Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

III. Abschnitt. VI. Fragment.
geborne Kothseele hat als Sklave lauter Leeres, als Herr Selbstzufriedenheit und Gebieterisches im offnen Maul
vorliegender Unterlippe oder gerümpfter Nase. Der edlere Geist herrscht durch weitsehenden Blick, und in der
geschlossenen Lippe liegt Mäßigung. Dienen wird er mit Gram, niederschlagendem Auge, den Mund zu klagen
verschlossen.

Wie die vorbenannten Ursachen ein bleibendes Gepräge geben, so drückt eine Gemüthsbewegung, so
lange sie dauert, vorübergehende Spuren ein. Diese Zeichen sind zwar tiefer, als die Züge des ruhigen Gesich-
tes; dennoch werden sie gar sehr von dem Grundcharakter der bewegten bestimmt, und durch Vergleichung ver-
schiedener Gesichter, die gleiche Bewegung leiden, läßt sich der Unterschied und die besondere Natur in der Seele
im hellsten Lichte schauen. Zorn des Unvernünftigen ist lächerliches Spielgefecht, des Selbstverliebten fürch-
terliche Wut, des Edlen zurückweisend und beschämend, des Wohlwollenden mit Wehmuth vermischt und be-
wegt den Beleidiger zur Reue.

Betrübniß des Ungebildeten ist lärmend; des Selbstverliebten widerlich; des Zärtlichen voll heißer
Thränen und mittheilend; des Gesetzten, Ernsten, ganz innerlich und kaum die Muskeln der Backen gegen die
Augen gezogen, die Stirn wenig gerunzelt.

Liebe des Ungebildeten ist stürmisch, gierig; des Selbstverliebten ekelhaft, wohnt in blitzenden Augen
und gezwungenem Lächeln der gefurchten Wangen, und des verzogenen Mauls.

Des Zärtlichen schmachtend, die Augen feucht, der Mund zum Bitten zusammengezogen; des Ge-
bildeten ernstlich, den Gegenstand starr anschauend, voll Offenheit in der Stirn und dem zum Reden gefaßten
Munde.

Mit einem Worte: die Empfindungen des gesetzten Menschen verrathen sich schwächer -- die der Ro-
hen werden zu Grimassen, sind daher kein Gegenstand des Schulkünstlers, wohl aber des Gesichtkenners und
Sittenlehrers, um vor übertriebener Aeußerung der Gemüthsbewegungen die Jugend zu warnen, und sittlich
zu zeigen, wie beschwerlich man der Gesellschaft wird.

Denn so sind die Gefühle eines Wohlwollenden mittheilend und rührend, oder flößen Ehrfurcht ein,
die aber eines Boshaften fürchterlich, verhaßt oder lächerlich.

Oeftere Bewegungen graben ihre Eindrücke so tief, daß sie dem Gepräge der Natur gleich kommen; und
dann kann man sicher seyn, daß zu diesen Gefühlen das Herz sehr geneigt sey. Eine Wahrheit, die das Lesen
der rührenden Dichter, die Vorstellung gesitteter Schauspieler sehr erklärt, und das Herumführen eines Jünglings
zu Auftritten des menschlichen Elends und zu Sterbenden sehr empfiehlt.

Häufiger

III. Abſchnitt. VI. Fragment.
geborne Kothſeele hat als Sklave lauter Leeres, als Herr Selbſtzufriedenheit und Gebieteriſches im offnen Maul
vorliegender Unterlippe oder geruͤmpfter Naſe. Der edlere Geiſt herrſcht durch weitſehenden Blick, und in der
geſchloſſenen Lippe liegt Maͤßigung. Dienen wird er mit Gram, niederſchlagendem Auge, den Mund zu klagen
verſchloſſen.

Wie die vorbenannten Urſachen ein bleibendes Gepraͤge geben, ſo druͤckt eine Gemuͤthsbewegung, ſo
lange ſie dauert, voruͤbergehende Spuren ein. Dieſe Zeichen ſind zwar tiefer, als die Zuͤge des ruhigen Geſich-
tes; dennoch werden ſie gar ſehr von dem Grundcharakter der bewegten beſtimmt, und durch Vergleichung ver-
ſchiedener Geſichter, die gleiche Bewegung leiden, laͤßt ſich der Unterſchied und die beſondere Natur in der Seele
im hellſten Lichte ſchauen. Zorn des Unvernuͤnftigen iſt laͤcherliches Spielgefecht, des Selbſtverliebten fuͤrch-
terliche Wut, des Edlen zuruͤckweiſend und beſchaͤmend, des Wohlwollenden mit Wehmuth vermiſcht und be-
wegt den Beleidiger zur Reue.

Betruͤbniß des Ungebildeten iſt laͤrmend; des Selbſtverliebten widerlich; des Zaͤrtlichen voll heißer
Thraͤnen und mittheilend; des Geſetzten, Ernſten, ganz innerlich und kaum die Muskeln der Backen gegen die
Augen gezogen, die Stirn wenig gerunzelt.

Liebe des Ungebildeten iſt ſtuͤrmiſch, gierig; des Selbſtverliebten ekelhaft, wohnt in blitzenden Augen
und gezwungenem Laͤcheln der gefurchten Wangen, und des verzogenen Mauls.

Des Zaͤrtlichen ſchmachtend, die Augen feucht, der Mund zum Bitten zuſammengezogen; des Ge-
bildeten ernſtlich, den Gegenſtand ſtarr anſchauend, voll Offenheit in der Stirn und dem zum Reden gefaßten
Munde.

Mit einem Worte: die Empfindungen des geſetzten Menſchen verrathen ſich ſchwaͤcher — die der Ro-
hen werden zu Grimaſſen, ſind daher kein Gegenſtand des Schulkuͤnſtlers, wohl aber des Geſichtkenners und
Sittenlehrers, um vor uͤbertriebener Aeußerung der Gemuͤthsbewegungen die Jugend zu warnen, und ſittlich
zu zeigen, wie beſchwerlich man der Geſellſchaft wird.

Denn ſo ſind die Gefuͤhle eines Wohlwollenden mittheilend und ruͤhrend, oder floͤßen Ehrfurcht ein,
die aber eines Boshaften fuͤrchterlich, verhaßt oder laͤcherlich.

Oeftere Bewegungen graben ihre Eindruͤcke ſo tief, daß ſie dem Gepraͤge der Natur gleich kommen; und
dann kann man ſicher ſeyn, daß zu dieſen Gefuͤhlen das Herz ſehr geneigt ſey. Eine Wahrheit, die das Leſen
der ruͤhrenden Dichter, die Vorſtellung geſitteter Schauſpieler ſehr erklaͤrt, und das Herumfuͤhren eines Juͤnglings
zu Auftritten des menſchlichen Elends und zu Sterbenden ſehr empfiehlt.

Haͤufiger
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0220" n="190"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">III.</hi> Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">VI.</hi> Fragment.</hi></fw><lb/>
geborne Koth&#x017F;eele hat als Sklave lauter Leeres, als Herr Selb&#x017F;tzufriedenheit und Gebieteri&#x017F;ches im offnen Maul<lb/>
vorliegender Unterlippe oder geru&#x0364;mpfter Na&#x017F;e. Der edlere Gei&#x017F;t herr&#x017F;cht durch weit&#x017F;ehenden Blick, und in der<lb/>
ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Lippe liegt Ma&#x0364;ßigung. Dienen wird er mit Gram, nieder&#x017F;chlagendem Auge, den Mund zu klagen<lb/>
ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
            <p>Wie die vorbenannten Ur&#x017F;achen ein bleibendes Gepra&#x0364;ge geben, &#x017F;o dru&#x0364;ckt eine Gemu&#x0364;thsbewegung, &#x017F;o<lb/>
lange &#x017F;ie dauert, voru&#x0364;bergehende Spuren ein. Die&#x017F;e Zeichen &#x017F;ind zwar tiefer, als die Zu&#x0364;ge des ruhigen Ge&#x017F;ich-<lb/>
tes; dennoch werden &#x017F;ie gar &#x017F;ehr von dem Grundcharakter der bewegten be&#x017F;timmt, und durch Vergleichung ver-<lb/>
&#x017F;chiedener Ge&#x017F;ichter, die gleiche Bewegung leiden, la&#x0364;ßt &#x017F;ich der Unter&#x017F;chied und die be&#x017F;ondere Natur in der Seele<lb/>
im hell&#x017F;ten Lichte &#x017F;chauen. Zorn des Unvernu&#x0364;nftigen i&#x017F;t la&#x0364;cherliches Spielgefecht, des Selb&#x017F;tverliebten fu&#x0364;rch-<lb/>
terliche Wut, des Edlen zuru&#x0364;ckwei&#x017F;end und be&#x017F;cha&#x0364;mend, des Wohlwollenden mit Wehmuth vermi&#x017F;cht und be-<lb/>
wegt den Beleidiger zur Reue.</p><lb/>
            <p>Betru&#x0364;bniß des Ungebildeten i&#x017F;t la&#x0364;rmend; des Selb&#x017F;tverliebten widerlich; des Za&#x0364;rtlichen voll heißer<lb/>
Thra&#x0364;nen und mittheilend; des Ge&#x017F;etzten, Ern&#x017F;ten, ganz innerlich und kaum die Muskeln der Backen gegen die<lb/>
Augen gezogen, die Stirn wenig gerunzelt.</p><lb/>
            <p>Liebe des Ungebildeten i&#x017F;t &#x017F;tu&#x0364;rmi&#x017F;ch, gierig; des Selb&#x017F;tverliebten ekelhaft, wohnt in blitzenden Augen<lb/>
und gezwungenem La&#x0364;cheln der gefurchten Wangen, und des verzogenen Mauls.</p><lb/>
            <p>Des Za&#x0364;rtlichen &#x017F;chmachtend, die Augen feucht, der Mund zum Bitten zu&#x017F;ammengezogen; des Ge-<lb/>
bildeten ern&#x017F;tlich, den Gegen&#x017F;tand &#x017F;tarr an&#x017F;chauend, voll Offenheit in der Stirn und dem zum Reden gefaßten<lb/>
Munde.</p><lb/>
            <p>Mit einem Worte: die Empfindungen des ge&#x017F;etzten Men&#x017F;chen verrathen &#x017F;ich &#x017F;chwa&#x0364;cher &#x2014; die der Ro-<lb/>
hen werden zu Grima&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ind daher kein Gegen&#x017F;tand des Schulku&#x0364;n&#x017F;tlers, wohl aber des Ge&#x017F;ichtkenners und<lb/>
Sittenlehrers, um vor u&#x0364;bertriebener Aeußerung der Gemu&#x0364;thsbewegungen die Jugend zu warnen, und &#x017F;ittlich<lb/>
zu zeigen, wie be&#x017F;chwerlich man der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft wird.</p><lb/>
            <p>Denn &#x017F;o &#x017F;ind die Gefu&#x0364;hle eines Wohlwollenden mittheilend und ru&#x0364;hrend, oder flo&#x0364;ßen Ehrfurcht ein,<lb/>
die aber eines Boshaften fu&#x0364;rchterlich, verhaßt oder la&#x0364;cherlich.</p><lb/>
            <p>Oeftere Bewegungen graben ihre Eindru&#x0364;cke &#x017F;o tief, daß &#x017F;ie dem Gepra&#x0364;ge der Natur gleich kommen; und<lb/>
dann kann man &#x017F;icher &#x017F;eyn, daß zu die&#x017F;en Gefu&#x0364;hlen das Herz &#x017F;ehr geneigt &#x017F;ey. Eine Wahrheit, die das Le&#x017F;en<lb/>
der ru&#x0364;hrenden Dichter, die Vor&#x017F;tellung ge&#x017F;itteter Schau&#x017F;pieler &#x017F;ehr erkla&#x0364;rt, und das Herumfu&#x0364;hren eines Ju&#x0364;nglings<lb/>
zu Auftritten des men&#x017F;chlichen Elends und zu Sterbenden &#x017F;ehr empfiehlt.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Ha&#x0364;ufiger</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[190/0220] III. Abſchnitt. VI. Fragment. geborne Kothſeele hat als Sklave lauter Leeres, als Herr Selbſtzufriedenheit und Gebieteriſches im offnen Maul vorliegender Unterlippe oder geruͤmpfter Naſe. Der edlere Geiſt herrſcht durch weitſehenden Blick, und in der geſchloſſenen Lippe liegt Maͤßigung. Dienen wird er mit Gram, niederſchlagendem Auge, den Mund zu klagen verſchloſſen. Wie die vorbenannten Urſachen ein bleibendes Gepraͤge geben, ſo druͤckt eine Gemuͤthsbewegung, ſo lange ſie dauert, voruͤbergehende Spuren ein. Dieſe Zeichen ſind zwar tiefer, als die Zuͤge des ruhigen Geſich- tes; dennoch werden ſie gar ſehr von dem Grundcharakter der bewegten beſtimmt, und durch Vergleichung ver- ſchiedener Geſichter, die gleiche Bewegung leiden, laͤßt ſich der Unterſchied und die beſondere Natur in der Seele im hellſten Lichte ſchauen. Zorn des Unvernuͤnftigen iſt laͤcherliches Spielgefecht, des Selbſtverliebten fuͤrch- terliche Wut, des Edlen zuruͤckweiſend und beſchaͤmend, des Wohlwollenden mit Wehmuth vermiſcht und be- wegt den Beleidiger zur Reue. Betruͤbniß des Ungebildeten iſt laͤrmend; des Selbſtverliebten widerlich; des Zaͤrtlichen voll heißer Thraͤnen und mittheilend; des Geſetzten, Ernſten, ganz innerlich und kaum die Muskeln der Backen gegen die Augen gezogen, die Stirn wenig gerunzelt. Liebe des Ungebildeten iſt ſtuͤrmiſch, gierig; des Selbſtverliebten ekelhaft, wohnt in blitzenden Augen und gezwungenem Laͤcheln der gefurchten Wangen, und des verzogenen Mauls. Des Zaͤrtlichen ſchmachtend, die Augen feucht, der Mund zum Bitten zuſammengezogen; des Ge- bildeten ernſtlich, den Gegenſtand ſtarr anſchauend, voll Offenheit in der Stirn und dem zum Reden gefaßten Munde. Mit einem Worte: die Empfindungen des geſetzten Menſchen verrathen ſich ſchwaͤcher — die der Ro- hen werden zu Grimaſſen, ſind daher kein Gegenſtand des Schulkuͤnſtlers, wohl aber des Geſichtkenners und Sittenlehrers, um vor uͤbertriebener Aeußerung der Gemuͤthsbewegungen die Jugend zu warnen, und ſittlich zu zeigen, wie beſchwerlich man der Geſellſchaft wird. Denn ſo ſind die Gefuͤhle eines Wohlwollenden mittheilend und ruͤhrend, oder floͤßen Ehrfurcht ein, die aber eines Boshaften fuͤrchterlich, verhaßt oder laͤcherlich. Oeftere Bewegungen graben ihre Eindruͤcke ſo tief, daß ſie dem Gepraͤge der Natur gleich kommen; und dann kann man ſicher ſeyn, daß zu dieſen Gefuͤhlen das Herz ſehr geneigt ſey. Eine Wahrheit, die das Leſen der ruͤhrenden Dichter, die Vorſtellung geſitteter Schauſpieler ſehr erklaͤrt, und das Herumfuͤhren eines Juͤnglings zu Auftritten des menſchlichen Elends und zu Sterbenden ſehr empfiehlt. Haͤufiger

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/220
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/220>, abgerufen am 28.04.2024.