n="ple_061.031"/> und Gedanken zu unseren eigenen zu machen, sei es, daß er uns <lb n="ple_061.032"/> von der Bühne herab die Illusion erweckt, durch die wir das, was wir <lb n="ple_061.033"/> sehen, mit zu erleben glauben. Kurz, wenn Dilthey einmal das Erlebnis <lb n="ple_061.034"/> des Dichters als den Ausgangspunkt jeder künstlerischen Schöpfung bezeichnet, <lb n="ple_061.035"/> so bildet das Erlebnis des Lesers oder Zuschauers den Gegenpol <lb n="ple_061.036"/> und Endpunkt des dichterischen Prozesses, und man kann das allgemeine <lb n="ple_061.037"/> Wesen des dichterischen Schaffens sehr wohl dahin formulieren: es beruht <lb n="ple_061.038"/> auf der Absicht des Dichters, ein eigenes inneres Erlebnis zum Erlebnis <lb n="ple_061.039"/> seiner Hörer zu machen. Hieraus ergibt sich als entscheidende Frage für <lb n="ple_061.040"/> den Wert einer Dichtung, ob der Dichter vermocht hat, diese Wirkung zu <lb n="ple_061.041"/> erreichen, seine Intentionen zu verwirklichen.</p> <p><lb n="ple_061.042"/> Betrachten wir die Gesichtspunkte näher, die sich aus dieser Fragestellung <lb n="ple_061.043"/> ergeben. Die Trägerin jeder künstlerischen Wirkung ist die Phantasie </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [61/0075]
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der Weltliteratur oder auch nur die der deutschen Dichtung ple_061.002
messen und bewerten können. Sie würde stets genötigt sein, auch andere ple_061.003
Ideale und Richtungen als die des eigenen Zeitalters zu verstehen und ple_061.004
anzuerkennen.
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Und so müßte die Poetik gänzlich darauf verzichten, Werturteile festzustellen, ple_061.006
zwischen echter Poesie und Afterkunst, zwischen Geschmack und ple_061.007
Ungeschmack zu scheiden? Sie müßte das Bedürfnis, das ihr von den ple_061.008
Dichtern selbst wie vom Publikum entgegengebracht wird, das Bedürfnis ple_061.009
nach Sicherung und Begründung der Kritik, unbefriedigt, ja unberücksichtigt ple_061.010
lassen? Sie müßte sich darauf beschränken, das, was ist oder gewesen ple_061.011
ist, in seiner Eigenart zu erkennen, und dürfte auf das, was sein ple_061.012
soll, keinerlei Einfluß in Anspruch nehmen? Aber sollte nicht etwa das ple_061.013
Verständnis einer geistigen Eigenart, beabsichtigt oder nicht, stets eine gewisse ple_061.014
Abschätzung dieser Eigenart in sich schließen? Man kann ein dichterisches ple_061.015
Werk nicht näher betrachten, geschweige denn tiefer in dasselbe ple_061.016
eindringen, ohne entschieden angezogen oder abgestoßen zu werden: sollte ple_061.017
das subjektive Werturteil, das zunächst gefühlsmäßig entsteht, wirklich in ple_061.018
keiner Weise objektiv zu begründen sein, wenn es nicht von oben herab ple_061.019
aus allgemeinen und vorhergefaßten Prinzipien deduziert wird? Liegt nicht ple_061.020
schon in der Tatsache dieser persönlichen Wirkung und Wertung ein Ansatz, ple_061.021
der zu einem objektiven Werturteil erweitert und entwickelt werden ple_061.022
kann, auch wenn es kein, im metaphysischen Sinne absolut gültiges Urteil ple_061.023
sein sollte?
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In der Tat ein Moment dieser Art, und zwar ein entscheidendes, ergibt ple_061.025
sich aus unseren bisherigen Betrachtungen. Wir wissen, daß nach dem ple_061.026
Ausdruck Schillers „jedem Dichter eine dunkle, aber mächtige Totalidee vorschwebt“, ple_061.027
wir sagen gewöhnlich kurz: eine Intention. Diese Intention will ple_061.028
er verwirklichen, d. h. er will mit den Mitteln seiner Kunst den Hörer oder ple_061.029
Zuschauer zwingen, was er darstellt, als Wirklichkeit zu betrachten und zu ple_061.030
erleben, — sei es, daß er uns nötigt, seine lyrisch ausgesprochenen Gefühle ple_061.031
und Gedanken zu unseren eigenen zu machen, sei es, daß er uns ple_061.032
von der Bühne herab die Illusion erweckt, durch die wir das, was wir ple_061.033
sehen, mit zu erleben glauben. Kurz, wenn Dilthey einmal das Erlebnis ple_061.034
des Dichters als den Ausgangspunkt jeder künstlerischen Schöpfung bezeichnet, ple_061.035
so bildet das Erlebnis des Lesers oder Zuschauers den Gegenpol ple_061.036
und Endpunkt des dichterischen Prozesses, und man kann das allgemeine ple_061.037
Wesen des dichterischen Schaffens sehr wohl dahin formulieren: es beruht ple_061.038
auf der Absicht des Dichters, ein eigenes inneres Erlebnis zum Erlebnis ple_061.039
seiner Hörer zu machen. Hieraus ergibt sich als entscheidende Frage für ple_061.040
den Wert einer Dichtung, ob der Dichter vermocht hat, diese Wirkung zu ple_061.041
erreichen, seine Intentionen zu verwirklichen.
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Betrachten wir die Gesichtspunkte näher, die sich aus dieser Fragestellung ple_061.043
ergeben. Die Trägerin jeder künstlerischen Wirkung ist die Phantasie
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