Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.
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ple_125.001 ple_125.009 ple_125.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#aq"> <pb facs="#f0139" n="125"/> <lb n="ple_125.001"/> <lg> <l>Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen</l> <lb n="ple_125.002"/> <l> Die Welle steigt.</l> <lb n="ple_125.003"/> <l>Im stillen Haine geh' ich oft zu lauschen,</l> <lb n="ple_125.004"/> <l> Wenn alles schweigt. </l> </lg> <lg> <lb n="ple_125.005"/> <l>Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,</l> <lb n="ple_125.006"/> <l> Du bist mir nah!</l> <lb n="ple_125.007"/> <l>Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.</l> <lb n="ple_125.008"/> <l> O wärst du da!</l> </lg> </hi> </p> <p><lb n="ple_125.009"/> Hier wird die Sehnsucht, welche die Grundstimmung des Gedichtes ist, <lb n="ple_125.010"/> in einer Reihe von Naturbildern wiedergegeben, deren jedes von anschaulichem <lb n="ple_125.011"/> Leben erfüllt ist; zugleich aber dienen Sprache und Metrum dazu, <lb n="ple_125.012"/> durch den Klang die Empfindung selbst sowohl wie das Bild zu charakterisieren. <lb n="ple_125.013"/> So wird der lang und langsam ansteigende und schnell fallende <lb n="ple_125.014"/> Rhythmus unmittelbar zum Ausdruck sehnsüchtiger Empfindung und veranschaulicht <lb n="ple_125.015"/> doch zugleich den aufwirbelnden Staub und die sprudelnde <lb n="ple_125.016"/> Quelle. Noch höher ist die Kunst in dem Elfenchor, mit dem der zweite <lb n="ple_125.017"/> Teil des Faust beginnt: „Wenn sich lau die Lüfte füllen um den grün <lb n="ple_125.018"/> umschränkten Plan.“ Hier werden in den vier aufeinander folgenden Zeiten <lb n="ple_125.019"/> der Nacht vom Abend bis zum Morgen vier Stimmungen: Müdigkeit, Glück <lb n="ple_125.020"/> des Ruhens, allmähliches Erwachen und neue Tatkraft in vier anschaulichen <lb n="ple_125.021"/> Bildern mit allen Mitteln des Rhythmus und der sprachlichen <lb n="ple_125.022"/> Klangwirkung musikalisch eindrucksvoll gemacht. Man glaubt, eine Wortsymphonie <lb n="ple_125.023"/> in Versen zu hören und gleichzeitig eine entsprechende Reihe <lb n="ple_125.024"/> herrlicher Bilder vor Augen zu sehen, zusammengehalten durch einen einfachen, <lb n="ple_125.025"/> aber tiefen und schönen Gedanken.</p> <p><lb n="ple_125.026"/> Es erscheint als das Natürliche, daß alle lyrischen Gedichte diese <lb n="ple_125.027"/> doppelte (oder dreifache) Wirkung erstreben. Gleichwohl ist das nicht <lb n="ple_125.028"/> durchweg der Fall; wir finden vielmehr, daß das musikalische Element <lb n="ple_125.029"/> nicht selten einseitig hervortritt, und es wird das begreiflich, wenn wir an den <lb n="ple_125.030"/> Einfluß und das Vorbild der Musik denken. Diese nämlich vermag am unmittelbarsten <lb n="ple_125.031"/> wie am stärksten von allen Künsten auf das Gefühl zu wirken; <lb n="ple_125.032"/> sie erregt ganz ohne gedankenmäßigen oder anschaulichen Inhalt Stimmungen <lb n="ple_125.033"/> des verschiedensten Charakters und von der größten Kraft und <lb n="ple_125.034"/> Tiefe. Daher ist es ein begreifliches Streben der Lyrik, es der Schwesterkunst <lb n="ple_125.035"/> gleichzutun, in Wortmusik überzugehen und zu diesem Zweck nicht <lb n="ple_125.036"/> nur auf bildliche Anschaulichkeit, sondern auch auf einen greifbaren gedanklichen <lb n="ple_125.037"/> Zusammenhang zu verzichten. Die Lyrik der Romantiker, besonders <lb n="ple_125.038"/> Tiecks und Brentanos, zeigt diese Neigung. Ihre Worte und Sätze <lb n="ple_125.039"/> haben oft nicht mehr den Zweck, einen bestimmten Inhalt von Vorstellungen <lb n="ple_125.040"/> zu vermitteln, sie sollen unmittelbare musikalische Empfindungen hervorrufen, <lb n="ple_125.041"/> die sich an keinen festen Gegenstand heften. Tiecks bekannte Verse <lb n="ple_125.042"/> „Liebe denkt in süßen Tönen“ bezeichnet fast programmatisch diese Richtung. <lb n="ple_125.043"/> Noch einseitiger und entschiedener sind ihr die lyrischen Schulen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [125/0139]
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Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen ple_125.002
Die Welle steigt. ple_125.003
Im stillen Haine geh' ich oft zu lauschen, ple_125.004
Wenn alles schweigt.
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Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne, ple_125.006
Du bist mir nah! ple_125.007
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne. ple_125.008
O wärst du da!
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Hier wird die Sehnsucht, welche die Grundstimmung des Gedichtes ist, ple_125.010
in einer Reihe von Naturbildern wiedergegeben, deren jedes von anschaulichem ple_125.011
Leben erfüllt ist; zugleich aber dienen Sprache und Metrum dazu, ple_125.012
durch den Klang die Empfindung selbst sowohl wie das Bild zu charakterisieren. ple_125.013
So wird der lang und langsam ansteigende und schnell fallende ple_125.014
Rhythmus unmittelbar zum Ausdruck sehnsüchtiger Empfindung und veranschaulicht ple_125.015
doch zugleich den aufwirbelnden Staub und die sprudelnde ple_125.016
Quelle. Noch höher ist die Kunst in dem Elfenchor, mit dem der zweite ple_125.017
Teil des Faust beginnt: „Wenn sich lau die Lüfte füllen um den grün ple_125.018
umschränkten Plan.“ Hier werden in den vier aufeinander folgenden Zeiten ple_125.019
der Nacht vom Abend bis zum Morgen vier Stimmungen: Müdigkeit, Glück ple_125.020
des Ruhens, allmähliches Erwachen und neue Tatkraft in vier anschaulichen ple_125.021
Bildern mit allen Mitteln des Rhythmus und der sprachlichen ple_125.022
Klangwirkung musikalisch eindrucksvoll gemacht. Man glaubt, eine Wortsymphonie ple_125.023
in Versen zu hören und gleichzeitig eine entsprechende Reihe ple_125.024
herrlicher Bilder vor Augen zu sehen, zusammengehalten durch einen einfachen, ple_125.025
aber tiefen und schönen Gedanken.
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Es erscheint als das Natürliche, daß alle lyrischen Gedichte diese ple_125.027
doppelte (oder dreifache) Wirkung erstreben. Gleichwohl ist das nicht ple_125.028
durchweg der Fall; wir finden vielmehr, daß das musikalische Element ple_125.029
nicht selten einseitig hervortritt, und es wird das begreiflich, wenn wir an den ple_125.030
Einfluß und das Vorbild der Musik denken. Diese nämlich vermag am unmittelbarsten ple_125.031
wie am stärksten von allen Künsten auf das Gefühl zu wirken; ple_125.032
sie erregt ganz ohne gedankenmäßigen oder anschaulichen Inhalt Stimmungen ple_125.033
des verschiedensten Charakters und von der größten Kraft und ple_125.034
Tiefe. Daher ist es ein begreifliches Streben der Lyrik, es der Schwesterkunst ple_125.035
gleichzutun, in Wortmusik überzugehen und zu diesem Zweck nicht ple_125.036
nur auf bildliche Anschaulichkeit, sondern auch auf einen greifbaren gedanklichen ple_125.037
Zusammenhang zu verzichten. Die Lyrik der Romantiker, besonders ple_125.038
Tiecks und Brentanos, zeigt diese Neigung. Ihre Worte und Sätze ple_125.039
haben oft nicht mehr den Zweck, einen bestimmten Inhalt von Vorstellungen ple_125.040
zu vermitteln, sie sollen unmittelbare musikalische Empfindungen hervorrufen, ple_125.041
die sich an keinen festen Gegenstand heften. Tiecks bekannte Verse ple_125.042
„Liebe denkt in süßen Tönen“ bezeichnet fast programmatisch diese Richtung. ple_125.043
Noch einseitiger und entschiedener sind ihr die lyrischen Schulen
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