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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Versöhnung, nicht in Niederlage und Verzweiflung endigen. Denn sonst ple_144.002
wird die Ruhe aufgehoben, welche die erste Bedingung jenes rein beschauenden ple_144.003
Zustandes ist." (S. 231 f.) Hier ist es eigentlich nur der Schluß ple_144.004
der Odyssee, der die Unterlage gibt. Schon auf die Ilias paßt die Behauptung ple_144.005
nur gezwungen, und das Nibelungenlied ist überhaupt noch nicht ple_144.006
in den Gesichtskreis Humboldts getreten.

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Auch Friedrich Schlegel leitet aus dem Vorbild Homers ebensowohl ple_144.008
wie aus allgemeinen Spekulationen die universelle Tendenz der epischen ple_144.009
Poesie ab. "Ist der Umfang der epischen Dichtart durchaus unbegrenzt, ple_144.010
so darf es einem Dichter oder einer Dichterschule dieser Gattung nur nicht ple_144.011
an Raum und Zeit fehlen; und die stetige Erzählung wird nicht eher aufhören, ple_144.012
als bis der Stoff erschöpft und eine ungefähr vollständige Ansicht ple_144.013
der ganzen umgebenden Welt vollendet
ist, etwa wie sie die ple_144.014
homerische Poesie gewährt." (Fr. v. Schlegels Ges. Werke. Wien 1846. ple_144.015
III. S. 93.) Schon für ihn wird das Wesen des modernen Romans wie der ple_144.016
romantischen Dichtung überhaupt durch diese Tendenz einer "progressiven ple_144.017
Universalpoesie" bestimmt. Aber auch noch bei dem so viel nüchterneren ple_144.018
und historisch geklärteren Spielhagen lautet der erste der "Fundamentalsätze ple_144.019
der Theorie der epischen Dichtkunst", daß, "in notwendiger Folge ple_144.020
der der epischen Phantasie immanenten, ruhelosen Tendenz nach größtmöglicher ple_144.021
Ausdehnung des Horizontes, ihr Objekt nichts Geringeres als ple_144.022
die Welt und somit das -- gleichviel, ob ihm bewußte oder unbewußte -- ple_144.023
Streben des epischen Dichters ist, ein Weltbild zu geben". (Beiträge S. 133.)

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Es wäre unschwer zu zeigen, daß diese Auffassung schon geschichtlich ple_144.025
auf die homerischen Gedichte nicht zutrifft. Sie ziehen freilich die ple_144.026
Welt der Götter und gelegentlich auch die der Toten in ihre Erzählung, ple_144.027
aber nur soweit das durch die religiösen Anschauungen des Dichters ple_144.028
vom Einfluß dieser Mächte auf das Leben der Menschen notwendig gemacht ple_144.029
wird, und ganz ohne den Anspruch, ein umfassendes Bild der ple_144.030
Götterwelt in die Darstellung hineinzuziehen. Aber auch nur ein Bild ple_144.031
der Menschheit im ganzen Umkreis ihrer Lebenstätigkeit und ihrer Zustände ple_144.032
zu geben, hat dem Dichter offenbar völlig fern gelegen. Die Handlung ple_144.033
der Ilias spielt sich ausschließlich in den aristokratischen Kreisen der ple_144.034
Fürsten und ihrer nächsten Umgebung ab. Nicht einmal um den Zustand ple_144.035
ihrer Krieger kümmert sich der Dichter; nur in allgemeinen Zügen wird ple_144.036
die Stimmung des Heeres gelegentlich gekennzeichnet. Noch enger ist, ple_144.037
wenn man von der Wundersphäre der Märchenerzählungen absieht, der ple_144.038
Kreis, in dem sich die Handlung der Odyssee bewegt. Und nicht anders ple_144.039
hält sich das Nibelungenlied ausschließlich in dem engen Umkreis höfischen ple_144.040
Fürstentums und seines Adels. Man könnte in der Tat mit mehr Recht jene ple_144.041
Behauptung umkehren und die Einschränkung des Schauplatzes wie der ple_144.042
Handlung auf die Höhe der Menschheit oder der Gesellschaft als charakteristische ple_144.043
Eigenschaft der Epopöe betrachten.

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Versöhnung, nicht in Niederlage und Verzweiflung endigen. Denn sonst ple_144.002
wird die Ruhe aufgehoben, welche die erste Bedingung jenes rein beschauenden ple_144.003
Zustandes ist.“ (S. 231 f.) Hier ist es eigentlich nur der Schluß ple_144.004
der Odyssee, der die Unterlage gibt. Schon auf die Ilias paßt die Behauptung ple_144.005
nur gezwungen, und das Nibelungenlied ist überhaupt noch nicht ple_144.006
in den Gesichtskreis Humboldts getreten.

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Auch Friedrich Schlegel leitet aus dem Vorbild Homers ebensowohl ple_144.008
wie aus allgemeinen Spekulationen die universelle Tendenz der epischen ple_144.009
Poesie ab. „Ist der Umfang der epischen Dichtart durchaus unbegrenzt, ple_144.010
so darf es einem Dichter oder einer Dichterschule dieser Gattung nur nicht ple_144.011
an Raum und Zeit fehlen; und die stetige Erzählung wird nicht eher aufhören, ple_144.012
als bis der Stoff erschöpft und eine ungefähr vollständige Ansicht ple_144.013
der ganzen umgebenden Welt vollendet
ist, etwa wie sie die ple_144.014
homerische Poesie gewährt.“ (Fr. v. Schlegels Ges. Werke. Wien 1846. ple_144.015
III. S. 93.) Schon für ihn wird das Wesen des modernen Romans wie der ple_144.016
romantischen Dichtung überhaupt durch diese Tendenz einer „progressiven ple_144.017
Universalpoesie“ bestimmt. Aber auch noch bei dem so viel nüchterneren ple_144.018
und historisch geklärteren Spielhagen lautet der erste der „Fundamentalsätze ple_144.019
der Theorie der epischen Dichtkunst“, daß, „in notwendiger Folge ple_144.020
der der epischen Phantasie immanenten, ruhelosen Tendenz nach größtmöglicher ple_144.021
Ausdehnung des Horizontes, ihr Objekt nichts Geringeres als ple_144.022
die Welt und somit das — gleichviel, ob ihm bewußte oder unbewußte — ple_144.023
Streben des epischen Dichters ist, ein Weltbild zu geben“. (Beiträge S. 133.)

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Es wäre unschwer zu zeigen, daß diese Auffassung schon geschichtlich ple_144.025
auf die homerischen Gedichte nicht zutrifft. Sie ziehen freilich die ple_144.026
Welt der Götter und gelegentlich auch die der Toten in ihre Erzählung, ple_144.027
aber nur soweit das durch die religiösen Anschauungen des Dichters ple_144.028
vom Einfluß dieser Mächte auf das Leben der Menschen notwendig gemacht ple_144.029
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Götterwelt in die Darstellung hineinzuziehen. Aber auch nur ein Bild ple_144.031
der Menschheit im ganzen Umkreis ihrer Lebenstätigkeit und ihrer Zustände ple_144.032
zu geben, hat dem Dichter offenbar völlig fern gelegen. Die Handlung ple_144.033
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die Stimmung des Heeres gelegentlich gekennzeichnet. Noch enger ist, ple_144.037
wenn man von der Wundersphäre der Märchenerzählungen absieht, der ple_144.038
Kreis, in dem sich die Handlung der Odyssee bewegt. Und nicht anders ple_144.039
hält sich das Nibelungenlied ausschließlich in dem engen Umkreis höfischen ple_144.040
Fürstentums und seines Adels. Man könnte in der Tat mit mehr Recht jene ple_144.041
Behauptung umkehren und die Einschränkung des Schauplatzes wie der ple_144.042
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[144/0158] ple_144.001 Versöhnung, nicht in Niederlage und Verzweiflung endigen. Denn sonst ple_144.002 wird die Ruhe aufgehoben, welche die erste Bedingung jenes rein beschauenden ple_144.003 Zustandes ist.“ (S. 231 f.) Hier ist es eigentlich nur der Schluß ple_144.004 der Odyssee, der die Unterlage gibt. Schon auf die Ilias paßt die Behauptung ple_144.005 nur gezwungen, und das Nibelungenlied ist überhaupt noch nicht ple_144.006 in den Gesichtskreis Humboldts getreten. ple_144.007 Auch Friedrich Schlegel leitet aus dem Vorbild Homers ebensowohl ple_144.008 wie aus allgemeinen Spekulationen die universelle Tendenz der epischen ple_144.009 Poesie ab. „Ist der Umfang der epischen Dichtart durchaus unbegrenzt, ple_144.010 so darf es einem Dichter oder einer Dichterschule dieser Gattung nur nicht ple_144.011 an Raum und Zeit fehlen; und die stetige Erzählung wird nicht eher aufhören, ple_144.012 als bis der Stoff erschöpft und eine ungefähr vollständige Ansicht ple_144.013 der ganzen umgebenden Welt vollendet ist, etwa wie sie die ple_144.014 homerische Poesie gewährt.“ (Fr. v. Schlegels Ges. Werke. Wien 1846. ple_144.015 III. S. 93.) Schon für ihn wird das Wesen des modernen Romans wie der ple_144.016 romantischen Dichtung überhaupt durch diese Tendenz einer „progressiven ple_144.017 Universalpoesie“ bestimmt. Aber auch noch bei dem so viel nüchterneren ple_144.018 und historisch geklärteren Spielhagen lautet der erste der „Fundamentalsätze ple_144.019 der Theorie der epischen Dichtkunst“, daß, „in notwendiger Folge ple_144.020 der der epischen Phantasie immanenten, ruhelosen Tendenz nach größtmöglicher ple_144.021 Ausdehnung des Horizontes, ihr Objekt nichts Geringeres als ple_144.022 die Welt und somit das — gleichviel, ob ihm bewußte oder unbewußte — ple_144.023 Streben des epischen Dichters ist, ein Weltbild zu geben“. (Beiträge S. 133.) ple_144.024 Es wäre unschwer zu zeigen, daß diese Auffassung schon geschichtlich ple_144.025 auf die homerischen Gedichte nicht zutrifft. Sie ziehen freilich die ple_144.026 Welt der Götter und gelegentlich auch die der Toten in ihre Erzählung, ple_144.027 aber nur soweit das durch die religiösen Anschauungen des Dichters ple_144.028 vom Einfluß dieser Mächte auf das Leben der Menschen notwendig gemacht ple_144.029 wird, und ganz ohne den Anspruch, ein umfassendes Bild der ple_144.030 Götterwelt in die Darstellung hineinzuziehen. Aber auch nur ein Bild ple_144.031 der Menschheit im ganzen Umkreis ihrer Lebenstätigkeit und ihrer Zustände ple_144.032 zu geben, hat dem Dichter offenbar völlig fern gelegen. Die Handlung ple_144.033 der Ilias spielt sich ausschließlich in den aristokratischen Kreisen der ple_144.034 Fürsten und ihrer nächsten Umgebung ab. Nicht einmal um den Zustand ple_144.035 ihrer Krieger kümmert sich der Dichter; nur in allgemeinen Zügen wird ple_144.036 die Stimmung des Heeres gelegentlich gekennzeichnet. Noch enger ist, ple_144.037 wenn man von der Wundersphäre der Märchenerzählungen absieht, der ple_144.038 Kreis, in dem sich die Handlung der Odyssee bewegt. Und nicht anders ple_144.039 hält sich das Nibelungenlied ausschließlich in dem engen Umkreis höfischen ple_144.040 Fürstentums und seines Adels. Man könnte in der Tat mit mehr Recht jene ple_144.041 Behauptung umkehren und die Einschränkung des Schauplatzes wie der ple_144.042 Handlung auf die Höhe der Menschheit oder der Gesellschaft als charakteristische ple_144.043 Eigenschaft der Epopöe betrachten.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/158>, abgerufen am 22.11.2024.