Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_063.001 ple_063.014 ple_063.001 ple_063.014 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0077" n="63"/><lb n="ple_063.001"/> Wert, als man denken sollte. Da freilich, wo der Dichter eben diese <lb n="ple_063.002"/> Wirklichkeit darstellen will, also in der naturalistischen oder auch realistischen <lb n="ple_063.003"/> Kunst, darf er nicht in Widerspruch mit ihr kommen, denn er kommt dadurch <lb n="ple_063.004"/> zugleich in Widerspruch mit sich selbst. Wen aber kümmert es, <lb n="ple_063.005"/> ja wer bemerkt es auch nur, daß in Goethes Tasso wie in Kleists Prinzen <lb n="ple_063.006"/> von Homburg fast alle üblichen höfischen Formen aus dem Verkehr der <lb n="ple_063.007"/> Personen weggelassen sind und selbst im Verkehr mit den Fürsten nur <lb n="ple_063.008"/> das Du angewandt ist? Im Märchen vollends vermag der Dichter eine <lb n="ple_063.009"/> Welt zu schaffen, in der alles äußere Geschehen von der Wirklichkeit <lb n="ple_063.010"/> gänzlich abweicht, und doch zwingt er uns, sie zu glauben, wenn <lb n="ple_063.011"/> er es nur vermag, die Stimmung in uns zu erwecken, aus der sie <lb n="ple_063.012"/> glaublich wird und sie in sich selbst anschaulich und übereinstimmend zu <lb n="ple_063.013"/> gestalten.</p> <p><lb n="ple_063.014"/> Weit wichtiger als die äußerliche ist die innere Übereinstimmung, die <lb n="ple_063.015"/> Folgerichtigkeit der Handlung und der Charakteristik. Jede Abbiegung von der <lb n="ple_063.016"/> ursprünglichen Intention, jeder Bruch in der Charakterentfaltung rächt sich unerbittlich: <lb n="ple_063.017"/> wie sie selbst Zeichen von Schwäche der gestaltenden Phantasie des <lb n="ple_063.018"/> Dichters sind, so schwächen sie die Kraft der Wirkung, die von dem Dichtwerk <lb n="ple_063.019"/> ausgeht, weil sie das Zwingende aufheben, in dem das Wesen der <lb n="ple_063.020"/> Wirkung liegt. Dies zeigt sich z. B. auffallend in den meisten Wildenbruchschen <lb n="ple_063.021"/> Dramen, besonders deutlich in dem <hi rendition="#g">Neuen Gebot,</hi> sowie in dem sonst <lb n="ple_063.022"/> vielfach trefflichen <hi rendition="#g">Heinrich und Heinrichs Geschlecht:</hi> die Wirkung, <lb n="ple_063.023"/> welche der Verlauf dieser Tragödien ausübt, bleibt trotz den gesteigerten theatralischen <lb n="ple_063.024"/> Mitteln hinter dem Eindruck der ersten Akte zurück, weil sie — vielleicht <lb n="ple_063.025"/> eben der Bühnenwirkung zuliebe — nicht folgerichtig durchgeführt <lb n="ple_063.026"/> sind. In noch stärkerem Maße zeigt sich das in einem Bühnenstück wie Beer- <lb n="ple_063.027"/> Hoffmanns <hi rendition="#g">Grafen von Charolais,</hi> der vor kurzem im Sturm die deutschen <lb n="ple_063.028"/> Bühnen eroberte, aber sich, wie es scheint, auf keiner erhalten hat. Hier ist allerdings <lb n="ple_063.029"/> die Diskrepanz zwischen den beiden Schlußakten und den drei ersten <lb n="ple_063.030"/> so grob und unvermittelt, daß dem Drama dadurch, trotz unbestreitbarer <lb n="ple_063.031"/> Schönheiten in den Anfangsteilen, der Charakter eines Kunstwerks genommen <lb n="ple_063.032"/> wird. Allerdings scheinen jene plötzlichen Bekehrungen von Toren oder <lb n="ple_063.033"/> Bösewichtern, wie sie am Schlusse von Lustspielen und Rührstücken von <lb n="ple_063.034"/> jeher üblich waren und noch sind, die Wirkung solcher Stücke zu steigern. <lb n="ple_063.035"/> Selbst Shakespeare hat in manchen seiner Lustspiele dieses Mittel angewandt <lb n="ple_063.036"/> und Schiller hat es sich am Schluß von Kabale und Liebe gestattet, <lb n="ple_063.037"/> um der poetischen Gerechtigkeit Genüge zu leisten. Die Neigung <lb n="ple_063.038"/> des Theaterpublikums, die dem Rührenden und Versöhnlichen entgegenzukommen <lb n="ple_063.039"/> pflegt, und der fallende Vorhang, der eine breitere Ausmalung <lb n="ple_063.040"/> und weitere Besinnung verhindert, helfen darüber hinweg: aber solche <lb n="ple_063.041"/> Mittel sind ein für allemal psychologisch unwahr, daher werden sie dem <lb n="ple_063.042"/> tiefer Betrachtenden die künstlerische Wirkung niemals erhöhen, oft genug <lb n="ple_063.043"/> stören oder gar zerstören.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [63/0077]
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Wert, als man denken sollte. Da freilich, wo der Dichter eben diese ple_063.002
Wirklichkeit darstellen will, also in der naturalistischen oder auch realistischen ple_063.003
Kunst, darf er nicht in Widerspruch mit ihr kommen, denn er kommt dadurch ple_063.004
zugleich in Widerspruch mit sich selbst. Wen aber kümmert es, ple_063.005
ja wer bemerkt es auch nur, daß in Goethes Tasso wie in Kleists Prinzen ple_063.006
von Homburg fast alle üblichen höfischen Formen aus dem Verkehr der ple_063.007
Personen weggelassen sind und selbst im Verkehr mit den Fürsten nur ple_063.008
das Du angewandt ist? Im Märchen vollends vermag der Dichter eine ple_063.009
Welt zu schaffen, in der alles äußere Geschehen von der Wirklichkeit ple_063.010
gänzlich abweicht, und doch zwingt er uns, sie zu glauben, wenn ple_063.011
er es nur vermag, die Stimmung in uns zu erwecken, aus der sie ple_063.012
glaublich wird und sie in sich selbst anschaulich und übereinstimmend zu ple_063.013
gestalten.
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Weit wichtiger als die äußerliche ist die innere Übereinstimmung, die ple_063.015
Folgerichtigkeit der Handlung und der Charakteristik. Jede Abbiegung von der ple_063.016
ursprünglichen Intention, jeder Bruch in der Charakterentfaltung rächt sich unerbittlich: ple_063.017
wie sie selbst Zeichen von Schwäche der gestaltenden Phantasie des ple_063.018
Dichters sind, so schwächen sie die Kraft der Wirkung, die von dem Dichtwerk ple_063.019
ausgeht, weil sie das Zwingende aufheben, in dem das Wesen der ple_063.020
Wirkung liegt. Dies zeigt sich z. B. auffallend in den meisten Wildenbruchschen ple_063.021
Dramen, besonders deutlich in dem Neuen Gebot, sowie in dem sonst ple_063.022
vielfach trefflichen Heinrich und Heinrichs Geschlecht: die Wirkung, ple_063.023
welche der Verlauf dieser Tragödien ausübt, bleibt trotz den gesteigerten theatralischen ple_063.024
Mitteln hinter dem Eindruck der ersten Akte zurück, weil sie — vielleicht ple_063.025
eben der Bühnenwirkung zuliebe — nicht folgerichtig durchgeführt ple_063.026
sind. In noch stärkerem Maße zeigt sich das in einem Bühnenstück wie Beer- ple_063.027
Hoffmanns Grafen von Charolais, der vor kurzem im Sturm die deutschen ple_063.028
Bühnen eroberte, aber sich, wie es scheint, auf keiner erhalten hat. Hier ist allerdings ple_063.029
die Diskrepanz zwischen den beiden Schlußakten und den drei ersten ple_063.030
so grob und unvermittelt, daß dem Drama dadurch, trotz unbestreitbarer ple_063.031
Schönheiten in den Anfangsteilen, der Charakter eines Kunstwerks genommen ple_063.032
wird. Allerdings scheinen jene plötzlichen Bekehrungen von Toren oder ple_063.033
Bösewichtern, wie sie am Schlusse von Lustspielen und Rührstücken von ple_063.034
jeher üblich waren und noch sind, die Wirkung solcher Stücke zu steigern. ple_063.035
Selbst Shakespeare hat in manchen seiner Lustspiele dieses Mittel angewandt ple_063.036
und Schiller hat es sich am Schluß von Kabale und Liebe gestattet, ple_063.037
um der poetischen Gerechtigkeit Genüge zu leisten. Die Neigung ple_063.038
des Theaterpublikums, die dem Rührenden und Versöhnlichen entgegenzukommen ple_063.039
pflegt, und der fallende Vorhang, der eine breitere Ausmalung ple_063.040
und weitere Besinnung verhindert, helfen darüber hinweg: aber solche ple_063.041
Mittel sind ein für allemal psychologisch unwahr, daher werden sie dem ple_063.042
tiefer Betrachtenden die künstlerische Wirkung niemals erhöhen, oft genug ple_063.043
stören oder gar zerstören.
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