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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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überall da nämlich, wo der Dichter selbst im Persönlichen geblieben ist, ple_054.002
entweder weil er es beabsichtigte, oder weil ihm jene Loslösung und Objektivation ple_054.003
des Kunstwerks, die Erhebung ins Allgemeine, nicht völlig ple_054.004
gelungen ist. Beides ist naturgemäß besonders oft in der Lyrik der Fall, ple_054.005
das erstere in Gelegenheitsgedichten, wie Goethes Ilmenau; das zweite ple_054.006
etwa in seiner Harzreise im Winter. Niemand kann diese Gedichte ple_054.007
zureichend erklären, wenn er ihre persönlichen Beziehungen nicht kennt, ple_054.008
und so wird man allerdings die Forderung aufstellen müssen, daß jeder, ple_054.009
der Dichtungen künstlerisch interpretieren will, ihre Entstehungsgeschichte ple_054.010
im weitesten Sinne des Wortes beherrscht.

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Aber auch umgekehrt bleibt für den Literarhistoriker, der eine Dichtung ple_054.012
genetisch erklärt, ein umfassendes und eindringendes ästhetisches ple_054.013
Verständnis unbedingtes Erfordernis. Wo die genetische Methode einseitig ple_054.014
herrscht, da bleibt nicht nur die eine Hälfte der Gesamtaufgabe unerfüllt, ple_054.015
die Erklärung läuft auch Gefahr, auf Irrwege zu geraten und zu schiefen ple_054.016
oder falschen Ergebnissen zu gelangen. Der Blick für das Kunstwerk, wie ple_054.017
es abgeschlossen vorliegt, wird leicht getrübt, wenn der Erklärer das Auge ple_054.018
beständig auf die Entstehungsgeschichte gerichtet hält; und er überträgt ple_054.019
dann, was er hier findet, allzu leicht auf das, was dort vorliegt. Einen Irrtum ple_054.020
dieser Art habe ich im Goethejahrbuch 1905 ausführlicher behandelt. Es ple_054.021
ist die Auslegung, die Goethes Lied An den Mond in Bielschowskys ple_054.022
Goethebiographie und in Litzmanns Buch über "Goethes Lyrik" gefunden ple_054.023
hat; ich habe schon oben (S. 32) die Entstehungsgeschichte dieses Gedichtes, ple_054.024
wie sie Bielschowsky schildert, mitgeteilt und erwähnt. Weil nun ple_054.025
aus dieser hervorgeht, daß in der ersten, von Goethe nicht veröffentlichten ple_054.026
Fassung die letzten Strophen aus der Seele der Frau von Stein heraus ple_054.027
gedacht und geschrieben sind, schließen beide Erklärer, daß dasselbe auch ple_054.028
von dem vollendeten Gedichte gelte. Bielschowsky stempelt es zum "Klagelied ple_054.029
einer vom Geliebten verlassenen Frau". Und auch Litzmann verlangt, ple_054.030
daß der Erklärer die Frage aufwerfe, wer hier spreche, und er beantwortet ple_054.031
sie durch den Hinweis auf die Stein. Das Gedicht enthält "die Gedanken ple_054.032
einer Einsamen, freilich keiner Verlassenen". Beide Erklärer also machen, ple_054.033
um den geschichtlich technischen Ausdruck zu gebrauchen, eine Art von ple_054.034
Frauenstrophe aus dem Gedicht, die nur aus Goethes Verhältnis zu Frau ple_054.035
von Stein richtig verstanden werden könne. Sie bedenken nicht, daß der ple_054.036
Dichter in der Umarbeitung und Abrundung seines ersten Entwurfs, zweifellos ple_054.037
aus einer künstlerischen Absicht heraus, jede persönliche Beziehung ple_054.038
verwischt hat, und daß in der abschließenden Fassung nichts vorliegt, ple_054.039
was auf einen irgendwie nach Geschlecht oder Persönlichkeit bestimmten ple_054.040
Sprecher hinweist. Will ein Dichter so verstanden werden, als ob er nicht ple_054.041
aus seinem eigenen Mund, sondern aus dem einer anderen Person, einer ple_054.042
Frau rede, so wird er das kenntlich machen, wie es vom Kürenberger ple_054.043
bis zu Chamisso noch alle Dichter von Frauenstrophen getan haben.

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überall da nämlich, wo der Dichter selbst im Persönlichen geblieben ist, ple_054.002
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und so wird man allerdings die Forderung aufstellen müssen, daß jeder, ple_054.009
der Dichtungen künstlerisch interpretieren will, ihre Entstehungsgeschichte ple_054.010
im weitesten Sinne des Wortes beherrscht.

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Aber auch umgekehrt bleibt für den Literarhistoriker, der eine Dichtung ple_054.012
genetisch erklärt, ein umfassendes und eindringendes ästhetisches ple_054.013
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von Stein richtig verstanden werden könne. Sie bedenken nicht, daß der ple_054.036
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[54/0068] ple_054.001 überall da nämlich, wo der Dichter selbst im Persönlichen geblieben ist, ple_054.002 entweder weil er es beabsichtigte, oder weil ihm jene Loslösung und Objektivation ple_054.003 des Kunstwerks, die Erhebung ins Allgemeine, nicht völlig ple_054.004 gelungen ist. Beides ist naturgemäß besonders oft in der Lyrik der Fall, ple_054.005 das erstere in Gelegenheitsgedichten, wie Goethes Ilmenau; das zweite ple_054.006 etwa in seiner Harzreise im Winter. Niemand kann diese Gedichte ple_054.007 zureichend erklären, wenn er ihre persönlichen Beziehungen nicht kennt, ple_054.008 und so wird man allerdings die Forderung aufstellen müssen, daß jeder, ple_054.009 der Dichtungen künstlerisch interpretieren will, ihre Entstehungsgeschichte ple_054.010 im weitesten Sinne des Wortes beherrscht. ple_054.011 Aber auch umgekehrt bleibt für den Literarhistoriker, der eine Dichtung ple_054.012 genetisch erklärt, ein umfassendes und eindringendes ästhetisches ple_054.013 Verständnis unbedingtes Erfordernis. Wo die genetische Methode einseitig ple_054.014 herrscht, da bleibt nicht nur die eine Hälfte der Gesamtaufgabe unerfüllt, ple_054.015 die Erklärung läuft auch Gefahr, auf Irrwege zu geraten und zu schiefen ple_054.016 oder falschen Ergebnissen zu gelangen. Der Blick für das Kunstwerk, wie ple_054.017 es abgeschlossen vorliegt, wird leicht getrübt, wenn der Erklärer das Auge ple_054.018 beständig auf die Entstehungsgeschichte gerichtet hält; und er überträgt ple_054.019 dann, was er hier findet, allzu leicht auf das, was dort vorliegt. Einen Irrtum ple_054.020 dieser Art habe ich im Goethejahrbuch 1905 ausführlicher behandelt. Es ple_054.021 ist die Auslegung, die Goethes Lied An den Mond in Bielschowskys ple_054.022 Goethebiographie und in Litzmanns Buch über „Goethes Lyrik“ gefunden ple_054.023 hat; ich habe schon oben (S. 32) die Entstehungsgeschichte dieses Gedichtes, ple_054.024 wie sie Bielschowsky schildert, mitgeteilt und erwähnt. Weil nun ple_054.025 aus dieser hervorgeht, daß in der ersten, von Goethe nicht veröffentlichten ple_054.026 Fassung die letzten Strophen aus der Seele der Frau von Stein heraus ple_054.027 gedacht und geschrieben sind, schließen beide Erklärer, daß dasselbe auch ple_054.028 von dem vollendeten Gedichte gelte. Bielschowsky stempelt es zum „Klagelied ple_054.029 einer vom Geliebten verlassenen Frau“. Und auch Litzmann verlangt, ple_054.030 daß der Erklärer die Frage aufwerfe, wer hier spreche, und er beantwortet ple_054.031 sie durch den Hinweis auf die Stein. Das Gedicht enthält „die Gedanken ple_054.032 einer Einsamen, freilich keiner Verlassenen“. Beide Erklärer also machen, ple_054.033 um den geschichtlich technischen Ausdruck zu gebrauchen, eine Art von ple_054.034 Frauenstrophe aus dem Gedicht, die nur aus Goethes Verhältnis zu Frau ple_054.035 von Stein richtig verstanden werden könne. Sie bedenken nicht, daß der ple_054.036 Dichter in der Umarbeitung und Abrundung seines ersten Entwurfs, zweifellos ple_054.037 aus einer künstlerischen Absicht heraus, jede persönliche Beziehung ple_054.038 verwischt hat, und daß in der abschließenden Fassung nichts vorliegt, ple_054.039 was auf einen irgendwie nach Geschlecht oder Persönlichkeit bestimmten ple_054.040 Sprecher hinweist. Will ein Dichter so verstanden werden, als ob er nicht ple_054.041 aus seinem eigenen Mund, sondern aus dem einer anderen Person, einer ple_054.042 Frau rede, so wird er das kenntlich machen, wie es vom Kürenberger ple_054.043 bis zu Chamisso noch alle Dichter von Frauenstrophen getan haben.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/68>, abgerufen am 09.11.2024.