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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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ple_121.001
Freiheit wurzelt, macht für das künstlerische Wesen des Gedichts keinen ple_121.002
Unterschied.1)

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Die Außenwelt wird in aller wahren Lyrik nur in schwachen Umrissen, ple_121.004
in einigen für das Gefühl wesentlichen Zügen erscheinen. Am ple_121.005
deutlichsten zeigt sich das in der Wiedergabe von Natureindrücken und ple_121.006
Landschaftsbildern. Ihre Darstellung wird, um einen Ausdruck der modernen ple_121.007
Malerei anzuwenden, immer etwas Impressionistisches haben und eingehendere ple_121.008
Schilderungen ausschließen. Daher war die beschreibende ple_121.009
Dichtung alten Stils gerichtet, sobald mit Klopstocks Oden die ersten ple_121.010
wahrhaft lyrischen Gedichte ihren Siegeszug durch die deutsche Jugend ple_121.011
hielten, fast zwei Jahrzehnte, bevor Lessing im Laokoon der Poesie das ple_121.012
Malen verbot. Es sind hier freilich verschiedene Abstufungen möglich, je ple_121.013
nachdem das Gefühl des Dichters sich der Einzelheiten des Naturbildes ple_121.014
bemächtigt, die ihm das Auge bietet oder nur am Gesamteindruck haften ple_121.015
bleibt. In der klassischen wie in der romantischen Dichtung treten Landschaftsbilder ple_121.016
und Naturvorgänge bisweilen in bestimmten Umrissen auf: ple_121.017
so die Schilderungen des Gewitters in der Frühlingsfeier, der Ruinen in ple_121.018
Goethes Wanderer, des Stillen Grundes bei Eichendorff; weit öfter aber ple_121.019
finden wir bloße Andeutungen. Klopstocks Ode an den Züricher See ple_121.020
skizziert die Landschaft mit ein paar lebendigen Strichen; Goethes Harzreise ple_121.021
und Lied an den Mond lassen sie nur eben erraten. Und die moderne ple_121.022
Lyrik neigt -- wie wir später sehen werden -- noch weit entschiedener ple_121.023
zur Auflösung aller bestimmten Züge. --

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Gefühle in Worten wiederzugeben und beim Hören oder Lesen lebendig ple_121.025
zu machen, ist die besondere Aufgabe des Lyrikers. Wie versucht und ple_121.026
vermag er es, sie zu erfüllen? Werfen wir zunächst einen Blick auf das ple_121.027
Bild, das uns die Literaturgeschichte darbietet, so zeigt sie uns einen dreifach ple_121.028
verschiedenen Charakter der lyrischen Sprache. In den älteren Epochen ple_121.029
literarischer Überlieferung tritt uns überall eine starke Neigung zu formelhaft ple_121.030
konventionellem Ausdruck entgegen. Bestimmte Vergleichungen ple_121.031
und Umschreibungen kehren immer wieder und bilden den Grundstock, ple_121.032
aus dem der Dichter schöpft und dem er dann je nach Vermögen neue ple_121.033
Wendungen abgewinnt oder hinzugesellt. Dieses Bild zeigt uns der größte ple_121.034
Teil der höfischen Lyrik des Mittelalters, vielfach aber auch das lyrische ple_121.035
Volkslied der späteren Jahrhunderte. Wie die Persönlichkeit der Dichter, ple_121.036
so erscheint auch ihre Ausdrucksweise eingeschränkt und konventionell ple_121.037
gebunden. Wir müssen annehmen, daß dieser Charakter bereits eine gewisse ple_121.038
Erstarrung bedeutet und eine Zeit frischerer und ungebundenerer

1) ple_121.039
Daher ist auch die herkömmliche Einteilung der Lyrik nach dem äußeren Anlaß ple_121.040
(z. B. Liebes-, Natur- und politische Lyrik) für das Wesen der lyrischen Kunst belanglos, ple_121.041
und die sehr eingehende Einteilung, die R. M. Werner S. 110-157 seines oben angeführten ple_121.042
Buches entwirft, mag zwar für die äußere Übersicht über das Vorhandene praktisch brauchbar ple_121.043
sein, aber für das Wesen der Lyrik ist sie wenig belehrend.

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Freiheit wurzelt, macht für das künstlerische Wesen des Gedichts keinen ple_121.002
Unterschied.1)

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Die Außenwelt wird in aller wahren Lyrik nur in schwachen Umrissen, ple_121.004
in einigen für das Gefühl wesentlichen Zügen erscheinen. Am ple_121.005
deutlichsten zeigt sich das in der Wiedergabe von Natureindrücken und ple_121.006
Landschaftsbildern. Ihre Darstellung wird, um einen Ausdruck der modernen ple_121.007
Malerei anzuwenden, immer etwas Impressionistisches haben und eingehendere ple_121.008
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Dichtung alten Stils gerichtet, sobald mit Klopstocks Oden die ersten ple_121.010
wahrhaft lyrischen Gedichte ihren Siegeszug durch die deutsche Jugend ple_121.011
hielten, fast zwei Jahrzehnte, bevor Lessing im Laokoon der Poesie das ple_121.012
Malen verbot. Es sind hier freilich verschiedene Abstufungen möglich, je ple_121.013
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und Naturvorgänge bisweilen in bestimmten Umrissen auf: ple_121.017
so die Schilderungen des Gewitters in der Frühlingsfeier, der Ruinen in ple_121.018
Goethes Wanderer, des Stillen Grundes bei Eichendorff; weit öfter aber ple_121.019
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skizziert die Landschaft mit ein paar lebendigen Strichen; Goethes Harzreise ple_121.021
und Lied an den Mond lassen sie nur eben erraten. Und die moderne ple_121.022
Lyrik neigt — wie wir später sehen werden — noch weit entschiedener ple_121.023
zur Auflösung aller bestimmten Züge. —

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Gefühle in Worten wiederzugeben und beim Hören oder Lesen lebendig ple_121.025
zu machen, ist die besondere Aufgabe des Lyrikers. Wie versucht und ple_121.026
vermag er es, sie zu erfüllen? Werfen wir zunächst einen Blick auf das ple_121.027
Bild, das uns die Literaturgeschichte darbietet, so zeigt sie uns einen dreifach ple_121.028
verschiedenen Charakter der lyrischen Sprache. In den älteren Epochen ple_121.029
literarischer Überlieferung tritt uns überall eine starke Neigung zu formelhaft ple_121.030
konventionellem Ausdruck entgegen. Bestimmte Vergleichungen ple_121.031
und Umschreibungen kehren immer wieder und bilden den Grundstock, ple_121.032
aus dem der Dichter schöpft und dem er dann je nach Vermögen neue ple_121.033
Wendungen abgewinnt oder hinzugesellt. Dieses Bild zeigt uns der größte ple_121.034
Teil der höfischen Lyrik des Mittelalters, vielfach aber auch das lyrische ple_121.035
Volkslied der späteren Jahrhunderte. Wie die Persönlichkeit der Dichter, ple_121.036
so erscheint auch ihre Ausdrucksweise eingeschränkt und konventionell ple_121.037
gebunden. Wir müssen annehmen, daß dieser Charakter bereits eine gewisse ple_121.038
Erstarrung bedeutet und eine Zeit frischerer und ungebundenerer

1) ple_121.039
Daher ist auch die herkömmliche Einteilung der Lyrik nach dem äußeren Anlaß ple_121.040
(z. B. Liebes-, Natur- und politische Lyrik) für das Wesen der lyrischen Kunst belanglos, ple_121.041
und die sehr eingehende Einteilung, die R. M. Werner S. 110–157 seines oben angeführten ple_121.042
Buches entwirft, mag zwar für die äußere Übersicht über das Vorhandene praktisch brauchbar ple_121.043
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[121/0135] ple_121.001 Freiheit wurzelt, macht für das künstlerische Wesen des Gedichts keinen ple_121.002 Unterschied. 1) ple_121.003 Die Außenwelt wird in aller wahren Lyrik nur in schwachen Umrissen, ple_121.004 in einigen für das Gefühl wesentlichen Zügen erscheinen. Am ple_121.005 deutlichsten zeigt sich das in der Wiedergabe von Natureindrücken und ple_121.006 Landschaftsbildern. Ihre Darstellung wird, um einen Ausdruck der modernen ple_121.007 Malerei anzuwenden, immer etwas Impressionistisches haben und eingehendere ple_121.008 Schilderungen ausschließen. Daher war die beschreibende ple_121.009 Dichtung alten Stils gerichtet, sobald mit Klopstocks Oden die ersten ple_121.010 wahrhaft lyrischen Gedichte ihren Siegeszug durch die deutsche Jugend ple_121.011 hielten, fast zwei Jahrzehnte, bevor Lessing im Laokoon der Poesie das ple_121.012 Malen verbot. Es sind hier freilich verschiedene Abstufungen möglich, je ple_121.013 nachdem das Gefühl des Dichters sich der Einzelheiten des Naturbildes ple_121.014 bemächtigt, die ihm das Auge bietet oder nur am Gesamteindruck haften ple_121.015 bleibt. In der klassischen wie in der romantischen Dichtung treten Landschaftsbilder ple_121.016 und Naturvorgänge bisweilen in bestimmten Umrissen auf: ple_121.017 so die Schilderungen des Gewitters in der Frühlingsfeier, der Ruinen in ple_121.018 Goethes Wanderer, des Stillen Grundes bei Eichendorff; weit öfter aber ple_121.019 finden wir bloße Andeutungen. Klopstocks Ode an den Züricher See ple_121.020 skizziert die Landschaft mit ein paar lebendigen Strichen; Goethes Harzreise ple_121.021 und Lied an den Mond lassen sie nur eben erraten. Und die moderne ple_121.022 Lyrik neigt — wie wir später sehen werden — noch weit entschiedener ple_121.023 zur Auflösung aller bestimmten Züge. — ple_121.024 Gefühle in Worten wiederzugeben und beim Hören oder Lesen lebendig ple_121.025 zu machen, ist die besondere Aufgabe des Lyrikers. Wie versucht und ple_121.026 vermag er es, sie zu erfüllen? Werfen wir zunächst einen Blick auf das ple_121.027 Bild, das uns die Literaturgeschichte darbietet, so zeigt sie uns einen dreifach ple_121.028 verschiedenen Charakter der lyrischen Sprache. In den älteren Epochen ple_121.029 literarischer Überlieferung tritt uns überall eine starke Neigung zu formelhaft ple_121.030 konventionellem Ausdruck entgegen. Bestimmte Vergleichungen ple_121.031 und Umschreibungen kehren immer wieder und bilden den Grundstock, ple_121.032 aus dem der Dichter schöpft und dem er dann je nach Vermögen neue ple_121.033 Wendungen abgewinnt oder hinzugesellt. Dieses Bild zeigt uns der größte ple_121.034 Teil der höfischen Lyrik des Mittelalters, vielfach aber auch das lyrische ple_121.035 Volkslied der späteren Jahrhunderte. Wie die Persönlichkeit der Dichter, ple_121.036 so erscheint auch ihre Ausdrucksweise eingeschränkt und konventionell ple_121.037 gebunden. Wir müssen annehmen, daß dieser Charakter bereits eine gewisse ple_121.038 Erstarrung bedeutet und eine Zeit frischerer und ungebundenerer 1) ple_121.039 Daher ist auch die herkömmliche Einteilung der Lyrik nach dem äußeren Anlaß ple_121.040 (z. B. Liebes-, Natur- und politische Lyrik) für das Wesen der lyrischen Kunst belanglos, ple_121.041 und die sehr eingehende Einteilung, die R. M. Werner S. 110–157 seines oben angeführten ple_121.042 Buches entwirft, mag zwar für die äußere Übersicht über das Vorhandene praktisch brauchbar ple_121.043 sein, aber für das Wesen der Lyrik ist sie wenig belehrend.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/135>, abgerufen am 22.11.2024.