"nung der Muskeln bestimmt die Denk- und Empfindungsart eines Menschen" -- und -- thue ich hinzu -- wird hinwiederum von dem Geiste des Menschen bestimmt.
4.
"Man sagt, daß eine breite, viel umfassende Stirne Tiefsinn verrathe -- Natürlich! zum "tiefen Denken ist der Stirnmuskel ein unentbehrliches Werkzeug. Enge zusammengeschrumpft "würde er doch wohl die Dienste nicht so leisten können, als nun, da er gleichsam wie ein Segeltuch "ausgespannt ist." -- Ohne dem Verfasser in Ansehung der Hauptsache zu widersprechen, füge ich nur die nähere Bestimmung bey. Wahr ists, wenn man will, überhaupt: Je mehr Gehirn, desto mehr Geist und Erkenntnißfähigkeit. Die hirnlosesten Thiere sind die dümmsten. Die weisesten, die so am meisten Hirn haben. Der Mensch, überhaupt weiser als alle Thiere -- hat mehr Hirn als alle Thiere -- und der Schluß scheint also, der Analogie nach, sehr richtig: Die weisesten Menschen müssen mehr Hirn haben, als unweise. Allein genaue Beobachtungen lehren, daß auch dieser Satz vieler Bestimmungen und Einschränkungen bedarf, wenn er brauchbar wahr seyn soll. Wo der Stoff und die Form des Gehirns gleich ist, da ist gewiß eine größere Maaße des Gehirns Wohnplatz, Zeichen, Ursache oder Wirkung mehrerer und tieferer Erkenntnißkräfte. Also, ceteris paribus, ist eine große Gehirnmasse, mithin eine große, geräumige Stirn verständi- ger, als eine kleinere. Allein -- wie man in einem kleinen wohl eingerichteten Zimmer oft weit be- quemer ist, als im geräumigsten -- so giebt's mannichfaltige kleine, kurze Stirnen, die weit weni- ger Gehirn haben, wenigstens zu haben scheinen, als andre, und in denen doch ein weiserer Geist be- quem wohnt. Mir sind sehr kurze, schief stehende, geradlinigte, oder auch wohl gewölbte Stirnen die Menge bekannt, die ungleich weiser, verständiger, scharfsehender sind, als die breitesten, geräu- migsten. Denn deren sah ich schon sehr viele an äußerst schwachen Menschen. Ja noch viel allge- meiner scheint mir der Satz: Kurze, gedrängte, unausgespannte Stirnen sind weise und verstän- dig. Wiewohl auch dieß, nicht näher bestimmt, noch lange nicht allgemein wahr wäre. Aber wahr ist, daß gerade die großen, geräumigen Stirnen -- welche, wo ich nicht irre, Galen und nach ihm Huart als Wohnplatz der vollkommensten Denkenskraft angiebt, die gleichsam eine Halbkugel aus- machen, gemeiniglich die allerdümmsten sind. Je mehr eine Stirn, (ich rede nicht von dem gan- zen Hirnschädel) je mehr eine Stirn der Halbkugel nahe kömmt -- desto schwächer, weibischer,
denkens-
II. Abſchnitt. I. Fragment.
„nung der Muskeln beſtimmt die Denk- und Empfindungsart eines Menſchen“ — und — thue ich hinzu — wird hinwiederum von dem Geiſte des Menſchen beſtimmt.
4.
„Man ſagt, daß eine breite, viel umfaſſende Stirne Tiefſinn verrathe — Natuͤrlich! zum „tiefen Denken iſt der Stirnmuskel ein unentbehrliches Werkzeug. Enge zuſammengeſchrumpft „wuͤrde er doch wohl die Dienſte nicht ſo leiſten koͤnnen, als nun, da er gleichſam wie ein Segeltuch „ausgeſpannt iſt.“ — Ohne dem Verfaſſer in Anſehung der Hauptſache zu widerſprechen, fuͤge ich nur die naͤhere Beſtimmung bey. Wahr iſts, wenn man will, uͤberhaupt: Je mehr Gehirn, deſto mehr Geiſt und Erkenntnißfaͤhigkeit. Die hirnloſeſten Thiere ſind die duͤmmſten. Die weiſeſten, die ſo am meiſten Hirn haben. Der Menſch, uͤberhaupt weiſer als alle Thiere — hat mehr Hirn als alle Thiere — und der Schluß ſcheint alſo, der Analogie nach, ſehr richtig: Die weiſeſten Menſchen muͤſſen mehr Hirn haben, als unweiſe. Allein genaue Beobachtungen lehren, daß auch dieſer Satz vieler Beſtimmungen und Einſchraͤnkungen bedarf, wenn er brauchbar wahr ſeyn ſoll. Wo der Stoff und die Form des Gehirns gleich iſt, da iſt gewiß eine groͤßere Maaße des Gehirns Wohnplatz, Zeichen, Urſache oder Wirkung mehrerer und tieferer Erkenntnißkraͤfte. Alſo, ceteris paribus, iſt eine große Gehirnmaſſe, mithin eine große, geraͤumige Stirn verſtaͤndi- ger, als eine kleinere. Allein — wie man in einem kleinen wohl eingerichteten Zimmer oft weit be- quemer iſt, als im geraͤumigſten — ſo giebt’s mannichfaltige kleine, kurze Stirnen, die weit weni- ger Gehirn haben, wenigſtens zu haben ſcheinen, als andre, und in denen doch ein weiſerer Geiſt be- quem wohnt. Mir ſind ſehr kurze, ſchief ſtehende, geradlinigte, oder auch wohl gewoͤlbte Stirnen die Menge bekannt, die ungleich weiſer, verſtaͤndiger, ſcharfſehender ſind, als die breiteſten, geraͤu- migſten. Denn deren ſah ich ſchon ſehr viele an aͤußerſt ſchwachen Menſchen. Ja noch viel allge- meiner ſcheint mir der Satz: Kurze, gedraͤngte, unausgeſpannte Stirnen ſind weiſe und verſtaͤn- dig. Wiewohl auch dieß, nicht naͤher beſtimmt, noch lange nicht allgemein wahr waͤre. Aber wahr iſt, daß gerade die großen, geraͤumigen Stirnen — welche, wo ich nicht irre, Galen und nach ihm Huart als Wohnplatz der vollkommenſten Denkenskraft angiebt, die gleichſam eine Halbkugel aus- machen, gemeiniglich die allerduͤmmſten ſind. Je mehr eine Stirn, (ich rede nicht von dem gan- zen Hirnſchaͤdel) je mehr eine Stirn der Halbkugel nahe koͤmmt — deſto ſchwaͤcher, weibiſcher,
denkens-
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II. Abſchnitt. I. Fragment.
„nung der Muskeln beſtimmt die Denk- und Empfindungsart eines Menſchen“ — und — thue ich
hinzu — wird hinwiederum von dem Geiſte des Menſchen beſtimmt.
4.
„Man ſagt, daß eine breite, viel umfaſſende Stirne Tiefſinn verrathe — Natuͤrlich! zum
„tiefen Denken iſt der Stirnmuskel ein unentbehrliches Werkzeug. Enge zuſammengeſchrumpft
„wuͤrde er doch wohl die Dienſte nicht ſo leiſten koͤnnen, als nun, da er gleichſam wie ein Segeltuch
„ausgeſpannt iſt.“ — Ohne dem Verfaſſer in Anſehung der Hauptſache zu widerſprechen, fuͤge ich
nur die naͤhere Beſtimmung bey. Wahr iſts, wenn man will, uͤberhaupt: Je mehr Gehirn, deſto
mehr Geiſt und Erkenntnißfaͤhigkeit. Die hirnloſeſten Thiere ſind die duͤmmſten. Die weiſeſten,
die ſo am meiſten Hirn haben. Der Menſch, uͤberhaupt weiſer als alle Thiere — hat mehr Hirn
als alle Thiere — und der Schluß ſcheint alſo, der Analogie nach, ſehr richtig: Die weiſeſten
Menſchen muͤſſen mehr Hirn haben, als unweiſe. Allein genaue Beobachtungen lehren,
daß auch dieſer Satz vieler Beſtimmungen und Einſchraͤnkungen bedarf, wenn er brauchbar wahr
ſeyn ſoll. Wo der Stoff und die Form des Gehirns gleich iſt, da iſt gewiß eine groͤßere Maaße
des Gehirns Wohnplatz, Zeichen, Urſache oder Wirkung mehrerer und tieferer Erkenntnißkraͤfte.
Alſo, ceteris paribus, iſt eine große Gehirnmaſſe, mithin eine große, geraͤumige Stirn verſtaͤndi-
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quemer iſt, als im geraͤumigſten — ſo giebt’s mannichfaltige kleine, kurze Stirnen, die weit weni-
ger Gehirn haben, wenigſtens zu haben ſcheinen, als andre, und in denen doch ein weiſerer Geiſt be-
quem wohnt. Mir ſind ſehr kurze, ſchief ſtehende, geradlinigte, oder auch wohl gewoͤlbte Stirnen
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migſten. Denn deren ſah ich ſchon ſehr viele an aͤußerſt ſchwachen Menſchen. Ja noch viel allge-
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iſt, daß gerade die großen, geraͤumigen Stirnen — welche, wo ich nicht irre, Galen und nach ihm
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zen Hirnſchaͤdel) je mehr eine Stirn der Halbkugel nahe koͤmmt — deſto ſchwaͤcher, weibiſcher,
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/136>, abgerufen am 28.11.2024.
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