siognomik abgeben will, sich vor allen Dingen fragen soll -- "Fühle ich in mir die Fähigkeit und "den Trieb, diesen wahrlich nicht geringen Zweck zu erreichen?" --
Versicherte er mir das mit der Miene einer unerkünstelten Zuversicht -- oder könnte ichs ihm auch, ohne seine ausdrückliche Zusicherung, auf sein bloßes Gesicht glauben -- so würde ich ihm weiter sagen:
Erforsche vor allen Dingen aufs genaueste, was allen und jeden menschlichen Körpern und Gesichterngemeinist, worinn sie sich überhaupt von allen andern or- ganischen und thierischen Körpern unterscheiden. Je deutlicher und vollständiger du dir diese Unterschiede denken kannst, desto würdiger wirst du von der menschlichen Natur denken; mit desto tieferer Ehrfurcht den Menschen studieren; und desto offener wird dir der Charakter der Menschheit seyn. Hernach studiere besonders die Theile, die Glieder, den Zusammen- hang, das Verhältniß, die Proportion des menschlichen Körpers. Lies darüber was du willst -- die Encyklopädisten -- oder Dürrer, aber traue durchaus keinem Buche, es heiße wie es wolle. Untersuche selbst; miß selbst. Miß erst allein; dann vor einem selbst und scharfse- henden Freunde; dann laß diesen und einen andern vor dir und ohne dich, dir nachmessen.
Unterscheide bey deinem Messen der Theilverhältnisse zwey Dinge, die meines Wis- sens von keinem Menschenmesser genug unterschieden worden, und deren Nichtunterscheidung zu so entsetzlich vielen Mißzeichnungen Anlaß gegeben hat -- Anlaß zu Mißurtheilen über Gottes auch bey allen scheinbaren Anomalien -- immer regelmäßige Werke. Zwey Dinge, deren Unterschei- dung -- ein Schlüssel zur Physiognomik ist -- unterscheide diegeradlinigteund diebogen- linigteProportion -- Sind die Gesichtstheile, sind die Glieder, nach angeschlagenen gera- den, nach Perpendikularlinien ebenmäßig -- so ist der Mensch schön, wohlgestaltet, klug -- stark -- fest, edel -- in hohem Grade. Er kann alles das auch seyn, wenn seine Theile und Glie- der dem Anscheine nach von diesem Ebenmaaße abweichen -- dieß Ebenmaaß aber sich doch nach angelegten, anpassenden Bogenlinien findet. Jedoch ist zu merken, daß die geradlinigten Pro- portionen ihrer Natur nach vortheilhafter und unverderblicher sind, als die andern.
Wenn du einmal überhaupt die Theile des menschlichen Körpers, ihre Verbindung und Verhältnisse kennst; und so kennst, daß du in jeder Zeichnung jede Abweichung, jedes Ueberflüßige,
jedes
II. Abſchnitt. V. Fragment.
ſiognomik abgeben will, ſich vor allen Dingen fragen ſoll — „Fuͤhle ich in mir die Faͤhigkeit und „den Trieb, dieſen wahrlich nicht geringen Zweck zu erreichen?“ —
Verſicherte er mir das mit der Miene einer unerkuͤnſtelten Zuverſicht — oder koͤnnte ichs ihm auch, ohne ſeine ausdruͤckliche Zuſicherung, auf ſein bloßes Geſicht glauben — ſo wuͤrde ich ihm weiter ſagen:
Erforſche vor allen Dingen aufs genaueſte, was allen und jeden menſchlichen Koͤrpern und Geſichterngemeiniſt, worinn ſie ſich uͤberhaupt von allen andern or- ganiſchen und thieriſchen Koͤrpern unterſcheiden. Je deutlicher und vollſtaͤndiger du dir dieſe Unterſchiede denken kannſt, deſto wuͤrdiger wirſt du von der menſchlichen Natur denken; mit deſto tieferer Ehrfurcht den Menſchen ſtudieren; und deſto offener wird dir der Charakter der Menſchheit ſeyn. Hernach ſtudiere beſonders die Theile, die Glieder, den Zuſammen- hang, das Verhaͤltniß, die Proportion des menſchlichen Koͤrpers. Lies daruͤber was du willſt — die Encyklopaͤdiſten — oder Duͤrrer, aber traue durchaus keinem Buche, es heiße wie es wolle. Unterſuche ſelbſt; miß ſelbſt. Miß erſt allein; dann vor einem ſelbſt und ſcharfſe- henden Freunde; dann laß dieſen und einen andern vor dir und ohne dich, dir nachmeſſen.
Unterſcheide bey deinem Meſſen der Theilverhaͤltniſſe zwey Dinge, die meines Wiſ- ſens von keinem Menſchenmeſſer genug unterſchieden worden, und deren Nichtunterſcheidung zu ſo entſetzlich vielen Mißzeichnungen Anlaß gegeben hat — Anlaß zu Mißurtheilen uͤber Gottes auch bey allen ſcheinbaren Anomalien — immer regelmaͤßige Werke. Zwey Dinge, deren Unterſchei- dung — ein Schluͤſſel zur Phyſiognomik iſt — unterſcheide diegeradlinigteund diebogen- linigteProportion — Sind die Geſichtstheile, ſind die Glieder, nach angeſchlagenen gera- den, nach Perpendikularlinien ebenmaͤßig — ſo iſt der Menſch ſchoͤn, wohlgeſtaltet, klug — ſtark — feſt, edel — in hohem Grade. Er kann alles das auch ſeyn, wenn ſeine Theile und Glie- der dem Anſcheine nach von dieſem Ebenmaaße abweichen — dieß Ebenmaaß aber ſich doch nach angelegten, anpaſſenden Bogenlinien findet. Jedoch iſt zu merken, daß die geradlinigten Pro- portionen ihrer Natur nach vortheilhafter und unverderblicher ſind, als die andern.
Wenn du einmal uͤberhaupt die Theile des menſchlichen Koͤrpers, ihre Verbindung und Verhaͤltniſſe kennſt; und ſo kennſt, daß du in jeder Zeichnung jede Abweichung, jedes Ueberfluͤßige,
jedes
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Verſicherte er mir das mit der Miene einer unerkuͤnſtelten Zuverſicht — oder koͤnnte ichs
ihm auch, ohne ſeine ausdruͤckliche Zuſicherung, auf ſein bloßes Geſicht glauben — ſo wuͤrde ich
ihm weiter ſagen:
Erforſche vor allen Dingen aufs genaueſte, was allen und jeden menſchlichen
Koͤrpern und Geſichtern gemein iſt, worinn ſie ſich uͤberhaupt von allen andern or-
ganiſchen und thieriſchen Koͤrpern unterſcheiden. Je deutlicher und vollſtaͤndiger du dir
dieſe Unterſchiede denken kannſt, deſto wuͤrdiger wirſt du von der menſchlichen Natur denken; mit
deſto tieferer Ehrfurcht den Menſchen ſtudieren; und deſto offener wird dir der Charakter der
Menſchheit ſeyn. Hernach ſtudiere beſonders die Theile, die Glieder, den Zuſammen-
hang, das Verhaͤltniß, die Proportion des menſchlichen Koͤrpers. Lies daruͤber was du
willſt — die Encyklopaͤdiſten — oder Duͤrrer, aber traue durchaus keinem Buche, es heiße
wie es wolle. Unterſuche ſelbſt; miß ſelbſt. Miß erſt allein; dann vor einem ſelbſt und ſcharfſe-
henden Freunde; dann laß dieſen und einen andern vor dir und ohne dich, dir nachmeſſen.
Unterſcheide bey deinem Meſſen der Theilverhaͤltniſſe zwey Dinge, die meines Wiſ-
ſens von keinem Menſchenmeſſer genug unterſchieden worden, und deren Nichtunterſcheidung zu ſo
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bey allen ſcheinbaren Anomalien — immer regelmaͤßige Werke. Zwey Dinge, deren Unterſchei-
dung — ein Schluͤſſel zur Phyſiognomik iſt — unterſcheide die geradlinigte und die bogen-
linigte Proportion — Sind die Geſichtstheile, ſind die Glieder, nach angeſchlagenen gera-
den, nach Perpendikularlinien ebenmaͤßig — ſo iſt der Menſch ſchoͤn, wohlgeſtaltet, klug —
ſtark — feſt, edel — in hohem Grade. Er kann alles das auch ſeyn, wenn ſeine Theile und Glie-
der dem Anſcheine nach von dieſem Ebenmaaße abweichen — dieß Ebenmaaß aber ſich doch nach
angelegten, anpaſſenden Bogenlinien findet. Jedoch iſt zu merken, daß die geradlinigten Pro-
portionen ihrer Natur nach vortheilhafter und unverderblicher ſind, als die andern.
Wenn du einmal uͤberhaupt die Theile des menſchlichen Koͤrpers, ihre Verbindung und
Verhaͤltniſſe kennſt; und ſo kennſt, daß du in jeder Zeichnung jede Abweichung, jedes Ueberfluͤßige,
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/172>, abgerufen am 12.05.2024.
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