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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Sechstes Fragment.
Stellen aus einem Manuscripte von Th...

Wie das Verhältniß männlicher und weiblicher Gesichter -- so das des jugendlichen und männlichen Alters.

Die Erfahrung, daß mit der Schärfe oder Zärte des Umrisses die Heftigkeit oder das Sanfte der
Denkensart gleichen Schritt laufe, ist einer von den Beweisen, daß die Natur ihren Geschöpfen solche Gestal-
ten umgeworfen hat, die ihrer Beschaffenheit entsprechen.

Daß aber diese Zeichen einer gefühlvollen Seele sehr lesbar sind, sieht man an Kindern, die den Fal-
schen, den Rachsüchtigen, den Spion nicht um sich leiden können, und zum Unbekannten liebreicher Gemüths-
art mit offenen Armen eilen.

Was sich hierüber einzeln sagen läßt, theilt sich in Farben, Linien, Pantomimen.

Daß, allgemein gesagt, die Weiße angenehm, die Schwärze traurig, fürchterlich ist, solgt aus un-
serer Liebe zum Lichte; die sogar bey den Thieren bis zum Zueilen ins Feuer ausartet -- und unserm Abscheu
vor der Finsterniß. Daß dieß nun wieder seinen Grund darinn habe, weil nur das Licht uns mit den Dingen
aufs deutlichste bekannt macht, unsern nach Erkenntniß hungrigen Seelen Unterhaltung verschafft, und Bedürf-
nisse finden, Gefahren vermeiden läßt; dieß alles darf ich nur erwähnen, um von dem Uebergange der Liebe des
Lichtes zur Neigung gegen alles Helle einen Wink zu geben. -- Es giebt daher eine Physiognomik der
Farben.
Gewisse Farben sind gewissen Thieren und Menschen besonders angenehm oder unangenehm. War-
um? Sie sind Ausdruck von etwas, das Beziehung auf ihren Charakter hat -- mit ihm harmo-
nirt oder disharmonirt. Die Farben sind Effekte gewisser Beschaffenheiten des Objektes und Sub-
jektes; sind also bey jedem einzelnen charakteristisch -- und werdens noch mehr durch die Art, wie
sie sich wechselsweise annehmen und zurückstoßen. Das wäre nun wieder ein unermeßliches Feld
der Nachforschung -- und zugleich wieder ein Stral aus der Sonnen-Wahrheit -- Physiogno-
mie ist alles: Alles Physiognomie!

Nicht geringer, fährt unsre Handschrift fort, ist unser natürlicher Abscheu vor allem, was mit dunk-
ler Farbe auch nur bekleidet ist, und vor dem Genusse der Erde nicht nur, sondern auch vor dem Genusse sehr
dunkelgrüner Pflanzen hat die Natur die Thiere gewarnt, weil eines sowohl schadet als das andere. Und so
schreckt ein Mensch finstern Ansehens das zarteste Kind ab, das sein Herz zu kennen noch unfähig wäre.

Die Theile der Bildung haben eine so auffallende Bedeutung, daß der Anblick des Ganzen unser
Gefühl trifft, und ihm ein so richtiges als schnelles Urtheil ablockt. So wird, um nur vor der Hand zwey Ex-

treme
A a 2
Sechstes Fragment.
Stellen aus einem Manuſcripte von Th...

Wie das Verhaͤltniß maͤnnlicher und weiblicher Geſichter — ſo das des jugendlichen und maͤnnlichen Alters.

Die Erfahrung, daß mit der Schaͤrfe oder Zaͤrte des Umriſſes die Heftigkeit oder das Sanfte der
Denkensart gleichen Schritt laufe, iſt einer von den Beweiſen, daß die Natur ihren Geſchoͤpfen ſolche Geſtal-
ten umgeworfen hat, die ihrer Beſchaffenheit entſprechen.

Daß aber dieſe Zeichen einer gefuͤhlvollen Seele ſehr lesbar ſind, ſieht man an Kindern, die den Fal-
ſchen, den Rachſuͤchtigen, den Spion nicht um ſich leiden koͤnnen, und zum Unbekannten liebreicher Gemuͤths-
art mit offenen Armen eilen.

Was ſich hieruͤber einzeln ſagen laͤßt, theilt ſich in Farben, Linien, Pantomimen.

Daß, allgemein geſagt, die Weiße angenehm, die Schwaͤrze traurig, fuͤrchterlich iſt, ſolgt aus un-
ſerer Liebe zum Lichte; die ſogar bey den Thieren bis zum Zueilen ins Feuer ausartet — und unſerm Abſcheu
vor der Finſterniß. Daß dieß nun wieder ſeinen Grund darinn habe, weil nur das Licht uns mit den Dingen
aufs deutlichſte bekannt macht, unſern nach Erkenntniß hungrigen Seelen Unterhaltung verſchafft, und Beduͤrf-
niſſe finden, Gefahren vermeiden laͤßt; dieß alles darf ich nur erwaͤhnen, um von dem Uebergange der Liebe des
Lichtes zur Neigung gegen alles Helle einen Wink zu geben. — Es giebt daher eine Phyſiognomik der
Farben.
Gewiſſe Farben ſind gewiſſen Thieren und Menſchen beſonders angenehm oder unangenehm. War-
um? Sie ſind Ausdruck von etwas, das Beziehung auf ihren Charakter hat — mit ihm harmo-
nirt oder disharmonirt. Die Farben ſind Effekte gewiſſer Beſchaffenheiten des Objektes und Sub-
jektes; ſind alſo bey jedem einzelnen charakteriſtiſch — und werdens noch mehr durch die Art, wie
ſie ſich wechſelsweiſe annehmen und zuruͤckſtoßen. Das waͤre nun wieder ein unermeßliches Feld
der Nachforſchung — und zugleich wieder ein Stral aus der Sonnen-Wahrheit — Phyſiogno-
mie iſt alles: Alles Phyſiognomie!

Nicht geringer, faͤhrt unſre Handſchrift fort, iſt unſer natuͤrlicher Abſcheu vor allem, was mit dunk-
ler Farbe auch nur bekleidet iſt, und vor dem Genuſſe der Erde nicht nur, ſondern auch vor dem Genuſſe ſehr
dunkelgruͤner Pflanzen hat die Natur die Thiere gewarnt, weil eines ſowohl ſchadet als das andere. Und ſo
ſchreckt ein Menſch finſtern Anſehens das zarteſte Kind ab, das ſein Herz zu kennen noch unfaͤhig waͤre.

Die Theile der Bildung haben eine ſo auffallende Bedeutung, daß der Anblick des Ganzen unſer
Gefuͤhl trifft, und ihm ein ſo richtiges als ſchnelles Urtheil ablockt. So wird, um nur vor der Hand zwey Ex-

treme
A a 2
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[187/0217] Sechstes Fragment. Stellen aus einem Manuſcripte von Th... Wie das Verhaͤltniß maͤnnlicher und weiblicher Geſichter — ſo das des jugendlichen und maͤnnlichen Alters. Die Erfahrung, daß mit der Schaͤrfe oder Zaͤrte des Umriſſes die Heftigkeit oder das Sanfte der Denkensart gleichen Schritt laufe, iſt einer von den Beweiſen, daß die Natur ihren Geſchoͤpfen ſolche Geſtal- ten umgeworfen hat, die ihrer Beſchaffenheit entſprechen. Daß aber dieſe Zeichen einer gefuͤhlvollen Seele ſehr lesbar ſind, ſieht man an Kindern, die den Fal- ſchen, den Rachſuͤchtigen, den Spion nicht um ſich leiden koͤnnen, und zum Unbekannten liebreicher Gemuͤths- art mit offenen Armen eilen. Was ſich hieruͤber einzeln ſagen laͤßt, theilt ſich in Farben, Linien, Pantomimen. Daß, allgemein geſagt, die Weiße angenehm, die Schwaͤrze traurig, fuͤrchterlich iſt, ſolgt aus un- ſerer Liebe zum Lichte; die ſogar bey den Thieren bis zum Zueilen ins Feuer ausartet — und unſerm Abſcheu vor der Finſterniß. Daß dieß nun wieder ſeinen Grund darinn habe, weil nur das Licht uns mit den Dingen aufs deutlichſte bekannt macht, unſern nach Erkenntniß hungrigen Seelen Unterhaltung verſchafft, und Beduͤrf- niſſe finden, Gefahren vermeiden laͤßt; dieß alles darf ich nur erwaͤhnen, um von dem Uebergange der Liebe des Lichtes zur Neigung gegen alles Helle einen Wink zu geben. — Es giebt daher eine Phyſiognomik der Farben. Gewiſſe Farben ſind gewiſſen Thieren und Menſchen beſonders angenehm oder unangenehm. War- um? Sie ſind Ausdruck von etwas, das Beziehung auf ihren Charakter hat — mit ihm harmo- nirt oder disharmonirt. Die Farben ſind Effekte gewiſſer Beſchaffenheiten des Objektes und Sub- jektes; ſind alſo bey jedem einzelnen charakteriſtiſch — und werdens noch mehr durch die Art, wie ſie ſich wechſelsweiſe annehmen und zuruͤckſtoßen. Das waͤre nun wieder ein unermeßliches Feld der Nachforſchung — und zugleich wieder ein Stral aus der Sonnen-Wahrheit — Phyſiogno- mie iſt alles: Alles Phyſiognomie! Nicht geringer, faͤhrt unſre Handſchrift fort, iſt unſer natuͤrlicher Abſcheu vor allem, was mit dunk- ler Farbe auch nur bekleidet iſt, und vor dem Genuſſe der Erde nicht nur, ſondern auch vor dem Genuſſe ſehr dunkelgruͤner Pflanzen hat die Natur die Thiere gewarnt, weil eines ſowohl ſchadet als das andere. Und ſo ſchreckt ein Menſch finſtern Anſehens das zarteſte Kind ab, das ſein Herz zu kennen noch unfaͤhig waͤre. Die Theile der Bildung haben eine ſo auffallende Bedeutung, daß der Anblick des Ganzen unſer Gefuͤhl trifft, und ihm ein ſo richtiges als ſchnelles Urtheil ablockt. So wird, um nur vor der Hand zwey Ex- treme A a 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/217>, abgerufen am 24.11.2024.