Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_033.001 ple_033.014 ple_033.001 ple_033.014 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0047" n="33"/><lb n="ple_033.001"/> setzt so gut wie ein Gemälde, eine Bildhauerarbeit, eine schöpferische <lb n="ple_033.002"/> Tätigkeit voraus, an der Wille und Kraftanspannung einen zum wenigsten <lb n="ple_033.003"/> nicht geringeren Anteil haben als die Assoziationen, durch welche die <lb n="ple_033.004"/> Phantasie befruchtet wird. Ein gelegentlicher Einfall, ein kleines lyrisches <lb n="ple_033.005"/> oder auch episches Gedicht, das unmittelbar den Eindruck widerspiegelt, <lb n="ple_033.006"/> dem es seine Entstehung verdankt, ist wohl ohne eine solche Tätigkeit <lb n="ple_033.007"/> denkbar und kann gleichwohl bei einem genialen Dichter bisweilen eine <lb n="ple_033.008"/> hohe Vollendung zeigen, wie das bei einigen Gedichten Goethes, z. B. <lb n="ple_033.009"/> den Nachtliedern des Wanderers, schon im ersten Entwurf der Fall ist. <lb n="ple_033.010"/> Jede größere Dichtung aber, die einen weiteren Zusammenhang von <lb n="ple_033.011"/> Empfindungen und Gedanken zum Ausdruck bringt, ist ihrer Entstehung <lb n="ple_033.012"/> wie ihrem Wesen nach viel zu verwickelt, als daß eine so einfache Erklärungsweise <lb n="ple_033.013"/> nicht unzulänglich, ja naiv erscheinen sollte.</p> <p><lb n="ple_033.014"/> Die genetische Erklärung eines solchen Dichtwerks wird daher zunächst <lb n="ple_033.015"/> zwischen der Konzeption und der Ausführung als den beiden wesentlichen <lb n="ple_033.016"/> Phasen des dichterischen Prozesses zu scheiden haben. Die Konzeption <lb n="ple_033.017"/> ist ein Moment seliger Empfängnis; so wenigstens schildern sie <lb n="ple_033.018"/> fast übereinstimmend die Dichter selbst: der Gedanke dessen, was werden <lb n="ple_033.019"/> soll, steht plötzlich wie ein fertiges „Bild vor dem entzückten Blick“ des <lb n="ple_033.020"/> Künstlers. Dieser Gedanke erscheint ihm nicht als ein lockeres assoziatives <lb n="ple_033.021"/> Gebilde, sondern als eine durchaus einheitliche Gesamtanschauung, <lb n="ple_033.022"/> in welcher er das Ganze des Werks, das in seiner Seele entsteht, intuitiv <lb n="ple_033.023"/> erblickt und überschaut. Hiermit aber verbindet sich nun die bestimmte <lb n="ple_033.024"/> künstlerische Absicht, den Gegenstand dieser Intuition objektiv darzustellen: <lb n="ple_033.025"/> der Dichter will das, was ihm lebendig und anschaulich vor der Seele <lb n="ple_033.026"/> steht, anderen ebenso anschaulich und lebendig machen. Hierzu bedarf <lb n="ple_033.027"/> er der Formen und Ausdrucksmittel seiner Kunst. Diese Absicht bildet <lb n="ple_033.028"/> das gestaltende Prinzip der Dichtkunst im Ganzen und in den Einzelheiten, <lb n="ple_033.029"/> und eben diese Gestaltung ist es, was wir künstlerische oder bildende <lb n="ple_033.030"/> Tätigkeit nennen und was die dichterische Kraft und Gabe von dem bloßen <lb n="ple_033.031"/> Spiel einer träumenden Einbildung unterscheidet, deren auch viele Nichtdichter <lb n="ple_033.032"/> fähig sind. Wenn also die erste Konzeption als ein passives Geschehen <lb n="ple_033.033"/> in der Seele des Dichters erscheint, so liegt in der Ausführung <lb n="ple_033.034"/> stets ein aktives Moment. Ist die Konzeption nichts als ein Erlebnis der <lb n="ple_033.035"/> Phantasie, so beruht die Ausführung auf einer planvollen Tätigkeit, in welcher <lb n="ple_033.036"/> Willensakte und assoziative Vorgänge beständig ineinander greifen; zahllose <lb n="ple_033.037"/> Willensakte, die doch eine einheitliche Zwecksetzung regiert, vielfältige Assoziationen, <lb n="ple_033.038"/> welche eben hierdurch wie an unsichtbaren Fäden gelenkt werden. <lb n="ple_033.039"/> Das künstlerische Schaffen ist eine <hi rendition="#g">Arbeit,</hi> die, wie wir aus zahlreichen, in <lb n="ple_033.040"/> diesem Punkte gewiß vollgültigen Zeugnissen wissen, vom Künstler als <lb n="ple_033.041"/> Mühe, bisweilen als Pein empfunden wird, — sehr im Gegensatz zu dem <lb n="ple_033.042"/> stillen Behagen der träumerischen Phantasie oder der gewaltig erregenden <lb n="ple_033.043"/> Wollust der ersten Konzeption. Diese Arbeit empfängt Sinn und Zweck </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [33/0047]
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setzt so gut wie ein Gemälde, eine Bildhauerarbeit, eine schöpferische ple_033.002
Tätigkeit voraus, an der Wille und Kraftanspannung einen zum wenigsten ple_033.003
nicht geringeren Anteil haben als die Assoziationen, durch welche die ple_033.004
Phantasie befruchtet wird. Ein gelegentlicher Einfall, ein kleines lyrisches ple_033.005
oder auch episches Gedicht, das unmittelbar den Eindruck widerspiegelt, ple_033.006
dem es seine Entstehung verdankt, ist wohl ohne eine solche Tätigkeit ple_033.007
denkbar und kann gleichwohl bei einem genialen Dichter bisweilen eine ple_033.008
hohe Vollendung zeigen, wie das bei einigen Gedichten Goethes, z. B. ple_033.009
den Nachtliedern des Wanderers, schon im ersten Entwurf der Fall ist. ple_033.010
Jede größere Dichtung aber, die einen weiteren Zusammenhang von ple_033.011
Empfindungen und Gedanken zum Ausdruck bringt, ist ihrer Entstehung ple_033.012
wie ihrem Wesen nach viel zu verwickelt, als daß eine so einfache Erklärungsweise ple_033.013
nicht unzulänglich, ja naiv erscheinen sollte.
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Die genetische Erklärung eines solchen Dichtwerks wird daher zunächst ple_033.015
zwischen der Konzeption und der Ausführung als den beiden wesentlichen ple_033.016
Phasen des dichterischen Prozesses zu scheiden haben. Die Konzeption ple_033.017
ist ein Moment seliger Empfängnis; so wenigstens schildern sie ple_033.018
fast übereinstimmend die Dichter selbst: der Gedanke dessen, was werden ple_033.019
soll, steht plötzlich wie ein fertiges „Bild vor dem entzückten Blick“ des ple_033.020
Künstlers. Dieser Gedanke erscheint ihm nicht als ein lockeres assoziatives ple_033.021
Gebilde, sondern als eine durchaus einheitliche Gesamtanschauung, ple_033.022
in welcher er das Ganze des Werks, das in seiner Seele entsteht, intuitiv ple_033.023
erblickt und überschaut. Hiermit aber verbindet sich nun die bestimmte ple_033.024
künstlerische Absicht, den Gegenstand dieser Intuition objektiv darzustellen: ple_033.025
der Dichter will das, was ihm lebendig und anschaulich vor der Seele ple_033.026
steht, anderen ebenso anschaulich und lebendig machen. Hierzu bedarf ple_033.027
er der Formen und Ausdrucksmittel seiner Kunst. Diese Absicht bildet ple_033.028
das gestaltende Prinzip der Dichtkunst im Ganzen und in den Einzelheiten, ple_033.029
und eben diese Gestaltung ist es, was wir künstlerische oder bildende ple_033.030
Tätigkeit nennen und was die dichterische Kraft und Gabe von dem bloßen ple_033.031
Spiel einer träumenden Einbildung unterscheidet, deren auch viele Nichtdichter ple_033.032
fähig sind. Wenn also die erste Konzeption als ein passives Geschehen ple_033.033
in der Seele des Dichters erscheint, so liegt in der Ausführung ple_033.034
stets ein aktives Moment. Ist die Konzeption nichts als ein Erlebnis der ple_033.035
Phantasie, so beruht die Ausführung auf einer planvollen Tätigkeit, in welcher ple_033.036
Willensakte und assoziative Vorgänge beständig ineinander greifen; zahllose ple_033.037
Willensakte, die doch eine einheitliche Zwecksetzung regiert, vielfältige Assoziationen, ple_033.038
welche eben hierdurch wie an unsichtbaren Fäden gelenkt werden. ple_033.039
Das künstlerische Schaffen ist eine Arbeit, die, wie wir aus zahlreichen, in ple_033.040
diesem Punkte gewiß vollgültigen Zeugnissen wissen, vom Künstler als ple_033.041
Mühe, bisweilen als Pein empfunden wird, — sehr im Gegensatz zu dem ple_033.042
stillen Behagen der träumerischen Phantasie oder der gewaltig erregenden ple_033.043
Wollust der ersten Konzeption. Diese Arbeit empfängt Sinn und Zweck
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