Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

Ueber das Studium der Physiognomik.
fehlt! Wahrheit geht immer der Schönheit vor. Jch will lieber wahr schreiben als schön. Jch
lobe mir das Aengstliche auch nicht; aber die besten Erasmusse von Holbein übertreffen weit alle
Vandyks an Wahrheit und Naivetät. Das kleine Detail verachten, heißt die Natur ver-
achten.
Wo ist mehr Detail und weniger Aengstlichkeit, als in den Werken der Natur? Für
den Physiognomisten wären Tenners Köpfe unbezahlbar, ob er gleich mit seiner mikroskopischen
Detaillirung den Geist des Ganzen nicht zu vereinigen wußte. -- Auch Soutmann, so gut ei-
nige seiner Köpfe sind, ist der Mann nicht, der sich für das Studium empfehlen ließe. Blyhofs
Bestimmtheit und Festigkeit ist mir schätzbarer. Für den Kenner, den Mahler, den physiognomi-
schen Menschen aber wird kaum etwas Morins Porträten beykommen.

Von Rembrand habe ich nur wenige Köpfe gesehen, die für den Physiognomisten brauch-
bar wären.

Cölla wäre vielleicht einer der größten Porträtmahler geworden, wenn er gesunder wäre,
und mehr Kenntniß und Uebung hätte -- Seine Köpfe sind beynahe alle Text fürs Studium.

Unter den historischen Mahlern und Zeichnern, wovon die wenigsten Physiognomen waren,
die meisten sich nur um den Ausdruck der Leidenschaften bekümmerten -- sind folgende in mancher
Absicht vortreffliche bemerkenswerth -- wiewohl im Grunde auch die schlechtesten Stoff fürs Stu-
dium geben können. --

Von Titian lerne der Physiognomist Erhabenheit, Natur, Adel, und Züge trunkner Wol-
lust. Jn Düßeldorf ist ein Porträt von ihm, das an Natürlichkeit und Größe wenige seines glei-
chen hat.

Von Michelange alle Mienen des Stolzes, der Verachtung, des Ernstes und des Trutzes.

Von Guido Remi Züge stiller, reiner, himmlischer Liebe.

Von Rubens Lineamente des Grimms, und der Kraft, der Sanftheit, und -- der
Hölle. Schade, daß er nicht mehr Porträte mahlte. Sein Cardinal Ximenes zu Düßeldorf geht
mir über die besten Vandyks. --

Von

Ueber das Studium der Phyſiognomik.
fehlt! Wahrheit geht immer der Schoͤnheit vor. Jch will lieber wahr ſchreiben als ſchoͤn. Jch
lobe mir das Aengſtliche auch nicht; aber die beſten Erasmuſſe von Holbein uͤbertreffen weit alle
Vandyks an Wahrheit und Naivetaͤt. Das kleine Detail verachten, heißt die Natur ver-
achten.
Wo iſt mehr Detail und weniger Aengſtlichkeit, als in den Werken der Natur? Fuͤr
den Phyſiognomiſten waͤren Tenners Koͤpfe unbezahlbar, ob er gleich mit ſeiner mikroſkopiſchen
Detaillirung den Geiſt des Ganzen nicht zu vereinigen wußte. — Auch Soutmann, ſo gut ei-
nige ſeiner Koͤpfe ſind, iſt der Mann nicht, der ſich fuͤr das Studium empfehlen ließe. Blyhofs
Beſtimmtheit und Feſtigkeit iſt mir ſchaͤtzbarer. Fuͤr den Kenner, den Mahler, den phyſiognomi-
ſchen Menſchen aber wird kaum etwas Morins Portraͤten beykommen.

Von Rembrand habe ich nur wenige Koͤpfe geſehen, die fuͤr den Phyſiognomiſten brauch-
bar waͤren.

Coͤlla waͤre vielleicht einer der groͤßten Portraͤtmahler geworden, wenn er geſunder waͤre,
und mehr Kenntniß und Uebung haͤtte — Seine Koͤpfe ſind beynahe alle Text fuͤrs Studium.

Unter den hiſtoriſchen Mahlern und Zeichnern, wovon die wenigſten Phyſiognomen waren,
die meiſten ſich nur um den Ausdruck der Leidenſchaften bekuͤmmerten — ſind folgende in mancher
Abſicht vortreffliche bemerkenswerth — wiewohl im Grunde auch die ſchlechteſten Stoff fuͤrs Stu-
dium geben koͤnnen. —

Von Titian lerne der Phyſiognomiſt Erhabenheit, Natur, Adel, und Zuͤge trunkner Wol-
luſt. Jn Duͤßeldorf iſt ein Portraͤt von ihm, das an Natuͤrlichkeit und Groͤße wenige ſeines glei-
chen hat.

Von Michelange alle Mienen des Stolzes, der Verachtung, des Ernſtes und des Trutzes.

Von Guido Remi Zuͤge ſtiller, reiner, himmliſcher Liebe.

Von Rubens Lineamente des Grimms, und der Kraft, der Sanftheit, und — der
Hoͤlle. Schade, daß er nicht mehr Portraͤte mahlte. Sein Cardinal Ximenes zu Duͤßeldorf geht
mir uͤber die beſten Vandyks.

Von
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0189" n="159"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Ueber das Studium der Phy&#x017F;iognomik.</hi></fw><lb/>
fehlt! Wahrheit geht immer der Scho&#x0364;nheit vor. Jch will lieber <hi rendition="#fr">wahr</hi> &#x017F;chreiben als <hi rendition="#fr">&#x017F;cho&#x0364;n.</hi> Jch<lb/>
lobe mir das Aeng&#x017F;tliche auch nicht; aber die be&#x017F;ten <hi rendition="#fr">Erasmu&#x017F;&#x017F;e</hi> von <hi rendition="#fr">Holbein</hi> u&#x0364;bertreffen weit alle<lb/><hi rendition="#fr">Vandyks</hi> an Wahrheit und Naiveta&#x0364;t. <hi rendition="#fr">Das kleine Detail verachten, heißt die Natur ver-<lb/>
achten.</hi> Wo i&#x017F;t mehr Detail und weniger Aeng&#x017F;tlichkeit, als in den Werken der Natur? Fu&#x0364;r<lb/>
den Phy&#x017F;iognomi&#x017F;ten wa&#x0364;ren <hi rendition="#fr">Tenners</hi> Ko&#x0364;pfe unbezahlbar, ob er gleich mit &#x017F;einer mikro&#x017F;kopi&#x017F;chen<lb/>
Detaillirung den Gei&#x017F;t des Ganzen nicht zu vereinigen wußte. &#x2014; Auch <hi rendition="#fr">Soutmann,</hi> &#x017F;o gut ei-<lb/>
nige &#x017F;einer Ko&#x0364;pfe &#x017F;ind, i&#x017F;t der Mann nicht, der &#x017F;ich fu&#x0364;r das Studium empfehlen ließe. <hi rendition="#fr">Blyhofs</hi><lb/>
Be&#x017F;timmtheit und Fe&#x017F;tigkeit i&#x017F;t mir &#x017F;cha&#x0364;tzbarer. Fu&#x0364;r den Kenner, den Mahler, den phy&#x017F;iognomi-<lb/>
&#x017F;chen Men&#x017F;chen aber wird kaum etwas <hi rendition="#fr">Morins</hi> Portra&#x0364;ten beykommen.</p><lb/>
            <p>Von <hi rendition="#fr">Rembrand</hi> habe ich nur wenige Ko&#x0364;pfe ge&#x017F;ehen, die fu&#x0364;r den Phy&#x017F;iognomi&#x017F;ten brauch-<lb/>
bar wa&#x0364;ren.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Co&#x0364;lla</hi> wa&#x0364;re vielleicht einer der gro&#x0364;ßten Portra&#x0364;tmahler geworden, wenn er ge&#x017F;under wa&#x0364;re,<lb/>
und mehr Kenntniß und Uebung ha&#x0364;tte &#x2014; Seine Ko&#x0364;pfe &#x017F;ind beynahe alle Text fu&#x0364;rs Studium.</p><lb/>
            <p>Unter den hi&#x017F;tori&#x017F;chen Mahlern und Zeichnern, wovon die wenig&#x017F;ten Phy&#x017F;iognomen waren,<lb/>
die mei&#x017F;ten &#x017F;ich nur um den Ausdruck der Leiden&#x017F;chaften beku&#x0364;mmerten &#x2014; &#x017F;ind folgende in mancher<lb/>
Ab&#x017F;icht vortreffliche bemerkenswerth &#x2014; wiewohl im Grunde auch die &#x017F;chlechte&#x017F;ten Stoff fu&#x0364;rs Stu-<lb/>
dium geben ko&#x0364;nnen. &#x2014;</p><lb/>
            <p>Von <hi rendition="#fr">Titian</hi> lerne der Phy&#x017F;iognomi&#x017F;t Erhabenheit, Natur, Adel, und Zu&#x0364;ge trunkner Wol-<lb/>
lu&#x017F;t. Jn <hi rendition="#fr">Du&#x0364;ßeldorf</hi> i&#x017F;t ein Portra&#x0364;t von ihm, das an Natu&#x0364;rlichkeit und Gro&#x0364;ße wenige &#x017F;eines glei-<lb/>
chen hat.</p><lb/>
            <p>Von <hi rendition="#fr">Michelange</hi> alle Mienen des Stolzes, der Verachtung, des Ern&#x017F;tes und des Trutzes.</p><lb/>
            <p>Von <hi rendition="#fr">Guido Remi</hi> Zu&#x0364;ge &#x017F;tiller, reiner, himmli&#x017F;cher Liebe.</p><lb/>
            <p>Von <hi rendition="#fr">Rubens</hi> Lineamente des Grimms, und der <hi rendition="#fr">Kraft,</hi> der <hi rendition="#fr">Sanftheit,</hi> und &#x2014; der<lb/><hi rendition="#fr">Ho&#x0364;lle.</hi> Schade, daß er nicht mehr Portra&#x0364;te mahlte. Sein Cardinal <hi rendition="#fr">Ximenes</hi> zu Du&#x0364;ßeldorf geht<lb/>
mir u&#x0364;ber die be&#x017F;ten <hi rendition="#fr">Vandyks.</hi> &#x2014;</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Von</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159/0189] Ueber das Studium der Phyſiognomik. fehlt! Wahrheit geht immer der Schoͤnheit vor. Jch will lieber wahr ſchreiben als ſchoͤn. Jch lobe mir das Aengſtliche auch nicht; aber die beſten Erasmuſſe von Holbein uͤbertreffen weit alle Vandyks an Wahrheit und Naivetaͤt. Das kleine Detail verachten, heißt die Natur ver- achten. Wo iſt mehr Detail und weniger Aengſtlichkeit, als in den Werken der Natur? Fuͤr den Phyſiognomiſten waͤren Tenners Koͤpfe unbezahlbar, ob er gleich mit ſeiner mikroſkopiſchen Detaillirung den Geiſt des Ganzen nicht zu vereinigen wußte. — Auch Soutmann, ſo gut ei- nige ſeiner Koͤpfe ſind, iſt der Mann nicht, der ſich fuͤr das Studium empfehlen ließe. Blyhofs Beſtimmtheit und Feſtigkeit iſt mir ſchaͤtzbarer. Fuͤr den Kenner, den Mahler, den phyſiognomi- ſchen Menſchen aber wird kaum etwas Morins Portraͤten beykommen. Von Rembrand habe ich nur wenige Koͤpfe geſehen, die fuͤr den Phyſiognomiſten brauch- bar waͤren. Coͤlla waͤre vielleicht einer der groͤßten Portraͤtmahler geworden, wenn er geſunder waͤre, und mehr Kenntniß und Uebung haͤtte — Seine Koͤpfe ſind beynahe alle Text fuͤrs Studium. Unter den hiſtoriſchen Mahlern und Zeichnern, wovon die wenigſten Phyſiognomen waren, die meiſten ſich nur um den Ausdruck der Leidenſchaften bekuͤmmerten — ſind folgende in mancher Abſicht vortreffliche bemerkenswerth — wiewohl im Grunde auch die ſchlechteſten Stoff fuͤrs Stu- dium geben koͤnnen. — Von Titian lerne der Phyſiognomiſt Erhabenheit, Natur, Adel, und Zuͤge trunkner Wol- luſt. Jn Duͤßeldorf iſt ein Portraͤt von ihm, das an Natuͤrlichkeit und Groͤße wenige ſeines glei- chen hat. Von Michelange alle Mienen des Stolzes, der Verachtung, des Ernſtes und des Trutzes. Von Guido Remi Zuͤge ſtiller, reiner, himmliſcher Liebe. Von Rubens Lineamente des Grimms, und der Kraft, der Sanftheit, und — der Hoͤlle. Schade, daß er nicht mehr Portraͤte mahlte. Sein Cardinal Ximenes zu Duͤßeldorf geht mir uͤber die beſten Vandyks. — Von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/189
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/189>, abgerufen am 23.11.2024.