Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_045.001 ple_045.009 ple_045.018 ple_045.037 ple_045.001 ple_045.009 ple_045.018 ple_045.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0059" n="45"/><lb n="ple_045.001"/> Weit wesentlicher ist die persönliche Anlage, man kann geradezu sagen: <lb n="ple_045.002"/> das Temperament des Dichters, das ihn von vornherein und zumeist <lb n="ple_045.003"/> dauernd auf eine bestimmte Art der Wirkung hin und damit in eine der <lb n="ple_045.004"/> drei Gattungen als in sein heimisches Gebiet hineindrängt, wenn es ihn <lb n="ple_045.005"/> auch nicht ganz und gar darauf zu beschränken pflegt. Von Einfluß ist <lb n="ple_045.006"/> aber auch die Richtung des Gefühls und der vom Gefühl bestimmten Anschauungsweise, <lb n="ple_045.007"/> die der Dichter in seinen Schöpfungen zum Ausdruck <lb n="ple_045.008"/> bringen will.</p> <p><lb n="ple_045.009"/> Diese <hi rendition="#g">Richtung der künstlerischen Intention</hi> ist überhaupt das <lb n="ple_045.010"/> wesentlichste Lebenselement jeder Dichtung. Ob sie zu tragischer oder <lb n="ple_045.011"/> humoristischer Lebensauffassung, zu naturalistischer oder idealisierter Wiedergabe <lb n="ple_045.012"/> der Wirklichkeit führt, ist für den Charakter der Dichtung das eigentlich <lb n="ple_045.013"/> Entscheidende, und wenn sie auch für die Wahl der Gattung nicht <lb n="ple_045.014"/> den Ausschlag gibt — hier kommen, wie gesagt, andere ebenso ursprüngliche <lb n="ple_045.015"/> Anlagen der Phantasietätigkeit zur Geltung —, so bestimmt sie doch <lb n="ple_045.016"/> die Darstellung im ganzen, insbesondere die sprachliche, oft auch die <lb n="ple_045.017"/> metrische Gestaltung.</p> <p><lb n="ple_045.018"/> Wenn z. B. von zwei Dichtern der eine den Stoff der Jungfrau von <lb n="ple_045.019"/> Orleans im Epos, der andere ihn im Drama behandelt, so ist das zunächst <lb n="ple_045.020"/> ein Unterschied der äußeren Darstellungsart, der <hi rendition="#g">Gattung.</hi> Sehen wir nun <lb n="ple_045.021"/> aber weiter, daß der erstere den Stoff <hi rendition="#g">satirisch,</hi> der andere ihn <hi rendition="#g">sentimentalisch-heroisch</hi> <lb n="ple_045.022"/> auffaßt, so zeigt sich uns offenbar eine weit tiefer <lb n="ple_045.023"/> greifende Verschiedenheit der Konzeptionen. Beide Unterschiede fallen <lb n="ple_045.024"/> nicht zusammen, ja, sie sind nicht einmal unmittelbar abhängig voneinander: <lb n="ple_045.025"/> es wäre möglich, einen und denselben Stoff in einem heroischen Epos und <lb n="ple_045.026"/> in einem satirischen Drama zu behandeln, wie etwa Homer und Shakespeare <lb n="ple_045.027"/> die Geschichte des Troilus behandelt haben. Und doch ist es deutlich, <lb n="ple_045.028"/> daß die Auffassung des Stoffes auch die Wahl der Kunstgattung bei <lb n="ple_045.029"/> Voltaire und Schiller beeinflußt hat. Weit tiefer freilich hat die Verschiedenheit <lb n="ple_045.030"/> der Grundauffassung auf die Art der Darstellung und Stoffgestaltung <lb n="ple_045.031"/> im einzelnen eingewirkt, auf die Art zu charakterisieren, die Sprache und, <lb n="ple_045.032"/> bei Schiller wenigstens, auf das Metrum. Die <hi rendition="#g">satirische</hi> und die <hi rendition="#g">tragische</hi> <lb n="ple_045.033"/> Richtung der Poesie treten hier in ihrer grundlegenden Bedeutung <lb n="ple_045.034"/> als Typen der poetischen <hi rendition="#g">Auffassung</hi> hervor. Wir können daher sie und <lb n="ple_045.035"/> ihresgleichen den Typen der <hi rendition="#g">Darstellung,</hi> den <hi rendition="#g">Gattungen der Poesie</hi> <lb n="ple_045.036"/> zur Seite stellen.</p> <p><lb n="ple_045.037"/> Diese <hi rendition="#g">Richtung</hi> eines Dichtwerks hängt offenbar von der Gefühls- <lb n="ple_045.038"/> und Anschauungsweise ab, mit welcher der Dichter seinen Stoff ergriffen <lb n="ple_045.039"/> und erfüllt hat, sie steht in innigster Beziehung zu dem Gedanken- und <lb n="ple_045.040"/> Empfindungsgehalt des Gedichtes. Dieser nun ist seinerseits nichts als <lb n="ple_045.041"/> ein Ausfluß der gesamten individuell oder auch national bestimmten Weltanschauung <lb n="ple_045.042"/> des Dichters und als solcher auch an sich genommen von <lb n="ple_045.043"/> Interesse und Wert für die wissenschaftliche Betrachtung. Denn der Dichter, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [45/0059]
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Weit wesentlicher ist die persönliche Anlage, man kann geradezu sagen: ple_045.002
das Temperament des Dichters, das ihn von vornherein und zumeist ple_045.003
dauernd auf eine bestimmte Art der Wirkung hin und damit in eine der ple_045.004
drei Gattungen als in sein heimisches Gebiet hineindrängt, wenn es ihn ple_045.005
auch nicht ganz und gar darauf zu beschränken pflegt. Von Einfluß ist ple_045.006
aber auch die Richtung des Gefühls und der vom Gefühl bestimmten Anschauungsweise, ple_045.007
die der Dichter in seinen Schöpfungen zum Ausdruck ple_045.008
bringen will.
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Diese Richtung der künstlerischen Intention ist überhaupt das ple_045.010
wesentlichste Lebenselement jeder Dichtung. Ob sie zu tragischer oder ple_045.011
humoristischer Lebensauffassung, zu naturalistischer oder idealisierter Wiedergabe ple_045.012
der Wirklichkeit führt, ist für den Charakter der Dichtung das eigentlich ple_045.013
Entscheidende, und wenn sie auch für die Wahl der Gattung nicht ple_045.014
den Ausschlag gibt — hier kommen, wie gesagt, andere ebenso ursprüngliche ple_045.015
Anlagen der Phantasietätigkeit zur Geltung —, so bestimmt sie doch ple_045.016
die Darstellung im ganzen, insbesondere die sprachliche, oft auch die ple_045.017
metrische Gestaltung.
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Wenn z. B. von zwei Dichtern der eine den Stoff der Jungfrau von ple_045.019
Orleans im Epos, der andere ihn im Drama behandelt, so ist das zunächst ple_045.020
ein Unterschied der äußeren Darstellungsart, der Gattung. Sehen wir nun ple_045.021
aber weiter, daß der erstere den Stoff satirisch, der andere ihn sentimentalisch-heroisch ple_045.022
auffaßt, so zeigt sich uns offenbar eine weit tiefer ple_045.023
greifende Verschiedenheit der Konzeptionen. Beide Unterschiede fallen ple_045.024
nicht zusammen, ja, sie sind nicht einmal unmittelbar abhängig voneinander: ple_045.025
es wäre möglich, einen und denselben Stoff in einem heroischen Epos und ple_045.026
in einem satirischen Drama zu behandeln, wie etwa Homer und Shakespeare ple_045.027
die Geschichte des Troilus behandelt haben. Und doch ist es deutlich, ple_045.028
daß die Auffassung des Stoffes auch die Wahl der Kunstgattung bei ple_045.029
Voltaire und Schiller beeinflußt hat. Weit tiefer freilich hat die Verschiedenheit ple_045.030
der Grundauffassung auf die Art der Darstellung und Stoffgestaltung ple_045.031
im einzelnen eingewirkt, auf die Art zu charakterisieren, die Sprache und, ple_045.032
bei Schiller wenigstens, auf das Metrum. Die satirische und die tragische ple_045.033
Richtung der Poesie treten hier in ihrer grundlegenden Bedeutung ple_045.034
als Typen der poetischen Auffassung hervor. Wir können daher sie und ple_045.035
ihresgleichen den Typen der Darstellung, den Gattungen der Poesie ple_045.036
zur Seite stellen.
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Diese Richtung eines Dichtwerks hängt offenbar von der Gefühls- ple_045.038
und Anschauungsweise ab, mit welcher der Dichter seinen Stoff ergriffen ple_045.039
und erfüllt hat, sie steht in innigster Beziehung zu dem Gedanken- und ple_045.040
Empfindungsgehalt des Gedichtes. Dieser nun ist seinerseits nichts als ple_045.041
ein Ausfluß der gesamten individuell oder auch national bestimmten Weltanschauung ple_045.042
des Dichters und als solcher auch an sich genommen von ple_045.043
Interesse und Wert für die wissenschaftliche Betrachtung. Denn der Dichter,
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