Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.Physiognomischer Sinn, Genie, Ahndung. den -- wir sprechen nicht von zufälliger Harmonie oder Disharmonie, die von Laune oder Jnter-esse abhängig ist; sondern wir sprechen von physisch wirkender, unmittelbar anziehender Harmonie, unmittelbar zurückstoßender Disharmonie -- von derjenigen Sympathie und Antipathie, die sich nicht auf bürgerliche, litterarische oder andere Verhältnisse gründet, sondern bloß auf das Verhält- niß der Physiognomieen, und die hiemit zwischen zwey Personen, die sich das erstemal sähen, und nicht die mindeste Kenntniß ihres Charakters hätten, möglich wäre -- von Physiognomieen spre- chen wir, die nicht allgemein als widrig, oder als gemein gefällig erkannt würden -- sondern nur unter sich sehr harmonirend oder disharmonirend wären. Jch glaube ganz sicherlich -- es giebt solche Physiognomieen, und es giebt in jedem Menschen einen mehr oder minder entwickel- ten und geübten Sinn für die mit ihm besonders harmonischen oder disharmonischen Gesichter. Und da möchte ich ja wohl jeden Menschen bitten -- denen mit ihm auf den ersten An- blick innerlich widrigen Gesichtern zwar alle mögliche Gerechtigkeit, Güte und Liebe, die sie als Bürger, Menschen und Christen verdienen mögen, zu beweisen, aber sich nie mit ihnen, so sehr sich auch immer dieser erste Eindruck wieder verlieren und auswischen lassen möchte, in Freundschaft, in unmittelbare Herzensvertraulichkeiten einzulassen. Gott, unser Vater, will, daß wir alle ein- ander lieben, das ist, aufrichtig Gutes wünschen und Gutes thun -- aber das will er nicht, und der Urheber unserer Natur kann's nicht wollen, daß wir Menschen, die uns, wie jene cananitischen Weiber dem Geiste Jsaaks und Rebeckens, zuwider sind, in das Ehebette, oder ins Allerheiligste unserer Freundschaft aufnehmen sollen; das ist: er will nicht, und kann nicht wollen, daß wir dem Menschen, der in natürlicher, von allen Beleidigungen oder Nichtbeleidigungen unabhängiger An- tipathie mit uns steht, sagen sollen -- "Jch sympathisire mit dir!" -- Unser Herr liebte gewiß auch den Judas -- aber sympathisirte doch gewiß nicht mit ihm, wie mit dem Johannes, und vertraute ihm auch, ob er gleich sich bisweilen von ihm mußte küssen lassen, die Geheimnisse nicht, die er dem Jünger, den er liebte, der auch im Nachtmahle an seiner Brust lag -- vertraute. -- Hierinn be- trog mich, meines Erinnerns, mein Gefühl noch nie. Die ersten, schnellesten, unräsonnirtesten Bewegungen sind immer die wahresten; sie sind eine Art von Jnspiration. Es sey ferne von mir, die Gründe davon angeben, oder auch nur auffinden zu wollen. Aber die Erfahrung, daß es solche unüber- Phys. Fragm. IV Versuch. R
Phyſiognomiſcher Sinn, Genie, Ahndung. den — wir ſprechen nicht von zufaͤlliger Harmonie oder Disharmonie, die von Laune oder Jnter-eſſe abhaͤngig iſt; ſondern wir ſprechen von phyſiſch wirkender, unmittelbar anziehender Harmonie, unmittelbar zuruͤckſtoßender Disharmonie — von derjenigen Sympathie und Antipathie, die ſich nicht auf buͤrgerliche, litterariſche oder andere Verhaͤltniſſe gruͤndet, ſondern bloß auf das Verhaͤlt- niß der Phyſiognomieen, und die hiemit zwiſchen zwey Perſonen, die ſich das erſtemal ſaͤhen, und nicht die mindeſte Kenntniß ihres Charakters haͤtten, moͤglich waͤre — von Phyſiognomieen ſpre- chen wir, die nicht allgemein als widrig, oder als gemein gefaͤllig erkannt wuͤrden — ſondern nur unter ſich ſehr harmonirend oder disharmonirend waͤren. Jch glaube ganz ſicherlich — es giebt ſolche Phyſiognomieen, und es giebt in jedem Menſchen einen mehr oder minder entwickel- ten und geuͤbten Sinn fuͤr die mit ihm beſonders harmoniſchen oder disharmoniſchen Geſichter. Und da moͤchte ich ja wohl jeden Menſchen bitten — denen mit ihm auf den erſten An- blick innerlich widrigen Geſichtern zwar alle moͤgliche Gerechtigkeit, Guͤte und Liebe, die ſie als Buͤrger, Menſchen und Chriſten verdienen moͤgen, zu beweiſen, aber ſich nie mit ihnen, ſo ſehr ſich auch immer dieſer erſte Eindruck wieder verlieren und auswiſchen laſſen moͤchte, in Freundſchaft, in unmittelbare Herzensvertraulichkeiten einzulaſſen. Gott, unſer Vater, will, daß wir alle ein- ander lieben, das iſt, aufrichtig Gutes wuͤnſchen und Gutes thun — aber das will er nicht, und der Urheber unſerer Natur kann’s nicht wollen, daß wir Menſchen, die uns, wie jene cananitiſchen Weiber dem Geiſte Jſaaks und Rebeckens, zuwider ſind, in das Ehebette, oder ins Allerheiligſte unſerer Freundſchaft aufnehmen ſollen; das iſt: er will nicht, und kann nicht wollen, daß wir dem Menſchen, der in natuͤrlicher, von allen Beleidigungen oder Nichtbeleidigungen unabhaͤngiger An- tipathie mit uns ſteht, ſagen ſollen — „Jch ſympathiſire mit dir!“ — Unſer Herr liebte gewiß auch den Judas — aber ſympathiſirte doch gewiß nicht mit ihm, wie mit dem Johannes, und vertraute ihm auch, ob er gleich ſich bisweilen von ihm mußte kuͤſſen laſſen, die Geheimniſſe nicht, die er dem Juͤnger, den er liebte, der auch im Nachtmahle an ſeiner Bruſt lag — vertraute. — Hierinn be- trog mich, meines Erinnerns, mein Gefuͤhl noch nie. Die erſten, ſchnelleſten, unraͤſonnirteſten Bewegungen ſind immer die wahreſten; ſie ſind eine Art von Jnſpiration. Es ſey ferne von mir, die Gruͤnde davon angeben, oder auch nur auffinden zu wollen. Aber die Erfahrung, daß es ſolche unuͤber- Phyſ. Fragm. IV Verſuch. R
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Phyſiognomiſcher Sinn, Genie, Ahndung.
den — wir ſprechen nicht von zufaͤlliger Harmonie oder Disharmonie, die von Laune oder Jnter-
eſſe abhaͤngig iſt; ſondern wir ſprechen von phyſiſch wirkender, unmittelbar anziehender Harmonie,
unmittelbar zuruͤckſtoßender Disharmonie — von derjenigen Sympathie und Antipathie, die ſich
nicht auf buͤrgerliche, litterariſche oder andere Verhaͤltniſſe gruͤndet, ſondern bloß auf das Verhaͤlt-
niß der Phyſiognomieen, und die hiemit zwiſchen zwey Perſonen, die ſich das erſtemal ſaͤhen, und
nicht die mindeſte Kenntniß ihres Charakters haͤtten, moͤglich waͤre — von Phyſiognomieen ſpre-
chen wir, die nicht allgemein als widrig, oder als gemein gefaͤllig erkannt wuͤrden — ſondern nur
unter ſich ſehr harmonirend oder disharmonirend waͤren. Jch glaube ganz ſicherlich — es giebt
ſolche Phyſiognomieen, und es giebt in jedem Menſchen einen mehr oder minder entwickel-
ten und geuͤbten Sinn fuͤr die mit ihm beſonders harmoniſchen oder disharmoniſchen
Geſichter. Und da moͤchte ich ja wohl jeden Menſchen bitten — denen mit ihm auf den erſten An-
blick innerlich widrigen Geſichtern zwar alle moͤgliche Gerechtigkeit, Guͤte und Liebe, die ſie als
Buͤrger, Menſchen und Chriſten verdienen moͤgen, zu beweiſen, aber ſich nie mit ihnen, ſo ſehr ſich auch
immer dieſer erſte Eindruck wieder verlieren und auswiſchen laſſen moͤchte, in Freundſchaft, in
unmittelbare Herzensvertraulichkeiten einzulaſſen. Gott, unſer Vater, will, daß wir alle ein-
ander lieben, das iſt, aufrichtig Gutes wuͤnſchen und Gutes thun — aber das will er nicht, und
der Urheber unſerer Natur kann’s nicht wollen, daß wir Menſchen, die uns, wie jene cananitiſchen
Weiber dem Geiſte Jſaaks und Rebeckens, zuwider ſind, in das Ehebette, oder ins Allerheiligſte
unſerer Freundſchaft aufnehmen ſollen; das iſt: er will nicht, und kann nicht wollen, daß wir dem
Menſchen, der in natuͤrlicher, von allen Beleidigungen oder Nichtbeleidigungen unabhaͤngiger An-
tipathie mit uns ſteht, ſagen ſollen — „Jch ſympathiſire mit dir!“ — Unſer Herr liebte gewiß auch
den Judas — aber ſympathiſirte doch gewiß nicht mit ihm, wie mit dem Johannes, und vertraute ihm
auch, ob er gleich ſich bisweilen von ihm mußte kuͤſſen laſſen, die Geheimniſſe nicht, die er dem
Juͤnger, den er liebte, der auch im Nachtmahle an ſeiner Bruſt lag — vertraute. — Hierinn be-
trog mich, meines Erinnerns, mein Gefuͤhl noch nie. Die erſten, ſchnelleſten, unraͤſonnirteſten
Bewegungen ſind immer die wahreſten; ſie ſind eine Art von Jnſpiration. Es ſey ferne von mir,
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