Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_124.001 ple_124.009 ple_124.016 ple_124.001 ple_124.009 ple_124.016 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <pb facs="#f0138" n="124"/> <lb n="ple_124.001"/> <hi rendition="#aq"> <lg> <l>Herz, mein Herz, sei nicht beklommen,</l> <lb n="ple_124.002"/> <l>Und ertrage dein Geschick.</l> <lb n="ple_124.003"/> <l>Neuer Frühling gibt zurück,</l> <lb n="ple_124.004"/> <l>Was der Winter dir genommen. </l> </lg> <lg> <lb n="ple_124.005"/> <l>Noch wie viel ist dir geblieben,</l> <lb n="ple_124.006"/> <l>Und wie schön ist noch die Welt!</l> <lb n="ple_124.007"/> <l>Und mein Herz, was dir gefällt,</l> <lb n="ple_124.008"/> <l>Alles, alles darfst du lieben!</l> </lg> </hi> </p> <p><lb n="ple_124.009"/> Freilich ist es nicht zu leugnen, daß eine so einfache und scheinbar kunstlose <lb n="ple_124.010"/> Ausdrucksweise leicht Gefahr läuft, ins Prosaische zu verfallen, und <lb n="ple_124.011"/> auch dies zeigt uns Heine, bisweilen unfreiwillig, öfter freilich mit bewußter <lb n="ple_124.012"/> künstlerischer Absicht; das letztere z. B. in dem bekannten Gedicht: „Ein <lb n="ple_124.013"/> Jüngling liebt ein Mädchen, die hat einen anderen erwählt“, — wo die <lb n="ple_124.014"/> ersten Strophen in alltäglichen Ausdrücken eine Alltagsgeschichte wiedergeben, <lb n="ple_124.015"/> um erst mit der Schlußwendung ins Poetische umzuschlagen.</p> <p><lb n="ple_124.016"/> Im allgemeinen wird daher die schlichte gedankenhafte Wiedergabe <lb n="ple_124.017"/> des inneren Erlebnisses verhältnismäßig selten sein, denn es liegt im Wesen <lb n="ple_124.018"/> der Poesie wie aller Kunst überhaupt, daß der Inhalt, den sie ausdrücken <lb n="ple_124.019"/> will, nicht durch sich selbst, sondern durch die Form wirken will. Hierzu <lb n="ple_124.020"/> kommt, daß lyrische Gedichte, wenigstens soweit sie der reinen Gefühlslyrik <lb n="ple_124.021"/> angehören und nicht reflektierenden Charakters sind, zumeist einen <lb n="ple_124.022"/> sehr einfachen, nichts weniger als reichen Gedankengehalt haben und daß <lb n="ple_124.023"/> auch die Gefühle, die sie ausdrücken, durch Kraft oder Innigkeit gefangen <lb n="ple_124.024"/> nehmen, nicht aber durch Mannigfaltigkeit oder Neuheit interessieren können. <lb n="ple_124.025"/> Die künstlerische Wirkung solcher Gedichte wird daher zumeist auf dem <lb n="ple_124.026"/> musikalischen oder bildlichen Charakter des Ausdrucks beruhen. Die Mittel, <lb n="ple_124.027"/> die dem Dichter hierfür zu Gebote stehen, sind im achten und neunten <lb n="ple_124.028"/> Abschnitt unserer Betrachtungen ihrem Wesen nach erörtert. Hier ist die <lb n="ple_124.029"/> Frage, wie weit sie in der lyrischen Dichtung zusammengehen können, <lb n="ple_124.030"/> wie weit sie einzeln oder gar im Gegensatz zueinander zur Geltung kommen. <lb n="ple_124.031"/> Es gibt eine Anzahl lyrischer Schöpfungen — und wir werden sie zu den <lb n="ple_124.032"/> höchsten ihrer Art rechnen müssen —, in denen beide Wirkungen sich vollkommen <lb n="ple_124.033"/> die Wage halten, und wo die Stimmung zu gleicher Zeit durch <lb n="ple_124.034"/> den Klang wie durch die Bilder, welche er erweckt, erregt und gesteigert <lb n="ple_124.035"/> wird. Goethes Lyrik gehört zum größten Teil hierher, aber angeführt werden <lb n="ple_124.036"/> soll nur ein kleines und weniger bekanntes unter seinen Gedichten, das <lb n="ple_124.037"/> gleichwohl ein besonders belehrendes Beispiel dieses Doppelcharakters gibt. <lb n="ple_124.038"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer</l><lb n="ple_124.039"/><l> Vom Meere strahlt;</l><lb n="ple_124.040"/><l>Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer</l><lb n="ple_124.041"/><l> In Quellen malt. </l></lg><lg><lb n="ple_124.042"/><l>Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege</l><lb n="ple_124.043"/><l> Der Staub sich hebt;</l><lb n="ple_124.044"/><l>In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege</l><lb n="ple_124.045"/><l> Der Wandrer bebt.</l></lg></hi></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [124/0138]
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Herz, mein Herz, sei nicht beklommen, ple_124.002
Und ertrage dein Geschick. ple_124.003
Neuer Frühling gibt zurück, ple_124.004
Was der Winter dir genommen.
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Noch wie viel ist dir geblieben, ple_124.006
Und wie schön ist noch die Welt! ple_124.007
Und mein Herz, was dir gefällt, ple_124.008
Alles, alles darfst du lieben!
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Freilich ist es nicht zu leugnen, daß eine so einfache und scheinbar kunstlose ple_124.010
Ausdrucksweise leicht Gefahr läuft, ins Prosaische zu verfallen, und ple_124.011
auch dies zeigt uns Heine, bisweilen unfreiwillig, öfter freilich mit bewußter ple_124.012
künstlerischer Absicht; das letztere z. B. in dem bekannten Gedicht: „Ein ple_124.013
Jüngling liebt ein Mädchen, die hat einen anderen erwählt“, — wo die ple_124.014
ersten Strophen in alltäglichen Ausdrücken eine Alltagsgeschichte wiedergeben, ple_124.015
um erst mit der Schlußwendung ins Poetische umzuschlagen.
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Im allgemeinen wird daher die schlichte gedankenhafte Wiedergabe ple_124.017
des inneren Erlebnisses verhältnismäßig selten sein, denn es liegt im Wesen ple_124.018
der Poesie wie aller Kunst überhaupt, daß der Inhalt, den sie ausdrücken ple_124.019
will, nicht durch sich selbst, sondern durch die Form wirken will. Hierzu ple_124.020
kommt, daß lyrische Gedichte, wenigstens soweit sie der reinen Gefühlslyrik ple_124.021
angehören und nicht reflektierenden Charakters sind, zumeist einen ple_124.022
sehr einfachen, nichts weniger als reichen Gedankengehalt haben und daß ple_124.023
auch die Gefühle, die sie ausdrücken, durch Kraft oder Innigkeit gefangen ple_124.024
nehmen, nicht aber durch Mannigfaltigkeit oder Neuheit interessieren können. ple_124.025
Die künstlerische Wirkung solcher Gedichte wird daher zumeist auf dem ple_124.026
musikalischen oder bildlichen Charakter des Ausdrucks beruhen. Die Mittel, ple_124.027
die dem Dichter hierfür zu Gebote stehen, sind im achten und neunten ple_124.028
Abschnitt unserer Betrachtungen ihrem Wesen nach erörtert. Hier ist die ple_124.029
Frage, wie weit sie in der lyrischen Dichtung zusammengehen können, ple_124.030
wie weit sie einzeln oder gar im Gegensatz zueinander zur Geltung kommen. ple_124.031
Es gibt eine Anzahl lyrischer Schöpfungen — und wir werden sie zu den ple_124.032
höchsten ihrer Art rechnen müssen —, in denen beide Wirkungen sich vollkommen ple_124.033
die Wage halten, und wo die Stimmung zu gleicher Zeit durch ple_124.034
den Klang wie durch die Bilder, welche er erweckt, erregt und gesteigert ple_124.035
wird. Goethes Lyrik gehört zum größten Teil hierher, aber angeführt werden ple_124.036
soll nur ein kleines und weniger bekanntes unter seinen Gedichten, das ple_124.037
gleichwohl ein besonders belehrendes Beispiel dieses Doppelcharakters gibt. ple_124.038
Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer ple_124.039
Vom Meere strahlt; ple_124.040
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer ple_124.041
In Quellen malt.
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Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege ple_124.043
Der Staub sich hebt; ple_124.044
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege ple_124.045
Der Wandrer bebt.
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