Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite
Stellen aus einem Manuscripte von Th.

Häufiger Umgang und enge Verbindung bildet die Menschen so sehr einander ähnlich, daß sich nicht
nur die Gemüther an einander abschleifen, sondern auch ihre Stimmen und Gesichter etwas ähnliches bekommen.
Beyspiele sind mir genug bekannt worden.

Jeder Mensch hat seine eigene Lieblingsbewegung, die seinen ganzen Charakter auf einmal aufs deut-
lichste darstellen würde, wollte oder könnte man ihn darinn überraschen und lange genug so vor Augen haben, ihn
darinn zu mahlen. Eine mäßige Sammlung solcher Porträte wäre die Schule, d. i. Vorbereitung der Phy-
siognomik, und würde Lavaters Fragmente zehnmal gemeinnütziger machen.

Gleiches würde eine Folge von abgeschilderten Bewegungen leisten, der das Jndividuum eines Men-
schen fähig ist. Die Zahl derselben ist bey lebhaften Menschen sehr groß und vorübergehend, bey kühlen, gebil-
deten weit weniger und ernsthafter.

Wie jene Sammlung von idealisirten Jndividuen eine ausgedehnte Menschenkenntniß, das ist, eine
über viele Gemüthsarten verbreitete Wissenschaft geben würde, so müßte die Sammlung der Gesichtsverände-
rungen eines einzelnen eine Geschichte des menschlichen Herzens liefern, und zwar sowohl was für ein trotziges und
verzagtes Ding das Herz des Ungebildeten sey, als wie weit es sich durch Vernunft und Erfahrung umbilden
könne.

Welche Schule für Jünglinge, neben einander zu sehen Christum als lehrend, als fragend: wen sucht
ihr? als sich krümmend im Garten, als weinend über Jerusalem, als verscheidend! immer derselbe Gott-
mensch, und bey der großen Verschiedenheit der Lagen die nämlichen Hauptzüge von Wunder, Vernunft,
Sanftmuth.

Den Cäsar scherzend mit den Seeräubern, die ihn fiengen, weinend über den Anblick von Pompejens
Kopf, hinsinkend mit beschämendem, wehmüthigem Blicke gegen den Brutus: Et tu, Brute?

Auf der andern Seite den Belsazar, schmausend mit seinen Großen, blaß über den schreibenden Wand-
finger.

Jenen Tyrannen, wütend über das Leben seiner Bürger, dann umringt von gerichteten Elenden, noch
unter Schwertern flehend Erbarmung: Jch will euch allen vergeben.

Da mit der Empfindung der Ton im Verhältnisse steht, sollte dann nicht jeder Mensch einen Grundton
haben, in dem alle, deren er fähig ist, zusammenlaufen; und wäre dieß nicht derjenige, den er bey ruhiger
Lage, bey gleichgültigen Unterredungen annimmt? Denn sein ruhiges Gesicht enhält ja die Anlage zu allen Zü-
gen, die er annehmen kann.

Diese Töne müßte ein Tonkünstler feines Ohres sammeln, klassifiziren und dann bezeichnen können,
und am Ende müßte man jedem gegebenen Gesichte seinen Natuxton beylegen können; doch mit Vorbehalt der

Veränderun-
Stellen aus einem Manuſcripte von Th.

Haͤufiger Umgang und enge Verbindung bildet die Menſchen ſo ſehr einander aͤhnlich, daß ſich nicht
nur die Gemuͤther an einander abſchleifen, ſondern auch ihre Stimmen und Geſichter etwas aͤhnliches bekommen.
Beyſpiele ſind mir genug bekannt worden.

Jeder Menſch hat ſeine eigene Lieblingsbewegung, die ſeinen ganzen Charakter auf einmal aufs deut-
lichſte darſtellen wuͤrde, wollte oder koͤnnte man ihn darinn uͤberraſchen und lange genug ſo vor Augen haben, ihn
darinn zu mahlen. Eine maͤßige Sammlung ſolcher Portraͤte waͤre die Schule, d. i. Vorbereitung der Phy-
ſiognomik, und wuͤrde Lavaters Fragmente zehnmal gemeinnuͤtziger machen.

Gleiches wuͤrde eine Folge von abgeſchilderten Bewegungen leiſten, der das Jndividuum eines Men-
ſchen faͤhig iſt. Die Zahl derſelben iſt bey lebhaften Menſchen ſehr groß und voruͤbergehend, bey kuͤhlen, gebil-
deten weit weniger und ernſthafter.

Wie jene Sammlung von idealiſirten Jndividuen eine ausgedehnte Menſchenkenntniß, das iſt, eine
uͤber viele Gemuͤthsarten verbreitete Wiſſenſchaft geben wuͤrde, ſo muͤßte die Sammlung der Geſichtsveraͤnde-
rungen eines einzelnen eine Geſchichte des menſchlichen Herzens liefern, und zwar ſowohl was fuͤr ein trotziges und
verzagtes Ding das Herz des Ungebildeten ſey, als wie weit es ſich durch Vernunft und Erfahrung umbilden
koͤnne.

Welche Schule fuͤr Juͤnglinge, neben einander zu ſehen Chriſtum als lehrend, als fragend: wen ſucht
ihr? als ſich kruͤmmend im Garten, als weinend uͤber Jeruſalem, als verſcheidend! immer derſelbe Gott-
menſch, und bey der großen Verſchiedenheit der Lagen die naͤmlichen Hauptzuͤge von Wunder, Vernunft,
Sanftmuth.

Den Caͤſar ſcherzend mit den Seeraͤubern, die ihn fiengen, weinend uͤber den Anblick von Pompejens
Kopf, hinſinkend mit beſchaͤmendem, wehmuͤthigem Blicke gegen den Brutus: Et tu, Brute?

Auf der andern Seite den Belſazar, ſchmauſend mit ſeinen Großen, blaß uͤber den ſchreibenden Wand-
finger.

Jenen Tyrannen, wuͤtend uͤber das Leben ſeiner Buͤrger, dann umringt von gerichteten Elenden, noch
unter Schwertern flehend Erbarmung: Jch will euch allen vergeben.

Da mit der Empfindung der Ton im Verhaͤltniſſe ſteht, ſollte dann nicht jeder Menſch einen Grundton
haben, in dem alle, deren er faͤhig iſt, zuſammenlaufen; und waͤre dieß nicht derjenige, den er bey ruhiger
Lage, bey gleichguͤltigen Unterredungen annimmt? Denn ſein ruhiges Geſicht enhaͤlt ja die Anlage zu allen Zuͤ-
gen, die er annehmen kann.

Dieſe Toͤne muͤßte ein Tonkuͤnſtler feines Ohres ſammeln, klaſſifiziren und dann bezeichnen koͤnnen,
und am Ende muͤßte man jedem gegebenen Geſichte ſeinen Natuxton beylegen koͤnnen; doch mit Vorbehalt der

Veraͤnderun-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0221" n="191"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Stellen aus einem Manu&#x017F;cripte von Th.</hi> </fw><lb/>
            <p>Ha&#x0364;ufiger Umgang und enge Verbindung bildet die Men&#x017F;chen &#x017F;o &#x017F;ehr einander a&#x0364;hnlich, daß &#x017F;ich nicht<lb/>
nur die Gemu&#x0364;ther an einander ab&#x017F;chleifen, &#x017F;ondern auch ihre Stimmen und Ge&#x017F;ichter etwas a&#x0364;hnliches bekommen.<lb/>
Bey&#x017F;piele &#x017F;ind mir genug bekannt worden.</p><lb/>
            <p>Jeder Men&#x017F;ch hat &#x017F;eine eigene Lieblingsbewegung, die &#x017F;einen ganzen Charakter auf einmal aufs deut-<lb/>
lich&#x017F;te dar&#x017F;tellen wu&#x0364;rde, wollte oder ko&#x0364;nnte man ihn darinn u&#x0364;berra&#x017F;chen und lange genug &#x017F;o vor Augen haben, ihn<lb/>
darinn zu mahlen. Eine ma&#x0364;ßige Sammlung &#x017F;olcher Portra&#x0364;te wa&#x0364;re die Schule, d. i. Vorbereitung der Phy-<lb/>
&#x017F;iognomik, und wu&#x0364;rde Lavaters Fragmente zehnmal gemeinnu&#x0364;tziger machen.</p><lb/>
            <p>Gleiches wu&#x0364;rde eine Folge von abge&#x017F;childerten Bewegungen lei&#x017F;ten, der das Jndividuum eines Men-<lb/>
&#x017F;chen fa&#x0364;hig i&#x017F;t. Die Zahl der&#x017F;elben i&#x017F;t bey lebhaften Men&#x017F;chen &#x017F;ehr groß und voru&#x0364;bergehend, bey ku&#x0364;hlen, gebil-<lb/>
deten weit weniger und ern&#x017F;thafter.</p><lb/>
            <p>Wie jene Sammlung von ideali&#x017F;irten Jndividuen eine ausgedehnte Men&#x017F;chenkenntniß, das i&#x017F;t, eine<lb/>
u&#x0364;ber viele Gemu&#x0364;thsarten verbreitete Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft geben wu&#x0364;rde, &#x017F;o mu&#x0364;ßte die Sammlung der Ge&#x017F;ichtsvera&#x0364;nde-<lb/>
rungen eines einzelnen eine Ge&#x017F;chichte des men&#x017F;chlichen Herzens liefern, und zwar &#x017F;owohl was fu&#x0364;r ein trotziges und<lb/>
verzagtes Ding das Herz des Ungebildeten &#x017F;ey, als wie weit es &#x017F;ich durch Vernunft und Erfahrung umbilden<lb/>
ko&#x0364;nne.</p><lb/>
            <p>Welche Schule fu&#x0364;r Ju&#x0364;nglinge, neben einander zu &#x017F;ehen Chri&#x017F;tum als lehrend, als fragend: wen &#x017F;ucht<lb/>
ihr? als &#x017F;ich kru&#x0364;mmend im Garten, als weinend u&#x0364;ber Jeru&#x017F;alem, als ver&#x017F;cheidend! immer der&#x017F;elbe Gott-<lb/>
men&#x017F;ch, und bey der großen Ver&#x017F;chiedenheit der Lagen die na&#x0364;mlichen Hauptzu&#x0364;ge von Wunder, Vernunft,<lb/>
Sanftmuth.</p><lb/>
            <p>Den Ca&#x0364;&#x017F;ar &#x017F;cherzend mit den Seera&#x0364;ubern, die ihn fiengen, weinend u&#x0364;ber den Anblick von Pompejens<lb/>
Kopf, hin&#x017F;inkend mit be&#x017F;cha&#x0364;mendem, wehmu&#x0364;thigem Blicke gegen den Brutus: <hi rendition="#aq">Et tu, Brute?</hi></p><lb/>
            <p>Auf der andern Seite den <hi rendition="#fr">Bel&#x017F;azar,</hi> &#x017F;chmau&#x017F;end mit &#x017F;einen Großen, blaß u&#x0364;ber den &#x017F;chreibenden Wand-<lb/>
finger.</p><lb/>
            <p>Jenen Tyrannen, wu&#x0364;tend u&#x0364;ber das Leben &#x017F;einer Bu&#x0364;rger, dann umringt von gerichteten Elenden, noch<lb/>
unter Schwertern flehend Erbarmung: <hi rendition="#fr">Jch will euch allen vergeben.</hi></p><lb/>
            <p>Da mit der Empfindung der Ton im Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;teht, &#x017F;ollte dann nicht jeder Men&#x017F;ch einen Grundton<lb/>
haben, in dem alle, deren er fa&#x0364;hig i&#x017F;t, zu&#x017F;ammenlaufen; und wa&#x0364;re dieß nicht derjenige, den er bey ruhiger<lb/>
Lage, bey gleichgu&#x0364;ltigen Unterredungen annimmt? Denn &#x017F;ein ruhiges Ge&#x017F;icht enha&#x0364;lt ja die Anlage zu allen Zu&#x0364;-<lb/>
gen, die er annehmen kann.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e To&#x0364;ne mu&#x0364;ßte ein Tonku&#x0364;n&#x017F;tler feines Ohres &#x017F;ammeln, kla&#x017F;&#x017F;ifiziren und dann bezeichnen ko&#x0364;nnen,<lb/>
und am Ende mu&#x0364;ßte man jedem gegebenen Ge&#x017F;ichte &#x017F;einen Natuxton beylegen ko&#x0364;nnen; doch mit Vorbehalt der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Vera&#x0364;nderun-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[191/0221] Stellen aus einem Manuſcripte von Th. Haͤufiger Umgang und enge Verbindung bildet die Menſchen ſo ſehr einander aͤhnlich, daß ſich nicht nur die Gemuͤther an einander abſchleifen, ſondern auch ihre Stimmen und Geſichter etwas aͤhnliches bekommen. Beyſpiele ſind mir genug bekannt worden. Jeder Menſch hat ſeine eigene Lieblingsbewegung, die ſeinen ganzen Charakter auf einmal aufs deut- lichſte darſtellen wuͤrde, wollte oder koͤnnte man ihn darinn uͤberraſchen und lange genug ſo vor Augen haben, ihn darinn zu mahlen. Eine maͤßige Sammlung ſolcher Portraͤte waͤre die Schule, d. i. Vorbereitung der Phy- ſiognomik, und wuͤrde Lavaters Fragmente zehnmal gemeinnuͤtziger machen. Gleiches wuͤrde eine Folge von abgeſchilderten Bewegungen leiſten, der das Jndividuum eines Men- ſchen faͤhig iſt. Die Zahl derſelben iſt bey lebhaften Menſchen ſehr groß und voruͤbergehend, bey kuͤhlen, gebil- deten weit weniger und ernſthafter. Wie jene Sammlung von idealiſirten Jndividuen eine ausgedehnte Menſchenkenntniß, das iſt, eine uͤber viele Gemuͤthsarten verbreitete Wiſſenſchaft geben wuͤrde, ſo muͤßte die Sammlung der Geſichtsveraͤnde- rungen eines einzelnen eine Geſchichte des menſchlichen Herzens liefern, und zwar ſowohl was fuͤr ein trotziges und verzagtes Ding das Herz des Ungebildeten ſey, als wie weit es ſich durch Vernunft und Erfahrung umbilden koͤnne. Welche Schule fuͤr Juͤnglinge, neben einander zu ſehen Chriſtum als lehrend, als fragend: wen ſucht ihr? als ſich kruͤmmend im Garten, als weinend uͤber Jeruſalem, als verſcheidend! immer derſelbe Gott- menſch, und bey der großen Verſchiedenheit der Lagen die naͤmlichen Hauptzuͤge von Wunder, Vernunft, Sanftmuth. Den Caͤſar ſcherzend mit den Seeraͤubern, die ihn fiengen, weinend uͤber den Anblick von Pompejens Kopf, hinſinkend mit beſchaͤmendem, wehmuͤthigem Blicke gegen den Brutus: Et tu, Brute? Auf der andern Seite den Belſazar, ſchmauſend mit ſeinen Großen, blaß uͤber den ſchreibenden Wand- finger. Jenen Tyrannen, wuͤtend uͤber das Leben ſeiner Buͤrger, dann umringt von gerichteten Elenden, noch unter Schwertern flehend Erbarmung: Jch will euch allen vergeben. Da mit der Empfindung der Ton im Verhaͤltniſſe ſteht, ſollte dann nicht jeder Menſch einen Grundton haben, in dem alle, deren er faͤhig iſt, zuſammenlaufen; und waͤre dieß nicht derjenige, den er bey ruhiger Lage, bey gleichguͤltigen Unterredungen annimmt? Denn ſein ruhiges Geſicht enhaͤlt ja die Anlage zu allen Zuͤ- gen, die er annehmen kann. Dieſe Toͤne muͤßte ein Tonkuͤnſtler feines Ohres ſammeln, klaſſifiziren und dann bezeichnen koͤnnen, und am Ende muͤßte man jedem gegebenen Geſichte ſeinen Natuxton beylegen koͤnnen; doch mit Vorbehalt der Veraͤnderun-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/221
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/221>, abgerufen am 10.10.2024.