Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.Ueber die Stirne. b) Breite -- die oben sich entweder ovalirt, (wie die meisten Stirnen großer Engländer) c) Reinheit von allen Unebenheiten und Runzeln; doch muß sie sich runzeln können; aber d) Sie muß oben zurück, unten vorstehen. e) Die Augenknochen müssen einfach, horizontal seyn -- und von oben herab anzusehen, ei- f) Jn der Mitte darf sie von oben herab, und in die Queere -- eine kleine Vertiefung ha- g) Die wenn etwas ihn, den Betrüger, verrathen soll, so müs- sen es diese -- denn seine Stirn sey sonst noch so furcht- bar kräftig gebaut -- Er muß um deswillen nicht Be- trüger seyn. Gott machte keine Betrüger. -- Freylich, es giebt ein Quantum von Kraft und Unkraft, das leicht zur Betrügerey führen kann; aber nicht muß -- Also aus der festen Form der Stirne kann höchstens diese Leichtverführbarkeit vermuthet werden -- Aber wo hat denn da die mindeste Verstellung statt? -- Also müßte man die bewegliche Haut und ihre Falten mit da- zu nehmen? Diese müßten uns also die Frage mit be- antworten helfen -- Jst der Mann Betrüger? -- Ge- setzt nun, sie können uns diese Frage beantworten, und sie können's allein -- welches Studium des Betrügers wird sie, wie etwa den Schweiß von der Stirne weg- wischen können? So wegwischen, daß, eh' er sichs ver- sieht, nicht immer und immer die Falte zurückkehre? Und kann er das nicht -- wie ers gewiß nicht kann -- wie kann man uns denn so ganz zuversichtlich sagen: "Le "trompeur peut masquer son front, comme il veut, "en lui imprimant les mouvemens a sa volonte!" -- Wohl verstanden; ich sage nicht: "Der Betrüger kann "sich nicht verstellen." Er kann's -- Jch sage auch [Spaltenumbruch] nicht: "An der Stirne ist der Schurke durchaus uner- "kennbar." Aber das sage ich: "Wenn er an der Stirne "erkennbar ist; diese Erkennbarkeit mag nun in der fe- "sten Form der Stirne, oder den Falten der Stirnhaut "liegen -- so ist die Verstellung unmöglich -- denn er "kann die festen Theile nicht ändern, und die Falten, die "entscheidend seyn sollen, auf keine Weise austilgen." Mangel einer Sache läßt sich immer eher verbergen, als das Daseyn einer Sache, und ich mag auch hier sagen: "Eine Stadt auf einem Berge kann nicht verbor- "gen seyn! "Il y a donc, fährt Pernetty fort, differentes sortes "de fronts: & ces differences sont tres sensibles, me- "me pour ceux, qui les regardent, sans y faire beau- "coup d'attention. Les uns previennent en faveur "de la personne, les autres a son desavantage; en ef- "fet, un front serein annonce la tranquillite habituel- "le de l'ame, & la douceur du caractere. Seneque a "dit: Il n'y a de vraiment sublime que la plus haute "vertu; & rien de grand, qui ne soit en meme tems "doux & tranquille. La partie de l'atmosphere la plus "voisine des astres, n'est point sujette aux nuages, "ni agitee par des tempetes, comme sa partie infe- rieure; G g 2
Ueber die Stirne. b) Breite — die oben ſich entweder ovalirt, (wie die meiſten Stirnen großer Englaͤnder) c) Reinheit von allen Unebenheiten und Runzeln; doch muß ſie ſich runzeln koͤnnen; aber d) Sie muß oben zuruͤck, unten vorſtehen. e) Die Augenknochen muͤſſen einfach, horizontal ſeyn — und von oben herab anzuſehen, ei- f) Jn der Mitte darf ſie von oben herab, und in die Queere — eine kleine Vertiefung ha- g) Die wenn etwas ihn, den Betruͤger, verrathen ſoll, ſo muͤſ- ſen es dieſe — denn ſeine Stirn ſey ſonſt noch ſo furcht- bar kraͤftig gebaut — Er muß um deswillen nicht Be- truͤger ſeyn. Gott machte keine Betruͤger. — Freylich, es giebt ein Quantum von Kraft und Unkraft, das leicht zur Betruͤgerey fuͤhren kann; aber nicht muß — Alſo aus der feſten Form der Stirne kann hoͤchſtens dieſe Leichtverfuͤhrbarkeit vermuthet werden — Aber wo hat denn da die mindeſte Verſtellung ſtatt? — Alſo muͤßte man die bewegliche Haut und ihre Falten mit da- zu nehmen? Dieſe muͤßten uns alſo die Frage mit be- antworten helfen — Jſt der Mann Betruͤger? — Ge- ſetzt nun, ſie koͤnnen uns dieſe Frage beantworten, und ſie koͤnnen’s allein — welches Studium des Betruͤgers wird ſie, wie etwa den Schweiß von der Stirne weg- wiſchen koͤnnen? So wegwiſchen, daß, eh’ er ſichs ver- ſieht, nicht immer und immer die Falte zuruͤckkehre? Und kann er das nicht — wie ers gewiß nicht kann — wie kann man uns denn ſo ganz zuverſichtlich ſagen: „Le „trompeur peut masquer ſon front, comme il veut, „en lui imprimant les mouvemens à ſa volonté!“ — Wohl verſtanden; ich ſage nicht: „Der Betruͤger kann „ſich nicht verſtellen.“ Er kann’s — Jch ſage auch [Spaltenumbruch] nicht: „An der Stirne iſt der Schurke durchaus uner- „kennbar.“ Aber das ſage ich: „Wenn er an der Stirne „erkennbar iſt; dieſe Erkennbarkeit mag nun in der fe- „ſten Form der Stirne, oder den Falten der Stirnhaut „liegen — ſo iſt die Verſtellung unmoͤglich — denn er „kann die feſten Theile nicht aͤndern, und die Falten, die „entſcheidend ſeyn ſollen, auf keine Weiſe austilgen.“ Mangel einer Sache laͤßt ſich immer eher verbergen, als das Daſeyn einer Sache, und ich mag auch hier ſagen: „Eine Stadt auf einem Berge kann nicht verbor- „gen ſeyn! „Il y a donc, faͤhrt Pernetty fort, différentes ſortes „de fronts: & ces différences ſont très ſenſibles, mê- „me pour ceux, qui les regardent, ſans y faire beau- „coup d’attention. Les uns préviennent en faveur „de la perſonne, les autres à ſon désavantage; en ef- „fet, un front ſerein annonce la tranquillité habituel- „le de l’ame, & la douceur du caractere. Séneque a „dit: Il n’y a de vraiment ſublime que la plus haute „vertu; & rien de grand, qui ne ſoit en même tems „doux & tranquille. La partie de l’atmoſphere la plus „voiſine des aſtres, n’eſt point ſujette aux nuages, „ni agitée par des tempêtes, comme ſa partie infe- rieure; G g 2
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Ueber die Stirne.
b) Breite — die oben ſich entweder ovalirt, (wie die meiſten Stirnen großer Englaͤnder)
oder beynahe geviert iſt.
c) Reinheit von allen Unebenheiten und Runzeln; doch muß ſie ſich runzeln koͤnnen; aber
nur bey tiefem Nachdenken, Schmerzen und wuͤrdiger Jndignation.
d) Sie muß oben zuruͤck, unten vorſtehen.
e) Die Augenknochen muͤſſen einfach, horizontal ſeyn — und von oben herab anzuſehen, ei-
nen reinen Bogen darſtellen.
f) Jn der Mitte darf ſie von oben herab, und in die Queere — eine kleine Vertiefung ha-
ben, die nur bey einfachem und hoch herabfallendem Lichte merkbar iſt, und die Stirn in vier bey-
nahe gleiche Kammern abtheilt.
g) Die
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*) wenn etwas ihn, den Betruͤger, verrathen ſoll, ſo muͤſ-
ſen es dieſe — denn ſeine Stirn ſey ſonſt noch ſo furcht-
bar kraͤftig gebaut — Er muß um deswillen nicht Be-
truͤger ſeyn. Gott machte keine Betruͤger. — Freylich,
es giebt ein Quantum von Kraft und Unkraft, das leicht
zur Betruͤgerey fuͤhren kann; aber nicht muß — Alſo
aus der feſten Form der Stirne kann hoͤchſtens dieſe
Leichtverfuͤhrbarkeit vermuthet werden — Aber wo
hat denn da die mindeſte Verſtellung ſtatt? — Alſo
muͤßte man die bewegliche Haut und ihre Falten mit da-
zu nehmen? Dieſe muͤßten uns alſo die Frage mit be-
antworten helfen — Jſt der Mann Betruͤger? — Ge-
ſetzt nun, ſie koͤnnen uns dieſe Frage beantworten, und
ſie koͤnnen’s allein — welches Studium des Betruͤgers
wird ſie, wie etwa den Schweiß von der Stirne weg-
wiſchen koͤnnen? So wegwiſchen, daß, eh’ er ſichs ver-
ſieht, nicht immer und immer die Falte zuruͤckkehre? Und
kann er das nicht — wie ers gewiß nicht kann — wie
kann man uns denn ſo ganz zuverſichtlich ſagen: „Le
„trompeur peut masquer ſon front, comme il veut,
„en lui imprimant les mouvemens à ſa volonté!“ —
Wohl verſtanden; ich ſage nicht: „Der Betruͤger kann
„ſich nicht verſtellen.“ Er kann’s — Jch ſage auch
nicht: „An der Stirne iſt der Schurke durchaus uner-
„kennbar.“ Aber das ſage ich: „Wenn er an der Stirne
„erkennbar iſt; dieſe Erkennbarkeit mag nun in der fe-
„ſten Form der Stirne, oder den Falten der Stirnhaut
„liegen — ſo iſt die Verſtellung unmoͤglich — denn er
„kann die feſten Theile nicht aͤndern, und die Falten, die
„entſcheidend ſeyn ſollen, auf keine Weiſe austilgen.“
Mangel einer Sache laͤßt ſich immer eher verbergen,
als das Daſeyn einer Sache, und ich mag auch hier
ſagen:
„Eine Stadt auf einem Berge kann nicht verbor-
„gen ſeyn!
„Il y a donc, faͤhrt Pernetty fort, différentes ſortes
„de fronts: & ces différences ſont très ſenſibles, mê-
„me pour ceux, qui les regardent, ſans y faire beau-
„coup d’attention. Les uns préviennent en faveur
„de la perſonne, les autres à ſon désavantage; en ef-
„fet, un front ſerein annonce la tranquillité habituel-
„le de l’ame, & la douceur du caractere. Séneque a
„dit: Il n’y a de vraiment ſublime que la plus haute
„vertu; & rien de grand, qui ne ſoit en même tems
„doux & tranquille. La partie de l’atmoſphere la plus
„voiſine des aſtres, n’eſt point ſujette aux nuages,
„ni agitée par des tempêtes, comme ſa partie infe-
rieure;
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Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/265>, abgerufen am 16.02.2025. |