Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_034.001 1) ple_034.037
Die Verwandtschaft des dichterischen Schaffens mit dem Traumleben hat Carl ple_034.038 du Prel besonders betont (Psychologie der Lyrik, Beiträge zur Analyse der dichterischen ple_034.039 Phantasie, Leipzig 1879). Er bringt in den ersten Abschnitten manche interessante Beobachtung ple_034.040 und viel fleißig zusammengetragenes Material. Doch ist seine Tendenz durchaus ple_034.041 aufs Metaphysische gerichtet, und charakteristisch sind Wendungen wie die: "Der Traum ple_034.042 ist ohne Zweifel ein potenziertes Seelenleben"; wodurch denn die wissenschaftliche Bedeutung ple_034.043 des Buches stark beeinträchtigt wird. ple_034.001 1) ple_034.037
Die Verwandtschaft des dichterischen Schaffens mit dem Traumleben hat Carl ple_034.038 du Prel besonders betont (Psychologie der Lyrik, Beiträge zur Analyse der dichterischen ple_034.039 Phantasie, Leipzig 1879). Er bringt in den ersten Abschnitten manche interessante Beobachtung ple_034.040 und viel fleißig zusammengetragenes Material. Doch ist seine Tendenz durchaus ple_034.041 aufs Metaphysische gerichtet, und charakteristisch sind Wendungen wie die: „Der Traum ple_034.042 ist ohne Zweifel ein potenziertes Seelenleben“; wodurch denn die wissenschaftliche Bedeutung ple_034.043 des Buches stark beeinträchtigt wird. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0048" n="34"/><lb n="ple_034.001"/> nur durch die Rücksicht auf ein Publikum, sei es, daß dem Dichter, wie <lb n="ple_034.002"/> Schiller, eine ganze Nation, sei es, daß ihm, wie Goethe, nur einzelne <lb n="ple_034.003"/> Hörer, ein Freund, die Geliebte, vorschweben. Eine seltsame, ja paradoxe <lb n="ple_034.004"/> Tatsache! Die Dichtung und ihre Form wachsen organisch aus der Konzeption <lb n="ple_034.005"/> hervor, und doch ist dies Wachstum nicht zu verstehen, ja nicht <lb n="ple_034.006"/> einmal zu denken ohne den natürlichen Drang des Dichters, sein inneres <lb n="ple_034.007"/> Schauen und Hören anderen zugänglich zu machen. Die Charaktere, die <lb n="ple_034.008"/> er schafft, leben ihr eigenes Leben; aber sie zeigen nur so viel davon, als <lb n="ple_034.009"/> es nötig ist, um dieses Leben Zuschauern zum Verständnis zu bringen. <lb n="ple_034.010"/> Die Verse, die er formt, scheinen ganz in sich selbst zu ruhen, und doch <lb n="ple_034.011"/> sind sie für die Stimme des Sängers, des Vorlesers geschaffen, der sie <lb n="ple_034.012"/> anderen zu Gehör bringen soll. Dieser ganze Prozeß nun aber ist so <lb n="ple_034.013"/> wenig durchsichtig, so vielfältig verwickelt, daß die heutige Psychologie <lb n="ple_034.014"/> mit den Mitteln, die ihr zu Gebote stehen, nicht daran denken kann, ihn <lb n="ple_034.015"/> auf ein einfaches Schema zurückzuführen und auf diese Weise verständlich <lb n="ple_034.016"/> zu machen. Und am wenigsten reichen die assoziativen Vorgänge, die <lb n="ple_034.017"/> der schaffenden Arbeit vorhergehen und den Stoff für sie bilden, aus, um <lb n="ple_034.018"/> die produktive Tätigkeit selbst zu erklären, ebensowenig wie man auf <lb n="ple_034.019"/> dem Gebiete des Willenslebens überhaupt mit der Zurückführung auf Assoziationsprozesse <lb n="ple_034.020"/> durchkommt, was nur eine rationalistisch einseitige Psychologie <lb n="ple_034.021"/> für erreichbar hielt. Ohne Willenstätigkeit ist eine schöpferische <lb n="ple_034.022"/> Phantasie ebenso wenig denkbar, wie der schöpferische Wille eines großen <lb n="ple_034.023"/> Staatsmanns oder Feldherrn ohne Phantasie denkbar ist. Alle Versuche <lb n="ple_034.024"/> also, der Psychologie des dichterischen Schaffens durch die Untersuchung <lb n="ple_034.025"/> der dichterischen Assoziationen und ihrer Entstehung beizukommen, bleiben <lb n="ple_034.026"/> notgedrungen einseitig und an der Außenfläche. Und alle noch so geistvollen <lb n="ple_034.027"/> und scharfsinnigen Betrachtungen oder Untersuchungen über die <lb n="ple_034.028"/> Verwandtschaft der Dichterphantasie mit Traum und Wahnsinn liefern nur <lb n="ple_034.029"/> Analogien, die den Kern der verglichenen Vorgänge nicht erreichen; denn <lb n="ple_034.030"/> der schöpferisch gestaltende Wille des Dichters hat weder im Traum noch <lb n="ple_034.031"/> im Wahnsinn seinesgleichen.<note xml:id="ple_034_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_034.037"/> Die Verwandtschaft des dichterischen Schaffens mit dem Traumleben hat <hi rendition="#k">Carl <lb n="ple_034.038"/> du Prel</hi> besonders betont (Psychologie der Lyrik, Beiträge zur Analyse der dichterischen <lb n="ple_034.039"/> Phantasie, Leipzig 1879). Er bringt in den ersten Abschnitten manche interessante Beobachtung <lb n="ple_034.040"/> und viel fleißig zusammengetragenes Material. Doch ist seine Tendenz durchaus <lb n="ple_034.041"/> aufs Metaphysische gerichtet, und charakteristisch sind Wendungen wie die: „Der Traum <lb n="ple_034.042"/> ist ohne Zweifel ein potenziertes Seelenleben“; wodurch denn die wissenschaftliche Bedeutung <lb n="ple_034.043"/> des Buches stark beeinträchtigt wird.</note> Gewiß, auch solche Untersuchungen haben <lb n="ple_034.032"/> innerhalb ihrer Schranken wissenschaftlichen Wert: sie lehren uns Assoziationsmöglichkeiten <lb n="ple_034.033"/> und Phantasiefunktionen kennen. Aber zu einer wissenschaftlichen <lb n="ple_034.034"/> Einsicht in die Psychologie des dichterischen Schaffens wird <lb n="ple_034.035"/> man niemals gelangen können, solange man genötigt ist, die Willenstätigkeit <lb n="ple_034.036"/> und die Komplikationen, die sich hieraus ergeben, auszuschalten.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [34/0048]
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nur durch die Rücksicht auf ein Publikum, sei es, daß dem Dichter, wie ple_034.002
Schiller, eine ganze Nation, sei es, daß ihm, wie Goethe, nur einzelne ple_034.003
Hörer, ein Freund, die Geliebte, vorschweben. Eine seltsame, ja paradoxe ple_034.004
Tatsache! Die Dichtung und ihre Form wachsen organisch aus der Konzeption ple_034.005
hervor, und doch ist dies Wachstum nicht zu verstehen, ja nicht ple_034.006
einmal zu denken ohne den natürlichen Drang des Dichters, sein inneres ple_034.007
Schauen und Hören anderen zugänglich zu machen. Die Charaktere, die ple_034.008
er schafft, leben ihr eigenes Leben; aber sie zeigen nur so viel davon, als ple_034.009
es nötig ist, um dieses Leben Zuschauern zum Verständnis zu bringen. ple_034.010
Die Verse, die er formt, scheinen ganz in sich selbst zu ruhen, und doch ple_034.011
sind sie für die Stimme des Sängers, des Vorlesers geschaffen, der sie ple_034.012
anderen zu Gehör bringen soll. Dieser ganze Prozeß nun aber ist so ple_034.013
wenig durchsichtig, so vielfältig verwickelt, daß die heutige Psychologie ple_034.014
mit den Mitteln, die ihr zu Gebote stehen, nicht daran denken kann, ihn ple_034.015
auf ein einfaches Schema zurückzuführen und auf diese Weise verständlich ple_034.016
zu machen. Und am wenigsten reichen die assoziativen Vorgänge, die ple_034.017
der schaffenden Arbeit vorhergehen und den Stoff für sie bilden, aus, um ple_034.018
die produktive Tätigkeit selbst zu erklären, ebensowenig wie man auf ple_034.019
dem Gebiete des Willenslebens überhaupt mit der Zurückführung auf Assoziationsprozesse ple_034.020
durchkommt, was nur eine rationalistisch einseitige Psychologie ple_034.021
für erreichbar hielt. Ohne Willenstätigkeit ist eine schöpferische ple_034.022
Phantasie ebenso wenig denkbar, wie der schöpferische Wille eines großen ple_034.023
Staatsmanns oder Feldherrn ohne Phantasie denkbar ist. Alle Versuche ple_034.024
also, der Psychologie des dichterischen Schaffens durch die Untersuchung ple_034.025
der dichterischen Assoziationen und ihrer Entstehung beizukommen, bleiben ple_034.026
notgedrungen einseitig und an der Außenfläche. Und alle noch so geistvollen ple_034.027
und scharfsinnigen Betrachtungen oder Untersuchungen über die ple_034.028
Verwandtschaft der Dichterphantasie mit Traum und Wahnsinn liefern nur ple_034.029
Analogien, die den Kern der verglichenen Vorgänge nicht erreichen; denn ple_034.030
der schöpferisch gestaltende Wille des Dichters hat weder im Traum noch ple_034.031
im Wahnsinn seinesgleichen. 1) Gewiß, auch solche Untersuchungen haben ple_034.032
innerhalb ihrer Schranken wissenschaftlichen Wert: sie lehren uns Assoziationsmöglichkeiten ple_034.033
und Phantasiefunktionen kennen. Aber zu einer wissenschaftlichen ple_034.034
Einsicht in die Psychologie des dichterischen Schaffens wird ple_034.035
man niemals gelangen können, solange man genötigt ist, die Willenstätigkeit ple_034.036
und die Komplikationen, die sich hieraus ergeben, auszuschalten.
1) ple_034.037
Die Verwandtschaft des dichterischen Schaffens mit dem Traumleben hat Carl ple_034.038
du Prel besonders betont (Psychologie der Lyrik, Beiträge zur Analyse der dichterischen ple_034.039
Phantasie, Leipzig 1879). Er bringt in den ersten Abschnitten manche interessante Beobachtung ple_034.040
und viel fleißig zusammengetragenes Material. Doch ist seine Tendenz durchaus ple_034.041
aufs Metaphysische gerichtet, und charakteristisch sind Wendungen wie die: „Der Traum ple_034.042
ist ohne Zweifel ein potenziertes Seelenleben“; wodurch denn die wissenschaftliche Bedeutung ple_034.043
des Buches stark beeinträchtigt wird.
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