Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_055.001 ple_055.009 ple_055.021 ple_055.025 ple_055.042 ple_055.001 ple_055.009 ple_055.021 ple_055.025 ple_055.042 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0069" n="55"/><lb n="ple_055.001"/> Wenn er das nicht tut, so spricht er eben zunächst im eigenen Namen, <lb n="ple_055.002"/> damit zugleich aber spricht er auch, und das ist das Wichtigste, im Namen <lb n="ple_055.003"/> seines Lesers. Denn wie der Zuschauer im Drama mit dem Helden, so <lb n="ple_055.004"/> soll der Leser oder Hörer eines Liedes mit dem Dichter ganz unmittelbar <lb n="ple_055.005"/> mitempfinden. Das Ich des Dichters muß zum Ich des Hörers werden: <lb n="ple_055.006"/> auf dieser Verschmelzung beruht jede lyrische Wirkung. Nirgends ist sie <lb n="ple_055.007"/> in höherer Vollendung erreicht als in dem Gedichte An den Mond, — und <lb n="ple_055.008"/> da sollen wir uns fragen, ob hier ein Mann oder eine Frau spricht?</p> <p><lb n="ple_055.009"/> Über diese und ähnliche Einzelheiten hinaus aber droht der genetischen <lb n="ple_055.010"/> und ganz besonders der biographischen Erklärung eine allgemeinere Gefahr: <lb n="ple_055.011"/> indem sie einseitig zeigt, wie das, was der Dichter erlebt und gesehen hat, <lb n="ple_055.012"/> sich in seiner Dichtung widerspiegelt, kommt das formengebende Prinzip <lb n="ple_055.013"/> der dichterischen Tätigkeit nicht zu seinem Rechte, und die Erklärung leistet <lb n="ple_055.014"/> gar zu leicht der schiefen Auffassung, die bereits im fünften Abschnitt gekennzeichnet <lb n="ple_055.015"/> wurde, Vorschub, als sei die dichterische Phantasie ein bloß <lb n="ple_055.016"/> passives Medium, die Dichtung selbst ein rein assoziativer Prozeß, an <lb n="ple_055.017"/> dem Wille und Kraftanspannung wenig oder keinen Anteil haben. Schon <lb n="ple_055.018"/> aus diesem Grunde ist es nötig, daß die ästhetische Erklärung mit dem <lb n="ple_055.019"/> steten Hinweis auf die absichtvolle Arbeit, mit welcher der Künstler gestaltet, <lb n="ple_055.020"/> der genetischen zur Seite tritt.</p> <p><lb n="ple_055.021"/> Zwei Einwände erheben sich nun, geeignet, die Berechtigung, ja die <lb n="ple_055.022"/> Möglichkeit der ästhetischen Erklärung beträchtlich einzuschränken, wenn <lb n="ple_055.023"/> nicht ganz und gar zweifelhaft zu machen. Beide erfordern es, daß wir <lb n="ple_055.024"/> kurz auf sie eingehen.</p> <p><lb n="ple_055.025"/> Die ästhetische Interpretation, so sagt man wohl, ist überflüssig, da <lb n="ple_055.026"/> sie nichts lehren kann, was nicht in der Dichtung selbst schon liegt und <lb n="ple_055.027"/> aus ihr heraus unmittelbar und vernehmlich zu uns redet; sie ist schädlich, <lb n="ple_055.028"/> weil sie die Dichtung, die zum Gefühl und zur Phantasie sprechen will, <lb n="ple_055.029"/> wie sie aus Phantasie und Gefühl heraus geboren ist, ins Verstandesmäßige <lb n="ple_055.030"/> zieht und hierdurch den Irrtum erregt, als spräche der Dichter aus dem <lb n="ple_055.031"/> Verstande und zum Verstande. Ein Kunstwerk zu rationalisieren sei unmöglich, <lb n="ple_055.032"/> man nehme ihm eben hierdurch den künstlerischen Charakter. <lb n="ple_055.033"/> Es scheint bisweilen, als ob die philologische Wissenschaft und die neueste <lb n="ple_055.034"/> poetische Modeströmung hierin übereinkämen, wenn auch von einem verschiedenen <lb n="ple_055.035"/> Ausgangspunkte aus. Die letztere will in der Kunst alles in <lb n="ple_055.036"/> Gefühl und Stimmung auflösen; ihr widerstrebt das Verstandesmäßige als <lb n="ple_055.037"/> solches. Aber auch Wilhelm Wackernagel und Rudolf von Raumer verwarfen <lb n="ple_055.038"/> die „zerklärende“ Behandlung von Dichtwerken als überflüssig. Und <lb n="ple_055.039"/> es ist wahrscheinlich, daß die Mißachtung, welche die heutige Literaturwissenschaft <lb n="ple_055.040"/> der ästhetischen Erklärung entgegenbringt, mit dieser Anschauungsweise <lb n="ple_055.041"/> in engem Zusammenhang steht.</p> <p><lb n="ple_055.042"/> Allein hierauf ist zunächst zu erwidern, daß die ästhetische Interpretation <lb n="ple_055.043"/> das Gefühl und die Anschauung nicht verdrängen und ersetzen, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [55/0069]
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Wenn er das nicht tut, so spricht er eben zunächst im eigenen Namen, ple_055.002
damit zugleich aber spricht er auch, und das ist das Wichtigste, im Namen ple_055.003
seines Lesers. Denn wie der Zuschauer im Drama mit dem Helden, so ple_055.004
soll der Leser oder Hörer eines Liedes mit dem Dichter ganz unmittelbar ple_055.005
mitempfinden. Das Ich des Dichters muß zum Ich des Hörers werden: ple_055.006
auf dieser Verschmelzung beruht jede lyrische Wirkung. Nirgends ist sie ple_055.007
in höherer Vollendung erreicht als in dem Gedichte An den Mond, — und ple_055.008
da sollen wir uns fragen, ob hier ein Mann oder eine Frau spricht?
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Über diese und ähnliche Einzelheiten hinaus aber droht der genetischen ple_055.010
und ganz besonders der biographischen Erklärung eine allgemeinere Gefahr: ple_055.011
indem sie einseitig zeigt, wie das, was der Dichter erlebt und gesehen hat, ple_055.012
sich in seiner Dichtung widerspiegelt, kommt das formengebende Prinzip ple_055.013
der dichterischen Tätigkeit nicht zu seinem Rechte, und die Erklärung leistet ple_055.014
gar zu leicht der schiefen Auffassung, die bereits im fünften Abschnitt gekennzeichnet ple_055.015
wurde, Vorschub, als sei die dichterische Phantasie ein bloß ple_055.016
passives Medium, die Dichtung selbst ein rein assoziativer Prozeß, an ple_055.017
dem Wille und Kraftanspannung wenig oder keinen Anteil haben. Schon ple_055.018
aus diesem Grunde ist es nötig, daß die ästhetische Erklärung mit dem ple_055.019
steten Hinweis auf die absichtvolle Arbeit, mit welcher der Künstler gestaltet, ple_055.020
der genetischen zur Seite tritt.
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Zwei Einwände erheben sich nun, geeignet, die Berechtigung, ja die ple_055.022
Möglichkeit der ästhetischen Erklärung beträchtlich einzuschränken, wenn ple_055.023
nicht ganz und gar zweifelhaft zu machen. Beide erfordern es, daß wir ple_055.024
kurz auf sie eingehen.
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Die ästhetische Interpretation, so sagt man wohl, ist überflüssig, da ple_055.026
sie nichts lehren kann, was nicht in der Dichtung selbst schon liegt und ple_055.027
aus ihr heraus unmittelbar und vernehmlich zu uns redet; sie ist schädlich, ple_055.028
weil sie die Dichtung, die zum Gefühl und zur Phantasie sprechen will, ple_055.029
wie sie aus Phantasie und Gefühl heraus geboren ist, ins Verstandesmäßige ple_055.030
zieht und hierdurch den Irrtum erregt, als spräche der Dichter aus dem ple_055.031
Verstande und zum Verstande. Ein Kunstwerk zu rationalisieren sei unmöglich, ple_055.032
man nehme ihm eben hierdurch den künstlerischen Charakter. ple_055.033
Es scheint bisweilen, als ob die philologische Wissenschaft und die neueste ple_055.034
poetische Modeströmung hierin übereinkämen, wenn auch von einem verschiedenen ple_055.035
Ausgangspunkte aus. Die letztere will in der Kunst alles in ple_055.036
Gefühl und Stimmung auflösen; ihr widerstrebt das Verstandesmäßige als ple_055.037
solches. Aber auch Wilhelm Wackernagel und Rudolf von Raumer verwarfen ple_055.038
die „zerklärende“ Behandlung von Dichtwerken als überflüssig. Und ple_055.039
es ist wahrscheinlich, daß die Mißachtung, welche die heutige Literaturwissenschaft ple_055.040
der ästhetischen Erklärung entgegenbringt, mit dieser Anschauungsweise ple_055.041
in engem Zusammenhang steht.
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Allein hierauf ist zunächst zu erwidern, daß die ästhetische Interpretation ple_055.043
das Gefühl und die Anschauung nicht verdrängen und ersetzen,
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