Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_122.001 ple_122.011 ple_122.031 ple_122.001 ple_122.011 ple_122.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0136" n="122"/><lb n="ple_122.001"/> poetischer Sprachschöpfung voranging, von der nur eine schriftliche Überlieferung <lb n="ple_122.002"/> nichts weiß. Die Poesie der Renaissance, die in den Kulturländern <lb n="ple_122.003"/> Europas die volkstümliche Dichtung ersetzte und verdrängte, zeigt, <lb n="ple_122.004"/> wie begreiflich, den Zug zum konventionellen und überlieferten Ausdruck <lb n="ple_122.005"/> noch weit entschiedener. Aus den antiken Sprachen sind ihre Redefiguren <lb n="ple_122.006"/> und Metaphern zu einem großen Teil übernommen, zum mindesten sind <lb n="ple_122.007"/> sie diesen nachgebildet. Die antiken Götter personifizieren in herkömmlicher <lb n="ple_122.008"/> Weise Gefühle und Eigenschaften; und der Gefahr, zur Schablone zu <lb n="ple_122.009"/> erstarren, durch die wahres Gefühl nicht ausgedrückt, sondern erstickt <lb n="ple_122.010"/> wird, ist auf die Dauer keine dieser Dichtungen entgangen.</p> <p><lb n="ple_122.011"/> Das Mittel nun, die Erstarrung im Konventionellen zu überwinden, <lb n="ple_122.012"/> zu einer neuen und echteren Weise des Gefühlsausdrucks zu gelangen, war <lb n="ple_122.013"/> nicht selten eine <hi rendition="#g">pathetische</hi> Sprache. So war Klopstocks Stil durchweg <lb n="ple_122.014"/> pathetisch und deklamatorisch: durch die hinreissende Gewalt leidenschaftlich <lb n="ple_122.015"/> bewegter Worte schwemmte er gleichsam die eingetrocknete Überlieferung <lb n="ple_122.016"/> hinweg und gelangte zu einem individuellen Ausdruck für die <lb n="ple_122.017"/> Gedanken und Gefühle, die sein Inneres bewegten. Allerdings war dieser <lb n="ple_122.018"/> Ausdruck ebenso wie das Gefühlsleben, das ihm entsprach, nicht frei von <lb n="ple_122.019"/> einer künstlichen und gewaltsamen Steigerung über sich selbst und das <lb n="ple_122.020"/> natürliche Maß hinaus. Dies ist es, was uns heute den größten Teil <lb n="ple_122.021"/> von Klopstocks Dichtungen ungenießbar macht, gerade dies aber ist es, <lb n="ple_122.022"/> wie es scheint, was auf seine Zeitgenossen, die aus den Niederungen <lb n="ple_122.023"/> deutschen Philisterlebens und seiner Sprache emporstrebten, so mächtig <lb n="ple_122.024"/> gewirkt hat. Eine ganz ähnliche Erscheinung bietet in der französischen <lb n="ple_122.025"/> Literatur die Lyrik Victor Hugos: gewaltiges und gewaltsames Pathos, <lb n="ple_122.026"/> echte Leidenschaft noch künstlich erhitzt und im Ausdruck gesteigert; das <lb n="ple_122.027"/> wenigste von dauernder Wirkung, aber das Ganze ein machtvoller und <lb n="ple_122.028"/> fruchtbarer Triumph über die eingehende und öde Bindung an konventionelle <lb n="ple_122.029"/> Formen, welche den dichterischen Ausdruck beherrscht und gefesselt <lb n="ple_122.030"/> hatten.</p> <p><lb n="ple_122.031"/> Allein es ist klar, daß mit diesem Pathos nicht die höchste Stufe <lb n="ple_122.032"/> dichterischer Ausdrucksfähigkeit erreicht ist. Diese tritt uns vielmehr erst <lb n="ple_122.033"/> da entgegen, wo die Sprache nichts als der <hi rendition="#g">natürliche</hi> Ausdruck gesteigerten <lb n="ple_122.034"/> Empfindens ist und sein will, wo das schlichteste Wort unmittelbar <lb n="ple_122.035"/> die Persönlichkeit des Dichters und sein inneres Erleben widerspiegelt: <lb n="ple_122.036"/> das scheinbar Leichteste ist in Wahrheit das Schwierigste, das <lb n="ple_122.037"/> scheinbar Selbstverständliche bezeichnet auch hier, ähnlich wie wir es bei <lb n="ple_122.038"/> der metrischen Behandlung gesehen haben, die letzte erreichbare Höhe <lb n="ple_122.039"/> der Kunst. Diese Dichtung erneuert die Zeiten des Ursprungs und der <lb n="ple_122.040"/> Frische, die der Entstehung der Konvention voranging, aber sie hat <lb n="ple_122.041"/> ihre Ausdrucksfähigkeit unendlich gesteigert und verfeinert. Gedichte wie <lb n="ple_122.042"/> <hi rendition="#g">Walters</hi> „Herzeliebez frouwelîn“ oder „Unter der linden auf der heiden“ <lb n="ple_122.043"/> stehen auf dieser Höhe. In der modernen deutschen Dichtung hat bekanntlich </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [122/0136]
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poetischer Sprachschöpfung voranging, von der nur eine schriftliche Überlieferung ple_122.002
nichts weiß. Die Poesie der Renaissance, die in den Kulturländern ple_122.003
Europas die volkstümliche Dichtung ersetzte und verdrängte, zeigt, ple_122.004
wie begreiflich, den Zug zum konventionellen und überlieferten Ausdruck ple_122.005
noch weit entschiedener. Aus den antiken Sprachen sind ihre Redefiguren ple_122.006
und Metaphern zu einem großen Teil übernommen, zum mindesten sind ple_122.007
sie diesen nachgebildet. Die antiken Götter personifizieren in herkömmlicher ple_122.008
Weise Gefühle und Eigenschaften; und der Gefahr, zur Schablone zu ple_122.009
erstarren, durch die wahres Gefühl nicht ausgedrückt, sondern erstickt ple_122.010
wird, ist auf die Dauer keine dieser Dichtungen entgangen.
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Das Mittel nun, die Erstarrung im Konventionellen zu überwinden, ple_122.012
zu einer neuen und echteren Weise des Gefühlsausdrucks zu gelangen, war ple_122.013
nicht selten eine pathetische Sprache. So war Klopstocks Stil durchweg ple_122.014
pathetisch und deklamatorisch: durch die hinreissende Gewalt leidenschaftlich ple_122.015
bewegter Worte schwemmte er gleichsam die eingetrocknete Überlieferung ple_122.016
hinweg und gelangte zu einem individuellen Ausdruck für die ple_122.017
Gedanken und Gefühle, die sein Inneres bewegten. Allerdings war dieser ple_122.018
Ausdruck ebenso wie das Gefühlsleben, das ihm entsprach, nicht frei von ple_122.019
einer künstlichen und gewaltsamen Steigerung über sich selbst und das ple_122.020
natürliche Maß hinaus. Dies ist es, was uns heute den größten Teil ple_122.021
von Klopstocks Dichtungen ungenießbar macht, gerade dies aber ist es, ple_122.022
wie es scheint, was auf seine Zeitgenossen, die aus den Niederungen ple_122.023
deutschen Philisterlebens und seiner Sprache emporstrebten, so mächtig ple_122.024
gewirkt hat. Eine ganz ähnliche Erscheinung bietet in der französischen ple_122.025
Literatur die Lyrik Victor Hugos: gewaltiges und gewaltsames Pathos, ple_122.026
echte Leidenschaft noch künstlich erhitzt und im Ausdruck gesteigert; das ple_122.027
wenigste von dauernder Wirkung, aber das Ganze ein machtvoller und ple_122.028
fruchtbarer Triumph über die eingehende und öde Bindung an konventionelle ple_122.029
Formen, welche den dichterischen Ausdruck beherrscht und gefesselt ple_122.030
hatten.
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Allein es ist klar, daß mit diesem Pathos nicht die höchste Stufe ple_122.032
dichterischer Ausdrucksfähigkeit erreicht ist. Diese tritt uns vielmehr erst ple_122.033
da entgegen, wo die Sprache nichts als der natürliche Ausdruck gesteigerten ple_122.034
Empfindens ist und sein will, wo das schlichteste Wort unmittelbar ple_122.035
die Persönlichkeit des Dichters und sein inneres Erleben widerspiegelt: ple_122.036
das scheinbar Leichteste ist in Wahrheit das Schwierigste, das ple_122.037
scheinbar Selbstverständliche bezeichnet auch hier, ähnlich wie wir es bei ple_122.038
der metrischen Behandlung gesehen haben, die letzte erreichbare Höhe ple_122.039
der Kunst. Diese Dichtung erneuert die Zeiten des Ursprungs und der ple_122.040
Frische, die der Entstehung der Konvention voranging, aber sie hat ple_122.041
ihre Ausdrucksfähigkeit unendlich gesteigert und verfeinert. Gedichte wie ple_122.042
Walters „Herzeliebez frouwelîn“ oder „Unter der linden auf der heiden“ ple_122.043
stehen auf dieser Höhe. In der modernen deutschen Dichtung hat bekanntlich
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