Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite
Einige physiognomische Gedanken mit Anmerkungen.

Jch antworte -- Zeichen, Ursache und Wirkung zugleich.

Zeichen -- denn sie zeiget Witz an. Sie ist unwillkührlicher Ausdruck von Witze. Ursa-
che
-- wenigstens Ursache des nicht größern, nicht geringern, nicht andersartigen Witzes.
Gränzursache.

Wirkung des Geistes, der so und so ein Maaß von Wirksamkeit hatte, daß unter dersel-
ben die Nase nicht kleiner bleiben, nicht größer werden und sich nicht anders formen konnte. Nicht
nur die Form, als Form, sondern auch der Stoff, der die Form bildet, dessen Bildsamkeit durch
seine Natur und Jngredienzien bestimmt wird, ist in Betrachtung zu ziehen. Dieser Stoff ist viel-
leicht der Urgrund der Form. Auf so und so ein Maaß dieses gegebenen Stoffes mußte das unsterb-
liche, durch ihn beschränkte, Theion im Menschen gerade nach der Empfängniß so und so wirken. Von
diesem Moment an begann die bestimmte Federkraft dieser Geistigkeit. Wie die Stahlfeder erst
durch Widerstand, Einsperrung, Beschränkung wirksam wird.

Also ist's nicht wahr und wahr, daß wenigstens gewisse Stumpfnasen eine ewig übersteig-
liche Vormauer sind, jemals zum Witze zu gelangen. Nicht wahr -- denn bevor die Nase so stumpf
ausgezeichnet und umrissen ward -- war die Möglichkeit nicht da, daß sie in dem gegebenen
Körper, dem gegebenen Maaße, in der bestimmten Organisation, deren Resultat sie ist -- anders
geformt würde; es fehlte dem Geiste, dem Leben, dem Jch -- das nach der Absicht des Schöpfers
nicht so witzreich werden sollte, Spielraum sie herauszuspitzen. Nicht so wohl also die Nase an sich
ist diese Vormauer.

Wahr aber -- und gewiß ist, daß gewissen Stumpfnasen ein gewisses Maaß von Witz
durchaus uneinpfropfbar ist; und daß sich also, jedoch mehr witzig, als philosophisch sagen läßt --
"Sie seyen eine unübersteigliche Vormauer."

3.

"Die Uebereinstimmung der äußern Figur mit den innern Eigenschaften ist nicht die Folge
"des äußern Anstandes; sondern des physischen Zusammenhanges. Die Sache verhält sich also wie
"Ursache und Wirkung; mit andern Worten: die Physiognomie ist nicht bloß Bild des innern
"Menschen; sondern wirkende Ursache." -- Jch sage lieber Gränzursache -- "Bildung und Ord-

nung
O 2
Einige phyſiognomiſche Gedanken mit Anmerkungen.

Jch antworte — Zeichen, Urſache und Wirkung zugleich.

Zeichen — denn ſie zeiget Witz an. Sie iſt unwillkuͤhrlicher Ausdruck von Witze. Urſa-
che
— wenigſtens Urſache des nicht groͤßern, nicht geringern, nicht andersartigen Witzes.
Graͤnzurſache.

Wirkung des Geiſtes, der ſo und ſo ein Maaß von Wirkſamkeit hatte, daß unter derſel-
ben die Naſe nicht kleiner bleiben, nicht groͤßer werden und ſich nicht anders formen konnte. Nicht
nur die Form, als Form, ſondern auch der Stoff, der die Form bildet, deſſen Bildſamkeit durch
ſeine Natur und Jngredienzien beſtimmt wird, iſt in Betrachtung zu ziehen. Dieſer Stoff iſt viel-
leicht der Urgrund der Form. Auf ſo und ſo ein Maaß dieſes gegebenen Stoffes mußte das unſterb-
liche, durch ihn beſchraͤnkte, Θειον im Menſchen gerade nach der Empfaͤngniß ſo und ſo wirken. Von
dieſem Moment an begann die beſtimmte Federkraft dieſer Geiſtigkeit. Wie die Stahlfeder erſt
durch Widerſtand, Einſperrung, Beſchraͤnkung wirkſam wird.

Alſo iſt’s nicht wahr und wahr, daß wenigſtens gewiſſe Stumpfnaſen eine ewig uͤberſteig-
liche Vormauer ſind, jemals zum Witze zu gelangen. Nicht wahr — denn bevor die Naſe ſo ſtumpf
ausgezeichnet und umriſſen ward — war die Moͤglichkeit nicht da, daß ſie in dem gegebenen
Koͤrper, dem gegebenen Maaße, in der beſtimmten Organiſation, deren Reſultat ſie iſt — anders
geformt wuͤrde; es fehlte dem Geiſte, dem Leben, dem Jch — das nach der Abſicht des Schoͤpfers
nicht ſo witzreich werden ſollte, Spielraum ſie herauszuſpitzen. Nicht ſo wohl alſo die Naſe an ſich
iſt dieſe Vormauer.

Wahr aber — und gewiß iſt, daß gewiſſen Stumpfnaſen ein gewiſſes Maaß von Witz
durchaus uneinpfropfbar iſt; und daß ſich alſo, jedoch mehr witzig, als philoſophiſch ſagen laͤßt —
„Sie ſeyen eine unuͤberſteigliche Vormauer.“

3.

„Die Uebereinſtimmung der aͤußern Figur mit den innern Eigenſchaften iſt nicht die Folge
„des aͤußern Anſtandes; ſondern des phyſiſchen Zuſammenhanges. Die Sache verhaͤlt ſich alſo wie
„Urſache und Wirkung; mit andern Worten: die Phyſiognomie iſt nicht bloß Bild des innern
„Menſchen; ſondern wirkende Urſache.“ — Jch ſage lieber Graͤnzurſache — „Bildung und Ord-

nung
O 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0135" n="107"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Einige phy&#x017F;iognomi&#x017F;che Gedanken mit Anmerkungen.</hi> </fw><lb/>
              <p>Jch antworte &#x2014; <hi rendition="#b">Zeichen, Ur&#x017F;ache</hi> und <hi rendition="#b">Wirkung</hi> zugleich.</p><lb/>
              <p>Zeichen &#x2014; denn &#x017F;ie zeiget Witz an. Sie i&#x017F;t unwillku&#x0364;hrlicher Ausdruck von Witze. <hi rendition="#b">Ur&#x017F;a-<lb/>
che</hi> &#x2014; wenig&#x017F;tens Ur&#x017F;ache des <hi rendition="#b">nicht gro&#x0364;ßern,</hi> nicht geringern, nicht <hi rendition="#b">andersartigen</hi> Witzes.<lb/><hi rendition="#b">Gra&#x0364;nzur&#x017F;ache.</hi></p><lb/>
              <p><hi rendition="#b">Wirkung</hi> des <hi rendition="#b">Gei&#x017F;tes,</hi> der &#x017F;o und &#x017F;o ein Maaß von Wirk&#x017F;amkeit hatte, daß unter der&#x017F;el-<lb/>
ben die Na&#x017F;e nicht kleiner bleiben, nicht gro&#x0364;ßer werden und &#x017F;ich nicht anders formen konnte. Nicht<lb/>
nur die Form, als Form, &#x017F;ondern auch der Stoff, der die Form bildet, de&#x017F;&#x017F;en Bild&#x017F;amkeit durch<lb/>
&#x017F;eine Natur und Jngredienzien be&#x017F;timmt wird, i&#x017F;t in Betrachtung zu ziehen. Die&#x017F;er Stoff i&#x017F;t viel-<lb/>
leicht der Urgrund der Form. Auf &#x017F;o und &#x017F;o ein Maaß die&#x017F;es gegebenen Stoffes mußte das un&#x017F;terb-<lb/>
liche, durch ihn be&#x017F;chra&#x0364;nkte, &#x0398;&#x03B5;&#x03B9;&#x03BF;&#x03BD; im Men&#x017F;chen gerade nach der Empfa&#x0364;ngniß &#x017F;o und &#x017F;o wirken. Von<lb/>
die&#x017F;em Moment an begann die be&#x017F;timmte Federkraft die&#x017F;er Gei&#x017F;tigkeit. Wie die Stahlfeder er&#x017F;t<lb/>
durch Wider&#x017F;tand, Ein&#x017F;perrung, Be&#x017F;chra&#x0364;nkung wirk&#x017F;am wird.</p><lb/>
              <p>Al&#x017F;o i&#x017F;t&#x2019;s nicht wahr und wahr, daß wenig&#x017F;tens <hi rendition="#b">gewi&#x017F;&#x017F;e</hi> Stumpfna&#x017F;en eine ewig u&#x0364;ber&#x017F;teig-<lb/>
liche Vormauer &#x017F;ind, jemals zum Witze zu gelangen. <hi rendition="#b">Nicht wahr</hi> &#x2014; denn <hi rendition="#b">bevor</hi> die Na&#x017F;e &#x017F;o &#x017F;tumpf<lb/><hi rendition="#b">ausgezeichnet</hi> und <hi rendition="#b">umri&#x017F;&#x017F;en</hi> ward &#x2014; war die <hi rendition="#b">Mo&#x0364;glichkeit</hi> nicht da, daß &#x017F;ie in dem gegebenen<lb/>
Ko&#x0364;rper, dem gegebenen Maaße, in der be&#x017F;timmten Organi&#x017F;ation, deren Re&#x017F;ultat &#x017F;ie i&#x017F;t &#x2014; anders<lb/>
geformt wu&#x0364;rde; es fehlte dem Gei&#x017F;te, dem Leben, dem Jch &#x2014; das nach der Ab&#x017F;icht des Scho&#x0364;pfers<lb/>
nicht &#x017F;o witzreich werden &#x017F;ollte, Spielraum &#x017F;ie herauszu&#x017F;pitzen. Nicht &#x017F;o wohl al&#x017F;o die Na&#x017F;e an &#x017F;ich<lb/>
i&#x017F;t die&#x017F;e Vormauer.</p><lb/>
              <p><hi rendition="#b">Wahr</hi> aber &#x2014; und gewiß i&#x017F;t, daß gewi&#x017F;&#x017F;en Stumpfna&#x017F;en ein gewi&#x017F;&#x017F;es Maaß von Witz<lb/>
durchaus uneinpfropfbar i&#x017F;t; und daß &#x017F;ich al&#x017F;o, jedoch mehr witzig, als philo&#x017F;ophi&#x017F;ch &#x017F;agen la&#x0364;ßt &#x2014;<lb/>
&#x201E;Sie &#x017F;eyen eine unu&#x0364;ber&#x017F;teigliche Vormauer.&#x201C;</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>3.</head><lb/>
              <p>&#x201E;Die Ueberein&#x017F;timmung der a&#x0364;ußern Figur mit den innern Eigen&#x017F;chaften i&#x017F;t nicht die Folge<lb/>
&#x201E;des a&#x0364;ußern An&#x017F;tandes; &#x017F;ondern des phy&#x017F;i&#x017F;chen Zu&#x017F;ammenhanges. Die Sache verha&#x0364;lt &#x017F;ich al&#x017F;o wie<lb/>
&#x201E;Ur&#x017F;ache und Wirkung; mit andern Worten: die Phy&#x017F;iognomie i&#x017F;t nicht bloß Bild des innern<lb/>
&#x201E;Men&#x017F;chen; &#x017F;ondern wirkende Ur&#x017F;ache.&#x201C; &#x2014; Jch &#x017F;age lieber <hi rendition="#b">Gra&#x0364;nzur&#x017F;ache</hi> &#x2014; &#x201E;Bildung und Ord-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O 2</fw><fw place="bottom" type="catch">nung</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[107/0135] Einige phyſiognomiſche Gedanken mit Anmerkungen. Jch antworte — Zeichen, Urſache und Wirkung zugleich. Zeichen — denn ſie zeiget Witz an. Sie iſt unwillkuͤhrlicher Ausdruck von Witze. Urſa- che — wenigſtens Urſache des nicht groͤßern, nicht geringern, nicht andersartigen Witzes. Graͤnzurſache. Wirkung des Geiſtes, der ſo und ſo ein Maaß von Wirkſamkeit hatte, daß unter derſel- ben die Naſe nicht kleiner bleiben, nicht groͤßer werden und ſich nicht anders formen konnte. Nicht nur die Form, als Form, ſondern auch der Stoff, der die Form bildet, deſſen Bildſamkeit durch ſeine Natur und Jngredienzien beſtimmt wird, iſt in Betrachtung zu ziehen. Dieſer Stoff iſt viel- leicht der Urgrund der Form. Auf ſo und ſo ein Maaß dieſes gegebenen Stoffes mußte das unſterb- liche, durch ihn beſchraͤnkte, Θειον im Menſchen gerade nach der Empfaͤngniß ſo und ſo wirken. Von dieſem Moment an begann die beſtimmte Federkraft dieſer Geiſtigkeit. Wie die Stahlfeder erſt durch Widerſtand, Einſperrung, Beſchraͤnkung wirkſam wird. Alſo iſt’s nicht wahr und wahr, daß wenigſtens gewiſſe Stumpfnaſen eine ewig uͤberſteig- liche Vormauer ſind, jemals zum Witze zu gelangen. Nicht wahr — denn bevor die Naſe ſo ſtumpf ausgezeichnet und umriſſen ward — war die Moͤglichkeit nicht da, daß ſie in dem gegebenen Koͤrper, dem gegebenen Maaße, in der beſtimmten Organiſation, deren Reſultat ſie iſt — anders geformt wuͤrde; es fehlte dem Geiſte, dem Leben, dem Jch — das nach der Abſicht des Schoͤpfers nicht ſo witzreich werden ſollte, Spielraum ſie herauszuſpitzen. Nicht ſo wohl alſo die Naſe an ſich iſt dieſe Vormauer. Wahr aber — und gewiß iſt, daß gewiſſen Stumpfnaſen ein gewiſſes Maaß von Witz durchaus uneinpfropfbar iſt; und daß ſich alſo, jedoch mehr witzig, als philoſophiſch ſagen laͤßt — „Sie ſeyen eine unuͤberſteigliche Vormauer.“ 3. „Die Uebereinſtimmung der aͤußern Figur mit den innern Eigenſchaften iſt nicht die Folge „des aͤußern Anſtandes; ſondern des phyſiſchen Zuſammenhanges. Die Sache verhaͤlt ſich alſo wie „Urſache und Wirkung; mit andern Worten: die Phyſiognomie iſt nicht bloß Bild des innern „Menſchen; ſondern wirkende Urſache.“ — Jch ſage lieber Graͤnzurſache — „Bildung und Ord- nung O 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/135
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/135>, abgerufen am 28.11.2024.