Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_046.001 1) ple_046.039
Einen Ansatz dazu bilden z. B. die Untersuchungen über die geschichtliche Entwickelung ple_046.040 des Naturgefühls, wie sie sich in Jak. Burkhardts Kultur der Renaissance (4. Abschn. ple_046.041 Kap. 3) und in Friedlaenders Sittengeschichte Roms (Bd. I Kap. 1) finden. In zusammentragender ple_046.042 Darstellung hat Alfr. Biese die Entwickelung des Naturgefühls im ple_046.043 Mittelalter und der Neuzeit (Leipzig 1888) gebracht. ple_046.001 1) ple_046.039
Einen Ansatz dazu bilden z. B. die Untersuchungen über die geschichtliche Entwickelung ple_046.040 des Naturgefühls, wie sie sich in Jak. Burkhardts Kultur der Renaissance (4. Abschn. ple_046.041 Kap. 3) und in Friedlaenders Sittengeschichte Roms (Bd. I Kap. 1) finden. In zusammentragender ple_046.042 Darstellung hat Alfr. Biese die Entwickelung des Naturgefühls im ple_046.043 Mittelalter und der Neuzeit (Leipzig 1888) gebracht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0060" n="46"/><lb n="ple_046.001"/> der mit und in seinem Volke lebt, erlebt in sich das, was Zeit und Volk <lb n="ple_046.002"/> bewegt. Er erlebt es stärker und inniger, eben weil sein Gefühl tiefer <lb n="ple_046.003"/> und kraftvoller ist als das seiner Mitmenschen, und er bringt es zum <lb n="ple_046.004"/> klareren Ausdruck, als diese es vermögen, weil ihm die Gewalt der Sprache <lb n="ple_046.005"/> verliehen ist, die Gabe, das in Worte zu fassen, was sie nur dunkel fühlen. <lb n="ple_046.006"/> Daher ist es gewiß eine große und lohnende Aufgabe, der Empfindungsweise <lb n="ple_046.007"/> und der Gedankenwelt der Dichter verschiedener Epochen nachzugehen, <lb n="ple_046.008"/> die charakteristischen Richtungen ihres Gefühlslebens, die bedeutendsten <lb n="ple_046.009"/> und lebenskräftigsten Ideen, die sie bewegen, herauszuheben <lb n="ple_046.010"/> und ihren Weg durch die Poesie der verschiedenen Epochen und Völker <lb n="ple_046.011"/> hindurch zu verfolgen, weit fruchtbarer als jenes vergleichende Verfolgen <lb n="ple_046.012"/> der Stoffe und Motive jemals werden kann. Denn hier treten wirkliche <lb n="ple_046.013"/> Zusammenhänge innerer Natur zutage. Die großen Ideen der Menschheit <lb n="ple_046.014"/> zeigen sich in ihrer Lebenskraft, die ewigen Gefühle, um ein Goethesches <lb n="ple_046.015"/> Wort zu gebrauchen, in ihren zeitlichen Erscheinungsformen und in ihrer <lb n="ple_046.016"/> zeitlosen Dauer. Doch kommt das, was hierdurch geleistet wird, offenbar <lb n="ple_046.017"/> mehr der allgemeinen Geistesgeschichte als der eigentlich künstlerischen <lb n="ple_046.018"/> Betrachtung oder der ästhetischen Einsicht zugute. Es wäre gewiß zu <lb n="ple_046.019"/> wünschen, daß die leider noch spärlichen Untersuchungen dieser Art häufiger <lb n="ple_046.020"/> würden, und daß sich allmählich tiefer eindringende und sicherere <lb n="ple_046.021"/> psychologische Methoden herausbildeten: ein weites Feld eröffnet sich hier. <lb n="ple_046.022"/> Wirklich wissenschaftliche Untersuchungen über die geschichtlichen Formen <lb n="ple_046.023"/> der Liebe oder der Freundschaft und manches ähnliche bleiben eine dringliche <lb n="ple_046.024"/> und lohnende Aufgabe.<note xml:id="ple_046_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_046.039"/> Einen Ansatz dazu bilden z. B. die Untersuchungen über die geschichtliche Entwickelung <lb n="ple_046.040"/> des Naturgefühls, wie sie sich in Jak. Burkhardts Kultur der Renaissance (4. Abschn. <lb n="ple_046.041"/> Kap. 3) und in Friedlaenders Sittengeschichte Roms (Bd. I Kap. 1) finden. In zusammentragender <lb n="ple_046.042"/> Darstellung hat <hi rendition="#g">Alfr. Biese die Entwickelung des Naturgefühls</hi> im <lb n="ple_046.043"/> Mittelalter und der Neuzeit (Leipzig 1888) gebracht.</note> Aber es ist klar, daß alle solche Arbeiten <lb n="ple_046.025"/> die Dichtung nur als Quelle benutzen und, selbst wenn sie ausschließlich <lb n="ple_046.026"/> aus dieser Quelle schöpfen, nicht für das künstlerische Verständnis selbst <lb n="ple_046.027"/> arbeiten. Sie stehen ganz auf derselben Linie wie etwa die vergleichende <lb n="ple_046.028"/> Religionsgeschichte, die ja auch die Poesie als eine Hauptquelle heranziehen <lb n="ple_046.029"/> muß. Das Fühlen und Denken des Dichters erscheint hier nur als <lb n="ple_046.030"/> der zugänglichste und faßbarste Typus des allgemein menschlichen oder <lb n="ple_046.031"/> auch nationalen Denkens und Empfindens, das aus keiner anderen Quelle <lb n="ple_046.032"/> mit gleicher Sicherheit erschlossen werden kann. Daher werden solche <lb n="ple_046.033"/> Untersuchungen Typen des Seelenlebens und der geistigen Bewegung feststellen <lb n="ple_046.034"/> können, nicht aber Typen und Gesetze der Dichtung. Die Poetik <lb n="ple_046.035"/> wird ihre Ergebnisse im einzelnen heranziehen und benutzen, aber zu <lb n="ple_046.036"/> ihren eigenen Aufgaben gehört weder die geschichtliche Behandlung noch <lb n="ple_046.037"/> die systematische Klassifizierung solcher Ideen und Empfindungen. Das <lb n="ple_046.038"/> Wesen der Poesie wie jeder Kunst liegt nicht in den Inhalten, die sie überliefern </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [46/0060]
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der mit und in seinem Volke lebt, erlebt in sich das, was Zeit und Volk ple_046.002
bewegt. Er erlebt es stärker und inniger, eben weil sein Gefühl tiefer ple_046.003
und kraftvoller ist als das seiner Mitmenschen, und er bringt es zum ple_046.004
klareren Ausdruck, als diese es vermögen, weil ihm die Gewalt der Sprache ple_046.005
verliehen ist, die Gabe, das in Worte zu fassen, was sie nur dunkel fühlen. ple_046.006
Daher ist es gewiß eine große und lohnende Aufgabe, der Empfindungsweise ple_046.007
und der Gedankenwelt der Dichter verschiedener Epochen nachzugehen, ple_046.008
die charakteristischen Richtungen ihres Gefühlslebens, die bedeutendsten ple_046.009
und lebenskräftigsten Ideen, die sie bewegen, herauszuheben ple_046.010
und ihren Weg durch die Poesie der verschiedenen Epochen und Völker ple_046.011
hindurch zu verfolgen, weit fruchtbarer als jenes vergleichende Verfolgen ple_046.012
der Stoffe und Motive jemals werden kann. Denn hier treten wirkliche ple_046.013
Zusammenhänge innerer Natur zutage. Die großen Ideen der Menschheit ple_046.014
zeigen sich in ihrer Lebenskraft, die ewigen Gefühle, um ein Goethesches ple_046.015
Wort zu gebrauchen, in ihren zeitlichen Erscheinungsformen und in ihrer ple_046.016
zeitlosen Dauer. Doch kommt das, was hierdurch geleistet wird, offenbar ple_046.017
mehr der allgemeinen Geistesgeschichte als der eigentlich künstlerischen ple_046.018
Betrachtung oder der ästhetischen Einsicht zugute. Es wäre gewiß zu ple_046.019
wünschen, daß die leider noch spärlichen Untersuchungen dieser Art häufiger ple_046.020
würden, und daß sich allmählich tiefer eindringende und sicherere ple_046.021
psychologische Methoden herausbildeten: ein weites Feld eröffnet sich hier. ple_046.022
Wirklich wissenschaftliche Untersuchungen über die geschichtlichen Formen ple_046.023
der Liebe oder der Freundschaft und manches ähnliche bleiben eine dringliche ple_046.024
und lohnende Aufgabe. 1) Aber es ist klar, daß alle solche Arbeiten ple_046.025
die Dichtung nur als Quelle benutzen und, selbst wenn sie ausschließlich ple_046.026
aus dieser Quelle schöpfen, nicht für das künstlerische Verständnis selbst ple_046.027
arbeiten. Sie stehen ganz auf derselben Linie wie etwa die vergleichende ple_046.028
Religionsgeschichte, die ja auch die Poesie als eine Hauptquelle heranziehen ple_046.029
muß. Das Fühlen und Denken des Dichters erscheint hier nur als ple_046.030
der zugänglichste und faßbarste Typus des allgemein menschlichen oder ple_046.031
auch nationalen Denkens und Empfindens, das aus keiner anderen Quelle ple_046.032
mit gleicher Sicherheit erschlossen werden kann. Daher werden solche ple_046.033
Untersuchungen Typen des Seelenlebens und der geistigen Bewegung feststellen ple_046.034
können, nicht aber Typen und Gesetze der Dichtung. Die Poetik ple_046.035
wird ihre Ergebnisse im einzelnen heranziehen und benutzen, aber zu ple_046.036
ihren eigenen Aufgaben gehört weder die geschichtliche Behandlung noch ple_046.037
die systematische Klassifizierung solcher Ideen und Empfindungen. Das ple_046.038
Wesen der Poesie wie jeder Kunst liegt nicht in den Inhalten, die sie überliefern
1) ple_046.039
Einen Ansatz dazu bilden z. B. die Untersuchungen über die geschichtliche Entwickelung ple_046.040
des Naturgefühls, wie sie sich in Jak. Burkhardts Kultur der Renaissance (4. Abschn. ple_046.041
Kap. 3) und in Friedlaenders Sittengeschichte Roms (Bd. I Kap. 1) finden. In zusammentragender ple_046.042
Darstellung hat Alfr. Biese die Entwickelung des Naturgefühls im ple_046.043
Mittelalter und der Neuzeit (Leipzig 1888) gebracht.
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