Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

Ueber das Studium der Physiognomik.
jedes Mangelbare, jede Versetzung, jede Verschiebung auf den ersten Blick erkennen, und jedem dar-
thun kannst, wenn du einmal deines Auges, und deiner feinen Unterscheidungsfähigkeit, des großen
Sensoriums der Physiognomik sicher bist -- dann fange erst an -- besondere Charaktere genau
anzusehen und zu beobachten.

Und fange an bey solchen Gesichtern, die sehr ausgezeichnet sind durch ihre Form
und ihren Charakter
-- bey Menschen, die wenigstens Eine unzweydeutige, entscheidende, be-
währte Seite des Charakters haben.

Wähle dir z. E. einen außerordentlichen tiefsinnigen Denker; einen gebornen Dummkopf;
einen feinen, zarten, sehr reizbaren Empfinder; oder einen eisenharten, zähen, kalten, unempfind-
lichen Charakter.

Diesen sonderbaren Charakter studiere vors erste so, als wenn du nur den, und
keinen andern zu studieren hättest
-- betrachte ihn im Ganzen; betrachte ihn in allen seinen
Theilen; beschreibe dir selbst mit ausdrücklichen Worten seine ganze Gestalt und alle seine Züge, als
wenn du einem Mahler, der ihn nicht kennt, aber ihn zeichnen sollte, sein Bild diktiren wolltest. Wo
immer möglich, laß ihn dir, wie dem Mahler der zu mahlende, zu dieser Beschreibung sitzen oder
stehen. Zeichne ihn dir zuerst mit Worten nach der Natur. Fange bey der Statur an -- dann
gehe zur Proportion fort, der scheinbaren nämlich, die nach geraden Perpendikular- und Horizon-
tallinien gemessen werden kann -- sodann zur Stirne, Nase, Mund, Kinn -- und besonders der
Figur, Farbe, Lage, Größe, Tiefe des Auges u. s. f.

Wenn du mit der Beschreibung fertig bist, so lies sie dir in Gegenwart der Person langsam
vor, und vergleiche Zeile um Zeile, Wort für Wort mit dem Originale. Frage dich ganz bestimmt:
Mangelt nichts? ist nichts überflüßig? und was da ist, ist's wahr, ist's bestimmt genug ausge-
drückt? Dieser Beschreibung nach zeichne dir selber ohne Gegenwart der Person ihr Bild. Du hast
sie nicht recht beschrieben, nicht recht beobachtet, wie sie nämlich der Studierer der Physiognomik
beobachten soll, wenn du sie nicht nach der Beobachtung und Beschreibung, dem Hauptcharakter
nach ähnlich herausbringen kannst. Um dich hierinn recht sicher zu üben, so mußt du dich gewöh-
nen, sobald du ein Gesicht studieren willst, in wenigen Momenten seine wesentlichen Züge aufzufas-
sen, und sie dir tief einzuprägen. -- Meine Methode hierinn ist diese: Zuerst die Form des Ge-

sichtes

Ueber das Studium der Phyſiognomik.
jedes Mangelbare, jede Verſetzung, jede Verſchiebung auf den erſten Blick erkennen, und jedem dar-
thun kannſt, wenn du einmal deines Auges, und deiner feinen Unterſcheidungsfaͤhigkeit, des großen
Senſoriums der Phyſiognomik ſicher biſt — dann fange erſt an — beſondere Charaktere genau
anzuſehen und zu beobachten.

Und fange an bey ſolchen Geſichtern, die ſehr ausgezeichnet ſind durch ihre Form
und ihren Charakter
— bey Menſchen, die wenigſtens Eine unzweydeutige, entſcheidende, be-
waͤhrte Seite des Charakters haben.

Waͤhle dir z. E. einen außerordentlichen tiefſinnigen Denker; einen gebornen Dummkopf;
einen feinen, zarten, ſehr reizbaren Empfinder; oder einen eiſenharten, zaͤhen, kalten, unempfind-
lichen Charakter.

Dieſen ſonderbaren Charakter ſtudiere vors erſte ſo, als wenn du nur den, und
keinen andern zu ſtudieren haͤtteſt
— betrachte ihn im Ganzen; betrachte ihn in allen ſeinen
Theilen; beſchreibe dir ſelbſt mit ausdruͤcklichen Worten ſeine ganze Geſtalt und alle ſeine Zuͤge, als
wenn du einem Mahler, der ihn nicht kennt, aber ihn zeichnen ſollte, ſein Bild diktiren wollteſt. Wo
immer moͤglich, laß ihn dir, wie dem Mahler der zu mahlende, zu dieſer Beſchreibung ſitzen oder
ſtehen. Zeichne ihn dir zuerſt mit Worten nach der Natur. Fange bey der Statur an — dann
gehe zur Proportion fort, der ſcheinbaren naͤmlich, die nach geraden Perpendikular- und Horizon-
tallinien gemeſſen werden kann — ſodann zur Stirne, Naſe, Mund, Kinn — und beſonders der
Figur, Farbe, Lage, Groͤße, Tiefe des Auges u. ſ. f.

Wenn du mit der Beſchreibung fertig biſt, ſo lies ſie dir in Gegenwart der Perſon langſam
vor, und vergleiche Zeile um Zeile, Wort fuͤr Wort mit dem Originale. Frage dich ganz beſtimmt:
Mangelt nichts? iſt nichts uͤberfluͤßig? und was da iſt, iſt’s wahr, iſt’s beſtimmt genug ausge-
druͤckt? Dieſer Beſchreibung nach zeichne dir ſelber ohne Gegenwart der Perſon ihr Bild. Du haſt
ſie nicht recht beſchrieben, nicht recht beobachtet, wie ſie naͤmlich der Studierer der Phyſiognomik
beobachten ſoll, wenn du ſie nicht nach der Beobachtung und Beſchreibung, dem Hauptcharakter
nach aͤhnlich herausbringen kannſt. Um dich hierinn recht ſicher zu uͤben, ſo mußt du dich gewoͤh-
nen, ſobald du ein Geſicht ſtudieren willſt, in wenigen Momenten ſeine weſentlichen Zuͤge aufzufaſ-
ſen, und ſie dir tief einzupraͤgen. — Meine Methode hierinn iſt dieſe: Zuerſt die Form des Ge-

ſichtes
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0173" n="143"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Ueber das Studium der Phy&#x017F;iognomik.</hi></fw><lb/>
jedes Mangelbare, jede Ver&#x017F;etzung, jede Ver&#x017F;chiebung auf den er&#x017F;ten Blick erkennen, und jedem dar-<lb/>
thun kann&#x017F;t, wenn du einmal deines Auges, und deiner feinen Unter&#x017F;cheidungsfa&#x0364;higkeit, des großen<lb/><hi rendition="#b">Sen&#x017F;oriums der Phy&#x017F;iognomik</hi> &#x017F;icher bi&#x017F;t &#x2014; dann fange er&#x017F;t an &#x2014; be&#x017F;ondere Charaktere genau<lb/>
anzu&#x017F;ehen und zu beobachten.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#b">Und fange an bey &#x017F;olchen Ge&#x017F;ichtern, die &#x017F;ehr ausgezeichnet &#x017F;ind durch ihre Form<lb/>
und ihren Charakter</hi> &#x2014; bey Men&#x017F;chen, die wenig&#x017F;tens Eine unzweydeutige, ent&#x017F;cheidende, be-<lb/>
wa&#x0364;hrte Seite des Charakters haben.</p><lb/>
            <p>Wa&#x0364;hle dir z. E. einen außerordentlichen tief&#x017F;innigen Denker; einen gebornen Dummkopf;<lb/>
einen feinen, zarten, &#x017F;ehr reizbaren Empfinder; oder einen ei&#x017F;enharten, za&#x0364;hen, kalten, unempfind-<lb/>
lichen Charakter.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#b">Die&#x017F;en &#x017F;onderbaren Charakter &#x017F;tudiere vors er&#x017F;te &#x017F;o, als wenn du nur den, und<lb/>
keinen andern zu &#x017F;tudieren ha&#x0364;tte&#x017F;t</hi> &#x2014; betrachte ihn im Ganzen; betrachte ihn in allen &#x017F;einen<lb/>
Theilen; be&#x017F;chreibe dir &#x017F;elb&#x017F;t mit ausdru&#x0364;cklichen Worten &#x017F;eine ganze Ge&#x017F;talt und alle &#x017F;eine Zu&#x0364;ge, als<lb/>
wenn du einem Mahler, der ihn nicht kennt, aber ihn zeichnen &#x017F;ollte, &#x017F;ein Bild diktiren wollte&#x017F;t. Wo<lb/>
immer mo&#x0364;glich, laß ihn dir, wie dem Mahler der zu mahlende, zu die&#x017F;er Be&#x017F;chreibung &#x017F;itzen oder<lb/>
&#x017F;tehen. Zeichne ihn dir zuer&#x017F;t mit Worten nach der Natur. Fange bey der Statur an &#x2014; dann<lb/>
gehe zur Proportion fort, der &#x017F;cheinbaren na&#x0364;mlich, die nach geraden Perpendikular- und Horizon-<lb/>
tallinien geme&#x017F;&#x017F;en werden kann &#x2014; &#x017F;odann zur Stirne, Na&#x017F;e, Mund, Kinn &#x2014; und be&#x017F;onders der<lb/>
Figur, Farbe, Lage, Gro&#x0364;ße, Tiefe des Auges u. &#x017F;. f.</p><lb/>
            <p>Wenn du mit der Be&#x017F;chreibung fertig bi&#x017F;t, &#x017F;o lies &#x017F;ie dir in Gegenwart der Per&#x017F;on lang&#x017F;am<lb/>
vor, und vergleiche Zeile um Zeile, Wort fu&#x0364;r Wort mit dem Originale. Frage dich ganz be&#x017F;timmt:<lb/>
Mangelt nichts? i&#x017F;t nichts u&#x0364;berflu&#x0364;ßig? und was da i&#x017F;t, i&#x017F;t&#x2019;s wahr, i&#x017F;t&#x2019;s be&#x017F;timmt genug ausge-<lb/>
dru&#x0364;ckt? Die&#x017F;er Be&#x017F;chreibung nach zeichne dir &#x017F;elber ohne Gegenwart der Per&#x017F;on ihr Bild. Du ha&#x017F;t<lb/>
&#x017F;ie nicht recht be&#x017F;chrieben, nicht recht beobachtet, wie &#x017F;ie na&#x0364;mlich der Studierer der Phy&#x017F;iognomik<lb/>
beobachten &#x017F;oll, wenn du &#x017F;ie nicht nach der Beobachtung und Be&#x017F;chreibung, dem Hauptcharakter<lb/>
nach a&#x0364;hnlich herausbringen kann&#x017F;t. Um dich hierinn recht &#x017F;icher zu u&#x0364;ben, &#x017F;o mußt du dich gewo&#x0364;h-<lb/>
nen, &#x017F;obald du ein Ge&#x017F;icht &#x017F;tudieren will&#x017F;t, in wenigen Momenten &#x017F;eine we&#x017F;entlichen Zu&#x0364;ge aufzufa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, und &#x017F;ie dir tief einzupra&#x0364;gen. &#x2014; Meine Methode hierinn i&#x017F;t die&#x017F;e: Zuer&#x017F;t die <hi rendition="#b">Form</hi> des Ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ichtes</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[143/0173] Ueber das Studium der Phyſiognomik. jedes Mangelbare, jede Verſetzung, jede Verſchiebung auf den erſten Blick erkennen, und jedem dar- thun kannſt, wenn du einmal deines Auges, und deiner feinen Unterſcheidungsfaͤhigkeit, des großen Senſoriums der Phyſiognomik ſicher biſt — dann fange erſt an — beſondere Charaktere genau anzuſehen und zu beobachten. Und fange an bey ſolchen Geſichtern, die ſehr ausgezeichnet ſind durch ihre Form und ihren Charakter — bey Menſchen, die wenigſtens Eine unzweydeutige, entſcheidende, be- waͤhrte Seite des Charakters haben. Waͤhle dir z. E. einen außerordentlichen tiefſinnigen Denker; einen gebornen Dummkopf; einen feinen, zarten, ſehr reizbaren Empfinder; oder einen eiſenharten, zaͤhen, kalten, unempfind- lichen Charakter. Dieſen ſonderbaren Charakter ſtudiere vors erſte ſo, als wenn du nur den, und keinen andern zu ſtudieren haͤtteſt — betrachte ihn im Ganzen; betrachte ihn in allen ſeinen Theilen; beſchreibe dir ſelbſt mit ausdruͤcklichen Worten ſeine ganze Geſtalt und alle ſeine Zuͤge, als wenn du einem Mahler, der ihn nicht kennt, aber ihn zeichnen ſollte, ſein Bild diktiren wollteſt. Wo immer moͤglich, laß ihn dir, wie dem Mahler der zu mahlende, zu dieſer Beſchreibung ſitzen oder ſtehen. Zeichne ihn dir zuerſt mit Worten nach der Natur. Fange bey der Statur an — dann gehe zur Proportion fort, der ſcheinbaren naͤmlich, die nach geraden Perpendikular- und Horizon- tallinien gemeſſen werden kann — ſodann zur Stirne, Naſe, Mund, Kinn — und beſonders der Figur, Farbe, Lage, Groͤße, Tiefe des Auges u. ſ. f. Wenn du mit der Beſchreibung fertig biſt, ſo lies ſie dir in Gegenwart der Perſon langſam vor, und vergleiche Zeile um Zeile, Wort fuͤr Wort mit dem Originale. Frage dich ganz beſtimmt: Mangelt nichts? iſt nichts uͤberfluͤßig? und was da iſt, iſt’s wahr, iſt’s beſtimmt genug ausge- druͤckt? Dieſer Beſchreibung nach zeichne dir ſelber ohne Gegenwart der Perſon ihr Bild. Du haſt ſie nicht recht beſchrieben, nicht recht beobachtet, wie ſie naͤmlich der Studierer der Phyſiognomik beobachten ſoll, wenn du ſie nicht nach der Beobachtung und Beſchreibung, dem Hauptcharakter nach aͤhnlich herausbringen kannſt. Um dich hierinn recht ſicher zu uͤben, ſo mußt du dich gewoͤh- nen, ſobald du ein Geſicht ſtudieren willſt, in wenigen Momenten ſeine weſentlichen Zuͤge aufzufaſ- ſen, und ſie dir tief einzupraͤgen. — Meine Methode hierinn iſt dieſe: Zuerſt die Form des Ge- ſichtes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/173
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/173>, abgerufen am 22.11.2024.