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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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II. Abschnitt. V. Fragment.
Gesichts überhaupt, Verhältniß der konstituirenden Theile, und die Krümmung oder Lage
derselben -- die drey Dinge, worauf du acht zu geben hast -- und die alle sich äußerst leicht mit
den einfachsten Zeichen bezeichnen lassen; wie in den physiognomischen Linien dargethan wer-
den wird.



Wenn du nicht sogleich, oder doch bald den positiven Totalcharakter eines Gesichtes finden
kannst -- so suche ihn auf dem Wege der Ausschließung -- und zähle dir alle Namen vor, die nicht
für dasselbe sich schicken -- durchgehe Namen für Namen, dein ganzes Register -- und die, welche
einigermaßen sich ihm nähern, schreibe dir aus -- diese werden dich veranlassen, den wahren Na-
men zu finden. Findest du zu einem Gesichte keinen Namen -- ob du gleich bereits ein sehr zahl-
reiches Gesichtsregister zusammen geschrieben hast -- so laß dir dieß Gesicht in allen seinen Lagen,
Zügen, Falten wichtig seyn -- bis du es erforscht hast. Je räthselhafter ein Gesicht -- desto
aufschließender für viele andre seine Enträthselung.

Studiere, werde ich meinem Menschenforscher weiter sagen -- der besten Mahler und
Zeichner beste Porträte, beste historische Stücke
-- Unter den Porträtmahlern sind mir
Mignard, Largilliere, Rigaud Kneller, Reynolds -- Vandyk heilig -- Mignards und
Rigauds Porträte von ihnen selbst gehen mir über alle Vandyks, denen doch oft Jllusion und
Fleiß fehlt, indem er mehr das Ganze und den Geist des Gesichtes sah, als das Detail -- so wie
leider viel mehr als er unzählige holländische, englische und italiänische Mahler (ich nehme Giboon,
Vanderbank, Mans, Poel,
und vielleicht auch noch einige andre aus, deren Namen mir itzt
nicht sogleich beyfallen,) das feine Detail der Natur unter dem stolzen Machtspruch -- man müs-
se nicht ängstlich kopieren,
unverantwortlich vernachläßigen, und dem Geschmack ein bezaubern-
des Ueberhaupt darstellen, woraus der Physiognomist oft blutwenig lernen kann. Ueberhaupt!
Ja die Natur schasft auch überhaupt?? Jhr Ueberhäuptler, ihr seyd mir Kenner und Nachah-
mer und Schüler der Natur!

Die besten Kupezky, und Kiliane, und Lukas Kranache, und Holbeine besonders --
o wie viel mehr lernt der Physiognomist aus diesen! Sey's auch, daß Geschmack und Freyheit oft

fehlt!

II. Abſchnitt. V. Fragment.
Geſichts uͤberhaupt, Verhaͤltniß der konſtituirenden Theile, und die Kruͤmmung oder Lage
derſelben — die drey Dinge, worauf du acht zu geben haſt — und die alle ſich aͤußerſt leicht mit
den einfachſten Zeichen bezeichnen laſſen; wie in den phyſiognomiſchen Linien dargethan wer-
den wird.



Wenn du nicht ſogleich, oder doch bald den poſitiven Totalcharakter eines Geſichtes finden
kannſt — ſo ſuche ihn auf dem Wege der Ausſchließung — und zaͤhle dir alle Namen vor, die nicht
fuͤr daſſelbe ſich ſchicken — durchgehe Namen fuͤr Namen, dein ganzes Regiſter — und die, welche
einigermaßen ſich ihm naͤhern, ſchreibe dir aus — dieſe werden dich veranlaſſen, den wahren Na-
men zu finden. Findeſt du zu einem Geſichte keinen Namen — ob du gleich bereits ein ſehr zahl-
reiches Geſichtsregiſter zuſammen geſchrieben haſt — ſo laß dir dieß Geſicht in allen ſeinen Lagen,
Zuͤgen, Falten wichtig ſeyn — bis du es erforſcht haſt. Je raͤthſelhafter ein Geſicht — deſto
aufſchließender fuͤr viele andre ſeine Entraͤthſelung.

Studiere, werde ich meinem Menſchenforſcher weiter ſagen — der beſten Mahler und
Zeichner beſte Portraͤte, beſte hiſtoriſche Stuͤcke
— Unter den Portraͤtmahlern ſind mir
Mignard, Largilliere, Rigaud Kneller, Reynolds — Vandyk heilig — Mignards und
Rigauds Portraͤte von ihnen ſelbſt gehen mir uͤber alle Vandyks, denen doch oft Jlluſion und
Fleiß fehlt, indem er mehr das Ganze und den Geiſt des Geſichtes ſah, als das Detail — ſo wie
leider viel mehr als er unzaͤhlige hollaͤndiſche, engliſche und italiaͤniſche Mahler (ich nehme Giboon,
Vanderbank, Mans, Poel,
und vielleicht auch noch einige andre aus, deren Namen mir itzt
nicht ſogleich beyfallen,) das feine Detail der Natur unter dem ſtolzen Machtſpruch — man muͤſ-
ſe nicht aͤngſtlich kopieren,
unverantwortlich vernachlaͤßigen, und dem Geſchmack ein bezaubern-
des Ueberhaupt darſtellen, woraus der Phyſiognomiſt oft blutwenig lernen kann. Ueberhaupt!
Ja die Natur ſchaſft auch uͤberhaupt?? Jhr Ueberhaͤuptler, ihr ſeyd mir Kenner und Nachah-
mer und Schuͤler der Natur!

Die beſten Kupezky, und Kiliane, und Lukas Kranache, und Holbeine beſonders —
o wie viel mehr lernt der Phyſiognomiſt aus dieſen! Sey’s auch, daß Geſchmack und Freyheit oft

fehlt!
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[158/0188] II. Abſchnitt. V. Fragment. Geſichts uͤberhaupt, Verhaͤltniß der konſtituirenden Theile, und die Kruͤmmung oder Lage derſelben — die drey Dinge, worauf du acht zu geben haſt — und die alle ſich aͤußerſt leicht mit den einfachſten Zeichen bezeichnen laſſen; wie in den phyſiognomiſchen Linien dargethan wer- den wird. Wenn du nicht ſogleich, oder doch bald den poſitiven Totalcharakter eines Geſichtes finden kannſt — ſo ſuche ihn auf dem Wege der Ausſchließung — und zaͤhle dir alle Namen vor, die nicht fuͤr daſſelbe ſich ſchicken — durchgehe Namen fuͤr Namen, dein ganzes Regiſter — und die, welche einigermaßen ſich ihm naͤhern, ſchreibe dir aus — dieſe werden dich veranlaſſen, den wahren Na- men zu finden. Findeſt du zu einem Geſichte keinen Namen — ob du gleich bereits ein ſehr zahl- reiches Geſichtsregiſter zuſammen geſchrieben haſt — ſo laß dir dieß Geſicht in allen ſeinen Lagen, Zuͤgen, Falten wichtig ſeyn — bis du es erforſcht haſt. Je raͤthſelhafter ein Geſicht — deſto aufſchließender fuͤr viele andre ſeine Entraͤthſelung. Studiere, werde ich meinem Menſchenforſcher weiter ſagen — der beſten Mahler und Zeichner beſte Portraͤte, beſte hiſtoriſche Stuͤcke — Unter den Portraͤtmahlern ſind mir Mignard, Largilliere, Rigaud Kneller, Reynolds — Vandyk heilig — Mignards und Rigauds Portraͤte von ihnen ſelbſt gehen mir uͤber alle Vandyks, denen doch oft Jlluſion und Fleiß fehlt, indem er mehr das Ganze und den Geiſt des Geſichtes ſah, als das Detail — ſo wie leider viel mehr als er unzaͤhlige hollaͤndiſche, engliſche und italiaͤniſche Mahler (ich nehme Giboon, Vanderbank, Mans, Poel, und vielleicht auch noch einige andre aus, deren Namen mir itzt nicht ſogleich beyfallen,) das feine Detail der Natur unter dem ſtolzen Machtſpruch — man muͤſ- ſe nicht aͤngſtlich kopieren, unverantwortlich vernachlaͤßigen, und dem Geſchmack ein bezaubern- des Ueberhaupt darſtellen, woraus der Phyſiognomiſt oft blutwenig lernen kann. Ueberhaupt! Ja die Natur ſchaſft auch uͤberhaupt?? Jhr Ueberhaͤuptler, ihr ſeyd mir Kenner und Nachah- mer und Schuͤler der Natur! Die beſten Kupezky, und Kiliane, und Lukas Kranache, und Holbeine beſonders — o wie viel mehr lernt der Phyſiognomiſt aus dieſen! Sey’s auch, daß Geſchmack und Freyheit oft fehlt!

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/188>, abgerufen am 23.11.2024.