Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.II. Abschnitt. V. Fragment. siognomik abgeben will, sich vor allen Dingen fragen soll -- "Fühle ich in mir die Fähigkeit und"den Trieb, diesen wahrlich nicht geringen Zweck zu erreichen?" -- Versicherte er mir das mit der Miene einer unerkünstelten Zuversicht -- oder könnte ichs Erforsche vor allen Dingen aufs genaueste, was allen und jeden menschlichen Unterscheide bey deinem Messen der Theilverhältnisse zwey Dinge, die meines Wis- Wenn du einmal überhaupt die Theile des menschlichen Körpers, ihre Verbindung und jedes
II. Abſchnitt. V. Fragment. ſiognomik abgeben will, ſich vor allen Dingen fragen ſoll — „Fuͤhle ich in mir die Faͤhigkeit und„den Trieb, dieſen wahrlich nicht geringen Zweck zu erreichen?“ — Verſicherte er mir das mit der Miene einer unerkuͤnſtelten Zuverſicht — oder koͤnnte ichs Erforſche vor allen Dingen aufs genaueſte, was allen und jeden menſchlichen Unterſcheide bey deinem Meſſen der Theilverhaͤltniſſe zwey Dinge, die meines Wiſ- Wenn du einmal uͤberhaupt die Theile des menſchlichen Koͤrpers, ihre Verbindung und jedes
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II. Abſchnitt. V. Fragment.
ſiognomik abgeben will, ſich vor allen Dingen fragen ſoll — „Fuͤhle ich in mir die Faͤhigkeit und
„den Trieb, dieſen wahrlich nicht geringen Zweck zu erreichen?“ —
Verſicherte er mir das mit der Miene einer unerkuͤnſtelten Zuverſicht — oder koͤnnte ichs
ihm auch, ohne ſeine ausdruͤckliche Zuſicherung, auf ſein bloßes Geſicht glauben — ſo wuͤrde ich
ihm weiter ſagen:
Erforſche vor allen Dingen aufs genaueſte, was allen und jeden menſchlichen
Koͤrpern und Geſichtern gemein iſt, worinn ſie ſich uͤberhaupt von allen andern or-
ganiſchen und thieriſchen Koͤrpern unterſcheiden. Je deutlicher und vollſtaͤndiger du dir
dieſe Unterſchiede denken kannſt, deſto wuͤrdiger wirſt du von der menſchlichen Natur denken; mit
deſto tieferer Ehrfurcht den Menſchen ſtudieren; und deſto offener wird dir der Charakter der
Menſchheit ſeyn. Hernach ſtudiere beſonders die Theile, die Glieder, den Zuſammen-
hang, das Verhaͤltniß, die Proportion des menſchlichen Koͤrpers. Lies daruͤber was du
willſt — die Encyklopaͤdiſten — oder Duͤrrer, aber traue durchaus keinem Buche, es heiße
wie es wolle. Unterſuche ſelbſt; miß ſelbſt. Miß erſt allein; dann vor einem ſelbſt und ſcharfſe-
henden Freunde; dann laß dieſen und einen andern vor dir und ohne dich, dir nachmeſſen.
Unterſcheide bey deinem Meſſen der Theilverhaͤltniſſe zwey Dinge, die meines Wiſ-
ſens von keinem Menſchenmeſſer genug unterſchieden worden, und deren Nichtunterſcheidung zu ſo
entſetzlich vielen Mißzeichnungen Anlaß gegeben hat — Anlaß zu Mißurtheilen uͤber Gottes auch
bey allen ſcheinbaren Anomalien — immer regelmaͤßige Werke. Zwey Dinge, deren Unterſchei-
dung — ein Schluͤſſel zur Phyſiognomik iſt — unterſcheide die geradlinigte und die bogen-
linigte Proportion — Sind die Geſichtstheile, ſind die Glieder, nach angeſchlagenen gera-
den, nach Perpendikularlinien ebenmaͤßig — ſo iſt der Menſch ſchoͤn, wohlgeſtaltet, klug —
ſtark — feſt, edel — in hohem Grade. Er kann alles das auch ſeyn, wenn ſeine Theile und Glie-
der dem Anſcheine nach von dieſem Ebenmaaße abweichen — dieß Ebenmaaß aber ſich doch nach
angelegten, anpaſſenden Bogenlinien findet. Jedoch iſt zu merken, daß die geradlinigten Pro-
portionen ihrer Natur nach vortheilhafter und unverderblicher ſind, als die andern.
Wenn du einmal uͤberhaupt die Theile des menſchlichen Koͤrpers, ihre Verbindung und
Verhaͤltniſſe kennſt; und ſo kennſt, daß du in jeder Zeichnung jede Abweichung, jedes Ueberfluͤßige,
jedes
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