unüberwindliche Antipathien giebt -- (Es giebt die Menge überwindliche) die läßt sich gewiß nicht wegdisputiren.
VI.
Noch mehr. Jch glaube: Es ist in uns ein Sinn, nicht nur für den gegenwärti- gen, sondern auch für den zukünftigen, noch im gegenwärtigen verschlossenen Charak- ter des Menschen. Wir können nicht nur ahnden, was der Mensch ist; sondern auch, was er seyn und nicht seyn wird? wie dieses oder jenes Gesicht in diesem oder jenem Falle urtheilen, handeln, leiden wird? Und ob es gleich wenige Menschen geben mag, die ohne Uebung hierüber Aussprüche wagen werden, so wollte ichs dennoch auf Probe und Erfahrung ankommen lassen, ob nicht alle gesund organisirte Menschen, denen man von gewissen Gesichtern voraus sagte, was sie sagen und thun werden, sogleich einmüthig unterschreiben und Ja sagen würden, obgleich keiner das Ge- sicht kennte. Wohl verstanden, unzähliges läßt sich nicht vorsagen. Aber auch unzähliges läßt sich so vorsagen, daß alle, auch die, welche sich nie in physiognomischen Beobachtungen und Urtheilen geübt haben, einstimmig sagen werden -- So wird's ergehen -- oder wenn auch das nicht zuge- geben werden sollte, so wird doch wenigstens zugegeben werden müssen -- daß sich von unzähligen Gesichtern mit Zuverläßigkeit voraus sagen läßt -- welche unzählige Dinge sie nicht thun werden? Wir haben oben schon einige Beyspiele dieser Art im Vorbeygehen angeführt.
Hier nur noch eine Probe -- mit Schwarzens Gesichte. Wer wird von einem so beschaf- fenen Gesichte jemals die Handlung des barmherzigen Samariters erwarten? Wer wird ihm je mit Zutrauen und Hoffnung etwas abverlangen? Wird euch dieß Gesicht jemals heitere, redliche Ge- fälligkeit erwarten lassen? Werdet ihr hoffen, daß es euch jemals einen treuen, freundschaftlichen Rath geben werde? Gebt ihm was -- er wird kaum gedanket haben, so wird er von euch mehr fordern, und sich bitter und hart rächen, wenn ihr's ihm nicht auch gebet. -- Bemüht euch nicht, ihm eine andere Meynung beyzubringen, als die er hat. Was? diesen kurzen, dicken Nacken wollt ihr andern Sinnes machen? Von einem Jahre zum andern wird er, wenn alles seinen natürlichen Gang geht, unbeweglicher, unüberzeuglicher werden. Sagte er im Jahre ANein, daraus wird nichts! im Jahre B wird er fluchen, und im Jahre C wird er euch erstechen, wenn ihr
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II. Abſchnitt. III. Fragment.
unuͤberwindliche Antipathien giebt — (Es giebt die Menge uͤberwindliche) die laͤßt ſich gewiß nicht wegdiſputiren.
VI.
Noch mehr. Jch glaube: Es iſt in uns ein Sinn, nicht nur fuͤr den gegenwaͤrti- gen, ſondern auch fuͤr den zukuͤnftigen, noch im gegenwaͤrtigen verſchloſſenen Charak- ter des Menſchen. Wir koͤnnen nicht nur ahnden, was der Menſch iſt; ſondern auch, was er ſeyn und nicht ſeyn wird? wie dieſes oder jenes Geſicht in dieſem oder jenem Falle urtheilen, handeln, leiden wird? Und ob es gleich wenige Menſchen geben mag, die ohne Uebung hieruͤber Ausſpruͤche wagen werden, ſo wollte ichs dennoch auf Probe und Erfahrung ankommen laſſen, ob nicht alle geſund organiſirte Menſchen, denen man von gewiſſen Geſichtern voraus ſagte, was ſie ſagen und thun werden, ſogleich einmuͤthig unterſchreiben und Ja ſagen wuͤrden, obgleich keiner das Ge- ſicht kennte. Wohl verſtanden, unzaͤhliges laͤßt ſich nicht vorſagen. Aber auch unzaͤhliges laͤßt ſich ſo vorſagen, daß alle, auch die, welche ſich nie in phyſiognomiſchen Beobachtungen und Urtheilen geuͤbt haben, einſtimmig ſagen werden — So wird’s ergehen — oder wenn auch das nicht zuge- geben werden ſollte, ſo wird doch wenigſtens zugegeben werden muͤſſen — daß ſich von unzaͤhligen Geſichtern mit Zuverlaͤßigkeit voraus ſagen laͤßt — welche unzaͤhlige Dinge ſie nicht thun werden? Wir haben oben ſchon einige Beyſpiele dieſer Art im Vorbeygehen angefuͤhrt.
Hier nur noch eine Probe — mit Schwarzens Geſichte. Wer wird von einem ſo beſchaf- fenen Geſichte jemals die Handlung des barmherzigen Samariters erwarten? Wer wird ihm je mit Zutrauen und Hoffnung etwas abverlangen? Wird euch dieß Geſicht jemals heitere, redliche Ge- faͤlligkeit erwarten laſſen? Werdet ihr hoffen, daß es euch jemals einen treuen, freundſchaftlichen Rath geben werde? Gebt ihm was — er wird kaum gedanket haben, ſo wird er von euch mehr fordern, und ſich bitter und hart raͤchen, wenn ihr’s ihm nicht auch gebet. — Bemuͤht euch nicht, ihm eine andere Meynung beyzubringen, als die er hat. Was? dieſen kurzen, dicken Nacken wollt ihr andern Sinnes machen? Von einem Jahre zum andern wird er, wenn alles ſeinen natuͤrlichen Gang geht, unbeweglicher, unuͤberzeuglicher werden. Sagte er im Jahre ANein, daraus wird nichts! im Jahre B wird er fluchen, und im Jahre C wird er euch erſtechen, wenn ihr
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II. Abſchnitt. III. Fragment.
unuͤberwindliche Antipathien giebt — (Es giebt die Menge uͤberwindliche) die laͤßt ſich gewiß
nicht wegdiſputiren.
VI.
Noch mehr. Jch glaube: Es iſt in uns ein Sinn, nicht nur fuͤr den gegenwaͤrti-
gen, ſondern auch fuͤr den zukuͤnftigen, noch im gegenwaͤrtigen verſchloſſenen Charak-
ter des Menſchen. Wir koͤnnen nicht nur ahnden, was der Menſch iſt; ſondern auch, was er
ſeyn und nicht ſeyn wird? wie dieſes oder jenes Geſicht in dieſem oder jenem Falle urtheilen, handeln,
leiden wird? Und ob es gleich wenige Menſchen geben mag, die ohne Uebung hieruͤber Ausſpruͤche
wagen werden, ſo wollte ichs dennoch auf Probe und Erfahrung ankommen laſſen, ob nicht alle
geſund organiſirte Menſchen, denen man von gewiſſen Geſichtern voraus ſagte, was ſie ſagen
und thun werden, ſogleich einmuͤthig unterſchreiben und Ja ſagen wuͤrden, obgleich keiner das Ge-
ſicht kennte. Wohl verſtanden, unzaͤhliges laͤßt ſich nicht vorſagen. Aber auch unzaͤhliges laͤßt ſich
ſo vorſagen, daß alle, auch die, welche ſich nie in phyſiognomiſchen Beobachtungen und Urtheilen
geuͤbt haben, einſtimmig ſagen werden — So wird’s ergehen — oder wenn auch das nicht zuge-
geben werden ſollte, ſo wird doch wenigſtens zugegeben werden muͤſſen — daß ſich von unzaͤhligen
Geſichtern mit Zuverlaͤßigkeit voraus ſagen laͤßt — welche unzaͤhlige Dinge ſie nicht thun werden?
Wir haben oben ſchon einige Beyſpiele dieſer Art im Vorbeygehen angefuͤhrt.
Hier nur noch eine Probe — mit Schwarzens Geſichte. Wer wird von einem ſo beſchaf-
fenen Geſichte jemals die Handlung des barmherzigen Samariters erwarten? Wer wird ihm je mit
Zutrauen und Hoffnung etwas abverlangen? Wird euch dieß Geſicht jemals heitere, redliche Ge-
faͤlligkeit erwarten laſſen? Werdet ihr hoffen, daß es euch jemals einen treuen, freundſchaftlichen
Rath geben werde? Gebt ihm was — er wird kaum gedanket haben, ſo wird er von euch mehr
fordern, und ſich bitter und hart raͤchen, wenn ihr’s ihm nicht auch gebet. — Bemuͤht euch nicht, ihm
eine andere Meynung beyzubringen, als die er hat. Was? dieſen kurzen, dicken Nacken wollt ihr
andern Sinnes machen? Von einem Jahre zum andern wird er, wenn alles ſeinen natuͤrlichen
Gang geht, unbeweglicher, unuͤberzeuglicher werden. Sagte er im Jahre A Nein, daraus
wird nichts! im Jahre B wird er fluchen, und im Jahre C wird er euch erſtechen, wenn ihr
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/160>, abgerufen am 25.11.2024.
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