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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Aber auf diese geschichtliche Frage kommt es für die Poetik nicht ple_145.002
eigentlich an; weit wichtiger ist, daß der sachliche Begriff der Totalität, ple_145.003
wie er uns hier entgegentritt, offenbar auf einem seltsamen Mißverständnis ple_145.004
beruht. Die Tendenz zur allgemeinen Betrachtung des Weltgeschehens ple_145.005
ist allerdings, wie Humboldt richtig behauptet, eine Grundeigenschaft der ple_145.006
Poesie überhaupt. Überall "schiebt sich, ohne daß wir selbst es merken, ple_145.007
das Bild der Menschheit den wenigen Personen unter, die wir vor uns ple_145.008
handelnd erblicken". Aber dieser Zug geht nicht ins räumlich oder sonstwie ple_145.009
quantitativ Universelle, er trifft in keiner Weise den "Umfang der Objekte", ple_145.010
die uns der Dichter vorführt. Vielmehr das ist der Charakter dichterischer ple_145.011
Betrachtung, daß sie uns im Einzelnen das Allgemeine, in wenigen ple_145.012
Menschen und Handlungen das Bild der Menschheit zeigt. Hierin beruht ple_145.013
insbesondere der symbolische Charakter der gegenständlichen Poesie, wie in ple_145.014
der Übereinstimmung menschlichen Wollens und Fühlens mit den Vorgängen ple_145.015
der Natur der der Lyrik, den wir im vorigen Abschnitt kennen gelernt haben. ple_145.016
Jede episch oder dramatisch dargestellte Menschengestalt wird uns zum ple_145.017
Sinnbild der Menschheit, weil sie einen oder mehrere ihrer ewig wiederkehrenden ple_145.018
Züge verkörpert. Jede dichterische Handlung interessiert uns ple_145.019
nicht bloß an sich, sondern weil wir ihren Zusammenhang mit unseren ple_145.020
Eigenschaften, mit dem allgemeinen Wollen und Streben der Menschen ple_145.021
dunkel empfinden oder deutlich sehen. Ohne diese Tiefe der Perspektive ple_145.022
gibt es keine künstlerische Wirkung. Aber es ist eine Verwirrung der Begriffe, ple_145.023
wenn man an die Stelle der Tiefe die Breite setzen will; eine Verwirrung, ple_145.024
die denn auch auf die Praxis der modernen Romandichtung mehrfach ple_145.025
schädigend gewirkt hat. Spielhagens Forderung, daß ein Roman ple_145.026
mehrere Bände umfassen müsse, ist gewiß an sich schon bedenklich. Und ple_145.027
was eine solche Anschauung bei einem ideenreichen Dichter, der aber nicht ple_145.028
im gleichen Maße wie dieser Meister der Romantechnik die Form beherrscht, ple_145.029
für beklagenswerte Folgen haben muß, sehen wir in Gutzkows großen ple_145.030
Romanen, deren Wert und Wirkung gleichmäßig durch die verwirrende ple_145.031
Ausdehnung der Handlung geschädigt ist.

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Neben der Forderung der Totalität erscheint in den meisten Theorien ple_145.033
des Epos die der Objektivität. Mit diesem Worte aber werden fast ple_145.034
durchweg zwei an sich verschiedene Begriffe zusammengeworfen: einmal ple_145.035
nämlich die positive Forderung gegenständlicher Anschaulichkeit, zweitens ple_145.036
die mehr negative, das Zurücktreten der Subjektivität des Dichters. Beides ple_145.037
fällt weder an sich noch auch für die epische Darstellung zusammen; ple_145.038
Humboldt hat daher ganz recht getan, diesen zweiten Begriff mit dem Worte ple_145.039
Unparteilichkeit -- besser wäre vielleicht noch Unpersönlichkeit -- zu bezeichnen, ple_145.040
und es ist zu bedauern, daß ihm die späteren Ästhetiker gerade ple_145.041
hierin zumeist nicht gefolgt sind.

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Was ist nun das Wesen dieser Unpersönlichkeit der Darstellung, die ple_145.043
man gleichfalls vor allem in Homers Dichtungen fand und die man, hierauf

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Aber auf diese geschichtliche Frage kommt es für die Poetik nicht ple_145.002
eigentlich an; weit wichtiger ist, daß der sachliche Begriff der Totalität, ple_145.003
wie er uns hier entgegentritt, offenbar auf einem seltsamen Mißverständnis ple_145.004
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ist allerdings, wie Humboldt richtig behauptet, eine Grundeigenschaft der ple_145.006
Poesie überhaupt. Überall „schiebt sich, ohne daß wir selbst es merken, ple_145.007
das Bild der Menschheit den wenigen Personen unter, die wir vor uns ple_145.008
handelnd erblicken“. Aber dieser Zug geht nicht ins räumlich oder sonstwie ple_145.009
quantitativ Universelle, er trifft in keiner Weise den „Umfang der Objekte“, ple_145.010
die uns der Dichter vorführt. Vielmehr das ist der Charakter dichterischer ple_145.011
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Menschen und Handlungen das Bild der Menschheit zeigt. Hierin beruht ple_145.013
insbesondere der symbolische Charakter der gegenständlichen Poesie, wie in ple_145.014
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Jede episch oder dramatisch dargestellte Menschengestalt wird uns zum ple_145.017
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nicht bloß an sich, sondern weil wir ihren Zusammenhang mit unseren ple_145.020
Eigenschaften, mit dem allgemeinen Wollen und Streben der Menschen ple_145.021
dunkel empfinden oder deutlich sehen. Ohne diese Tiefe der Perspektive ple_145.022
gibt es keine künstlerische Wirkung. Aber es ist eine Verwirrung der Begriffe, ple_145.023
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mehrere Bände umfassen müsse, ist gewiß an sich schon bedenklich. Und ple_145.027
was eine solche Anschauung bei einem ideenreichen Dichter, der aber nicht ple_145.028
im gleichen Maße wie dieser Meister der Romantechnik die Form beherrscht, ple_145.029
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Romanen, deren Wert und Wirkung gleichmäßig durch die verwirrende ple_145.031
Ausdehnung der Handlung geschädigt ist.

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Neben der Forderung der Totalität erscheint in den meisten Theorien ple_145.033
des Epos die der Objektivität. Mit diesem Worte aber werden fast ple_145.034
durchweg zwei an sich verschiedene Begriffe zusammengeworfen: einmal ple_145.035
nämlich die positive Forderung gegenständlicher Anschaulichkeit, zweitens ple_145.036
die mehr negative, das Zurücktreten der Subjektivität des Dichters. Beides ple_145.037
fällt weder an sich noch auch für die epische Darstellung zusammen; ple_145.038
Humboldt hat daher ganz recht getan, diesen zweiten Begriff mit dem Worte ple_145.039
Unparteilichkeit — besser wäre vielleicht noch Unpersönlichkeit — zu bezeichnen, ple_145.040
und es ist zu bedauern, daß ihm die späteren Ästhetiker gerade ple_145.041
hierin zumeist nicht gefolgt sind.

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[145/0159] ple_145.001 Aber auf diese geschichtliche Frage kommt es für die Poetik nicht ple_145.002 eigentlich an; weit wichtiger ist, daß der sachliche Begriff der Totalität, ple_145.003 wie er uns hier entgegentritt, offenbar auf einem seltsamen Mißverständnis ple_145.004 beruht. Die Tendenz zur allgemeinen Betrachtung des Weltgeschehens ple_145.005 ist allerdings, wie Humboldt richtig behauptet, eine Grundeigenschaft der ple_145.006 Poesie überhaupt. Überall „schiebt sich, ohne daß wir selbst es merken, ple_145.007 das Bild der Menschheit den wenigen Personen unter, die wir vor uns ple_145.008 handelnd erblicken“. Aber dieser Zug geht nicht ins räumlich oder sonstwie ple_145.009 quantitativ Universelle, er trifft in keiner Weise den „Umfang der Objekte“, ple_145.010 die uns der Dichter vorführt. Vielmehr das ist der Charakter dichterischer ple_145.011 Betrachtung, daß sie uns im Einzelnen das Allgemeine, in wenigen ple_145.012 Menschen und Handlungen das Bild der Menschheit zeigt. Hierin beruht ple_145.013 insbesondere der symbolische Charakter der gegenständlichen Poesie, wie in ple_145.014 der Übereinstimmung menschlichen Wollens und Fühlens mit den Vorgängen ple_145.015 der Natur der der Lyrik, den wir im vorigen Abschnitt kennen gelernt haben. ple_145.016 Jede episch oder dramatisch dargestellte Menschengestalt wird uns zum ple_145.017 Sinnbild der Menschheit, weil sie einen oder mehrere ihrer ewig wiederkehrenden ple_145.018 Züge verkörpert. Jede dichterische Handlung interessiert uns ple_145.019 nicht bloß an sich, sondern weil wir ihren Zusammenhang mit unseren ple_145.020 Eigenschaften, mit dem allgemeinen Wollen und Streben der Menschen ple_145.021 dunkel empfinden oder deutlich sehen. Ohne diese Tiefe der Perspektive ple_145.022 gibt es keine künstlerische Wirkung. Aber es ist eine Verwirrung der Begriffe, ple_145.023 wenn man an die Stelle der Tiefe die Breite setzen will; eine Verwirrung, ple_145.024 die denn auch auf die Praxis der modernen Romandichtung mehrfach ple_145.025 schädigend gewirkt hat. Spielhagens Forderung, daß ein Roman ple_145.026 mehrere Bände umfassen müsse, ist gewiß an sich schon bedenklich. Und ple_145.027 was eine solche Anschauung bei einem ideenreichen Dichter, der aber nicht ple_145.028 im gleichen Maße wie dieser Meister der Romantechnik die Form beherrscht, ple_145.029 für beklagenswerte Folgen haben muß, sehen wir in Gutzkows großen ple_145.030 Romanen, deren Wert und Wirkung gleichmäßig durch die verwirrende ple_145.031 Ausdehnung der Handlung geschädigt ist. ple_145.032 Neben der Forderung der Totalität erscheint in den meisten Theorien ple_145.033 des Epos die der Objektivität. Mit diesem Worte aber werden fast ple_145.034 durchweg zwei an sich verschiedene Begriffe zusammengeworfen: einmal ple_145.035 nämlich die positive Forderung gegenständlicher Anschaulichkeit, zweitens ple_145.036 die mehr negative, das Zurücktreten der Subjektivität des Dichters. Beides ple_145.037 fällt weder an sich noch auch für die epische Darstellung zusammen; ple_145.038 Humboldt hat daher ganz recht getan, diesen zweiten Begriff mit dem Worte ple_145.039 Unparteilichkeit — besser wäre vielleicht noch Unpersönlichkeit — zu bezeichnen, ple_145.040 und es ist zu bedauern, daß ihm die späteren Ästhetiker gerade ple_145.041 hierin zumeist nicht gefolgt sind. ple_145.042 Was ist nun das Wesen dieser Unpersönlichkeit der Darstellung, die ple_145.043 man gleichfalls vor allem in Homers Dichtungen fand und die man, hierauf

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/159>, abgerufen am 22.11.2024.