Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Abschnitt. III. Fragment.
unüberwindliche Antipathien giebt -- (Es giebt die Menge überwindliche) die läßt sich gewiß
nicht wegdisputiren.

VI.

Noch mehr. Jch glaube: Es ist in uns ein Sinn, nicht nur für den gegenwärti-
gen, sondern auch für den zukünftigen, noch im gegenwärtigen verschlossenen Charak-
ter des Menschen.
Wir können nicht nur ahnden, was der Mensch ist; sondern auch, was er
seyn und nicht seyn wird? wie dieses oder jenes Gesicht in diesem oder jenem Falle urtheilen, handeln,
leiden wird? Und ob es gleich wenige Menschen geben mag, die ohne Uebung hierüber Aussprüche
wagen werden, so wollte ichs dennoch auf Probe und Erfahrung ankommen lassen, ob nicht alle
gesund organisirte Menschen, denen man von gewissen Gesichtern voraus sagte, was sie sagen
und thun werden, sogleich einmüthig unterschreiben und Ja sagen würden, obgleich keiner das Ge-
sicht kennte. Wohl verstanden, unzähliges läßt sich nicht vorsagen. Aber auch unzähliges läßt sich
so vorsagen, daß alle, auch die, welche sich nie in physiognomischen Beobachtungen und Urtheilen
geübt haben, einstimmig sagen werden -- So wird's ergehen -- oder wenn auch das nicht zuge-
geben werden sollte, so wird doch wenigstens zugegeben werden müssen -- daß sich von unzähligen
Gesichtern mit Zuverläßigkeit voraus sagen läßt -- welche unzählige Dinge sie nicht thun werden?
Wir haben oben schon einige Beyspiele dieser Art im Vorbeygehen angeführt.

Hier nur noch eine Probe -- mit Schwarzens Gesichte. Wer wird von einem so beschaf-
fenen Gesichte jemals die Handlung des barmherzigen Samariters erwarten? Wer wird ihm je mit
Zutrauen und Hoffnung etwas abverlangen? Wird euch dieß Gesicht jemals heitere, redliche Ge-
fälligkeit erwarten lassen? Werdet ihr hoffen, daß es euch jemals einen treuen, freundschaftlichen
Rath geben werde? Gebt ihm was -- er wird kaum gedanket haben, so wird er von euch mehr
fordern, und sich bitter und hart rächen, wenn ihr's ihm nicht auch gebet. -- Bemüht euch nicht, ihm
eine andere Meynung beyzubringen, als die er hat. Was? diesen kurzen, dicken Nacken wollt ihr
andern Sinnes machen? Von einem Jahre zum andern wird er, wenn alles seinen natürlichen
Gang geht,
unbeweglicher, unüberzeuglicher werden. Sagte er im Jahre A Nein, daraus
wird nichts!
im Jahre B wird er fluchen, und im Jahre C wird er euch erstechen, wenn ihr

mehr

II. Abſchnitt. III. Fragment.
unuͤberwindliche Antipathien giebt — (Es giebt die Menge uͤberwindliche) die laͤßt ſich gewiß
nicht wegdiſputiren.

VI.

Noch mehr. Jch glaube: Es iſt in uns ein Sinn, nicht nur fuͤr den gegenwaͤrti-
gen, ſondern auch fuͤr den zukuͤnftigen, noch im gegenwaͤrtigen verſchloſſenen Charak-
ter des Menſchen.
Wir koͤnnen nicht nur ahnden, was der Menſch iſt; ſondern auch, was er
ſeyn und nicht ſeyn wird? wie dieſes oder jenes Geſicht in dieſem oder jenem Falle urtheilen, handeln,
leiden wird? Und ob es gleich wenige Menſchen geben mag, die ohne Uebung hieruͤber Ausſpruͤche
wagen werden, ſo wollte ichs dennoch auf Probe und Erfahrung ankommen laſſen, ob nicht alle
geſund organiſirte Menſchen, denen man von gewiſſen Geſichtern voraus ſagte, was ſie ſagen
und thun werden, ſogleich einmuͤthig unterſchreiben und Ja ſagen wuͤrden, obgleich keiner das Ge-
ſicht kennte. Wohl verſtanden, unzaͤhliges laͤßt ſich nicht vorſagen. Aber auch unzaͤhliges laͤßt ſich
ſo vorſagen, daß alle, auch die, welche ſich nie in phyſiognomiſchen Beobachtungen und Urtheilen
geuͤbt haben, einſtimmig ſagen werden — So wird’s ergehen — oder wenn auch das nicht zuge-
geben werden ſollte, ſo wird doch wenigſtens zugegeben werden muͤſſen — daß ſich von unzaͤhligen
Geſichtern mit Zuverlaͤßigkeit voraus ſagen laͤßt — welche unzaͤhlige Dinge ſie nicht thun werden?
Wir haben oben ſchon einige Beyſpiele dieſer Art im Vorbeygehen angefuͤhrt.

Hier nur noch eine Probe — mit Schwarzens Geſichte. Wer wird von einem ſo beſchaf-
fenen Geſichte jemals die Handlung des barmherzigen Samariters erwarten? Wer wird ihm je mit
Zutrauen und Hoffnung etwas abverlangen? Wird euch dieß Geſicht jemals heitere, redliche Ge-
faͤlligkeit erwarten laſſen? Werdet ihr hoffen, daß es euch jemals einen treuen, freundſchaftlichen
Rath geben werde? Gebt ihm was — er wird kaum gedanket haben, ſo wird er von euch mehr
fordern, und ſich bitter und hart raͤchen, wenn ihr’s ihm nicht auch gebet. — Bemuͤht euch nicht, ihm
eine andere Meynung beyzubringen, als die er hat. Was? dieſen kurzen, dicken Nacken wollt ihr
andern Sinnes machen? Von einem Jahre zum andern wird er, wenn alles ſeinen natuͤrlichen
Gang geht,
unbeweglicher, unuͤberzeuglicher werden. Sagte er im Jahre A Nein, daraus
wird nichts!
im Jahre B wird er fluchen, und im Jahre C wird er euch erſtechen, wenn ihr

mehr
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0160" n="130"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">III.</hi> Fragment.</hi></fw><lb/>
unu&#x0364;berwindliche Antipathien giebt &#x2014; (Es giebt die Menge u&#x0364;berwindliche) die la&#x0364;ßt &#x017F;ich gewiß<lb/>
nicht wegdi&#x017F;putiren.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#aq">VI.</hi> </head><lb/>
              <p>Noch mehr. Jch glaube: <hi rendition="#b">Es i&#x017F;t in uns ein Sinn, nicht nur fu&#x0364;r den gegenwa&#x0364;rti-<lb/>
gen, &#x017F;ondern auch fu&#x0364;r den zuku&#x0364;nftigen, noch im gegenwa&#x0364;rtigen ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Charak-<lb/>
ter des Men&#x017F;chen.</hi> Wir ko&#x0364;nnen nicht nur ahnden, was der Men&#x017F;ch i&#x017F;t; &#x017F;ondern auch, was er<lb/>
&#x017F;eyn und nicht &#x017F;eyn wird? wie die&#x017F;es oder jenes Ge&#x017F;icht in die&#x017F;em oder jenem Falle urtheilen, handeln,<lb/>
leiden wird? Und ob es gleich wenige Men&#x017F;chen geben mag, die ohne Uebung hieru&#x0364;ber Aus&#x017F;pru&#x0364;che<lb/>
wagen werden, &#x017F;o wollte ichs dennoch auf Probe und Erfahrung ankommen la&#x017F;&#x017F;en, ob nicht alle<lb/>
ge&#x017F;und organi&#x017F;irte Men&#x017F;chen, denen man von gewi&#x017F;&#x017F;en Ge&#x017F;ichtern voraus &#x017F;agte, was &#x017F;ie &#x017F;agen<lb/>
und thun werden, &#x017F;ogleich einmu&#x0364;thig unter&#x017F;chreiben und Ja &#x017F;agen wu&#x0364;rden, obgleich keiner das Ge-<lb/>
&#x017F;icht kennte. Wohl ver&#x017F;tanden, unza&#x0364;hliges la&#x0364;ßt &#x017F;ich nicht vor&#x017F;agen. Aber auch unza&#x0364;hliges la&#x0364;ßt &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;o vor&#x017F;agen, daß alle, auch die, welche &#x017F;ich nie in phy&#x017F;iognomi&#x017F;chen Beobachtungen und Urtheilen<lb/>
geu&#x0364;bt haben, ein&#x017F;timmig &#x017F;agen werden &#x2014; <hi rendition="#b">So wird&#x2019;s ergehen</hi> &#x2014; oder wenn auch das nicht zuge-<lb/>
geben werden &#x017F;ollte, &#x017F;o wird doch wenig&#x017F;tens zugegeben werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x2014; daß &#x017F;ich von unza&#x0364;hligen<lb/>
Ge&#x017F;ichtern mit Zuverla&#x0364;ßigkeit voraus &#x017F;agen la&#x0364;ßt &#x2014; welche unza&#x0364;hlige Dinge &#x017F;ie <hi rendition="#b">nicht</hi> thun werden?<lb/>
Wir haben oben &#x017F;chon einige Bey&#x017F;piele die&#x017F;er Art im Vorbeygehen angefu&#x0364;hrt.</p><lb/>
              <p>Hier nur noch eine Probe &#x2014; mit Schwarzens Ge&#x017F;ichte. Wer wird von einem &#x017F;o be&#x017F;chaf-<lb/>
fenen Ge&#x017F;ichte jemals die Handlung des barmherzigen Samariters erwarten? Wer wird ihm je mit<lb/>
Zutrauen und Hoffnung etwas abverlangen? Wird euch dieß Ge&#x017F;icht jemals heitere, redliche Ge-<lb/>
fa&#x0364;lligkeit erwarten la&#x017F;&#x017F;en? Werdet ihr hoffen, daß es euch jemals einen treuen, freund&#x017F;chaftlichen<lb/>
Rath geben werde? Gebt ihm was &#x2014; er wird kaum gedanket haben, &#x017F;o wird er von euch mehr<lb/>
fordern, und &#x017F;ich bitter und hart ra&#x0364;chen, wenn ihr&#x2019;s ihm nicht auch gebet. &#x2014; Bemu&#x0364;ht euch nicht, ihm<lb/>
eine andere Meynung beyzubringen, als die er hat. Was? die&#x017F;en kurzen, dicken Nacken wollt ihr<lb/>
andern Sinnes machen? Von einem Jahre zum andern wird er, <hi rendition="#b">wenn alles &#x017F;einen natu&#x0364;rlichen<lb/>
Gang geht,</hi> unbeweglicher, unu&#x0364;berzeuglicher werden. Sagte er im Jahre <hi rendition="#aq">A</hi> <hi rendition="#b">Nein, daraus<lb/>
wird nichts!</hi> im Jahre <hi rendition="#aq">B</hi> wird er <hi rendition="#b">fluchen,</hi> und im Jahre <hi rendition="#aq">C</hi> wird er euch er&#x017F;techen, wenn ihr<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mehr</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0160] II. Abſchnitt. III. Fragment. unuͤberwindliche Antipathien giebt — (Es giebt die Menge uͤberwindliche) die laͤßt ſich gewiß nicht wegdiſputiren. VI. Noch mehr. Jch glaube: Es iſt in uns ein Sinn, nicht nur fuͤr den gegenwaͤrti- gen, ſondern auch fuͤr den zukuͤnftigen, noch im gegenwaͤrtigen verſchloſſenen Charak- ter des Menſchen. Wir koͤnnen nicht nur ahnden, was der Menſch iſt; ſondern auch, was er ſeyn und nicht ſeyn wird? wie dieſes oder jenes Geſicht in dieſem oder jenem Falle urtheilen, handeln, leiden wird? Und ob es gleich wenige Menſchen geben mag, die ohne Uebung hieruͤber Ausſpruͤche wagen werden, ſo wollte ichs dennoch auf Probe und Erfahrung ankommen laſſen, ob nicht alle geſund organiſirte Menſchen, denen man von gewiſſen Geſichtern voraus ſagte, was ſie ſagen und thun werden, ſogleich einmuͤthig unterſchreiben und Ja ſagen wuͤrden, obgleich keiner das Ge- ſicht kennte. Wohl verſtanden, unzaͤhliges laͤßt ſich nicht vorſagen. Aber auch unzaͤhliges laͤßt ſich ſo vorſagen, daß alle, auch die, welche ſich nie in phyſiognomiſchen Beobachtungen und Urtheilen geuͤbt haben, einſtimmig ſagen werden — So wird’s ergehen — oder wenn auch das nicht zuge- geben werden ſollte, ſo wird doch wenigſtens zugegeben werden muͤſſen — daß ſich von unzaͤhligen Geſichtern mit Zuverlaͤßigkeit voraus ſagen laͤßt — welche unzaͤhlige Dinge ſie nicht thun werden? Wir haben oben ſchon einige Beyſpiele dieſer Art im Vorbeygehen angefuͤhrt. Hier nur noch eine Probe — mit Schwarzens Geſichte. Wer wird von einem ſo beſchaf- fenen Geſichte jemals die Handlung des barmherzigen Samariters erwarten? Wer wird ihm je mit Zutrauen und Hoffnung etwas abverlangen? Wird euch dieß Geſicht jemals heitere, redliche Ge- faͤlligkeit erwarten laſſen? Werdet ihr hoffen, daß es euch jemals einen treuen, freundſchaftlichen Rath geben werde? Gebt ihm was — er wird kaum gedanket haben, ſo wird er von euch mehr fordern, und ſich bitter und hart raͤchen, wenn ihr’s ihm nicht auch gebet. — Bemuͤht euch nicht, ihm eine andere Meynung beyzubringen, als die er hat. Was? dieſen kurzen, dicken Nacken wollt ihr andern Sinnes machen? Von einem Jahre zum andern wird er, wenn alles ſeinen natuͤrlichen Gang geht, unbeweglicher, unuͤberzeuglicher werden. Sagte er im Jahre A Nein, daraus wird nichts! im Jahre B wird er fluchen, und im Jahre C wird er euch erſtechen, wenn ihr mehr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/160
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/160>, abgerufen am 25.11.2024.