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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Einige physiognomische Gedanken mit Anmerkungen.
denkensunfähiger ist sie -- das sage ich nach vielfältigen Beobachtungen. Je mehr gerade Li-
nien eine Stirn hat, mithin je weniger geräumig sie ist; denn je gewölbter, desto geräumiger; je
geradlinigter, desto enger -- je mehr gerade Linien eine Stirn hat, ohne ganz Bretähnlich zu
seyn -- denn vollkommene Bretähnlichkeit hebt allen Verstand auf -- Je mehr gerade Linien
eine Stirn hat, desto mehr Verstand und desto weniger Empfindung hat der Mensch. Es
giebt aber unstreitig breite, viel umfassende Stirnen, die zum tiefen Denken vorzüglich geschickt
sind, die keine geraden Linien haben -- allein diese zeichnen sich sodann durch die Schweifungen
der Umrisse aus.

5.

Was der Verfasser von den Schwärmern sagt -- bedarf wiederum vieler Bestimmung,
ehe es als wahr angenommen werden kann. Doch vielleicht bin ich mit den Schwärmern im Aus-
stande. --

"Man sagt, daß die Schwärmer gemeiniglich platte, perpendikulare Gesichter haben." --
Lieber, länglicht runde, cylindrische, oder oben zugespitzte. Die Schwärmer nämlich, die's mit
Ruhe, Kälte, und ihr ganz Lebenlang sind. Andre Schwärmer, das heißt, solche Menschen, die
Einbildungen mit Empfindungen verwechseln -- Täuschung mit sinnlicher Erfahrung, haben selten
cylindrische Spitzköpfe. Die Spitzköpfe, wenn sie schwärmen, schwärmen mit Worten und Zei-
chen, deren Bedeutungen, deren Gehalt sie nicht verstehen; sind philosophische, unpoetische Schwär-
mer. Die Schwärmer der Jmagination, oder der Empfindung, haben selten platte, einförmige
Gesichtsbildungen. --

6.

"Eigensinnige Leute haben das mit den Schwärmern gemein, daß ihre Stirnen perpendi-
"kular sind." -- Perpendikularität zeigt immer Kälte, Unelastizität, Beschränktheit -- daher Fe-
ste, die Standhaftigkeit, die Eigensinn, die Hartsinn, die Schwärmerey werden kann -- Ganz
perpendikular -- und ganz Null an Verstand ist Eins.

7.

"Einer jeden Geistesdisposition entspricht eine gewisse Miene oder Bewegung der Gesichts-
"muskeln. Hieraus folgt, was für Mienen einem Menschen am natürlichsten und geläufigsten sind,

eben
O 3

Einige phyſiognomiſche Gedanken mit Anmerkungen.
denkensunfaͤhiger iſt ſie — das ſage ich nach vielfaͤltigen Beobachtungen. Je mehr gerade Li-
nien eine Stirn hat, mithin je weniger geraͤumig ſie iſt; denn je gewoͤlbter, deſto geraͤumiger; je
geradlinigter, deſto enger — je mehr gerade Linien eine Stirn hat, ohne ganz Bretaͤhnlich zu
ſeyn — denn vollkommene Bretaͤhnlichkeit hebt allen Verſtand auf — Je mehr gerade Linien
eine Stirn hat, deſto mehr Verſtand und deſto weniger Empfindung hat der Menſch. Es
giebt aber unſtreitig breite, viel umfaſſende Stirnen, die zum tiefen Denken vorzuͤglich geſchickt
ſind, die keine geraden Linien haben — allein dieſe zeichnen ſich ſodann durch die Schweifungen
der Umriſſe aus.

5.

Was der Verfaſſer von den Schwaͤrmern ſagt — bedarf wiederum vieler Beſtimmung,
ehe es als wahr angenommen werden kann. Doch vielleicht bin ich mit den Schwaͤrmern im Aus-
ſtande. —

„Man ſagt, daß die Schwaͤrmer gemeiniglich platte, perpendikulare Geſichter haben.“ —
Lieber, laͤnglicht runde, cylindriſche, oder oben zugeſpitzte. Die Schwaͤrmer naͤmlich, die’s mit
Ruhe, Kaͤlte, und ihr ganz Lebenlang ſind. Andre Schwaͤrmer, das heißt, ſolche Menſchen, die
Einbildungen mit Empfindungen verwechſeln — Taͤuſchung mit ſinnlicher Erfahrung, haben ſelten
cylindriſche Spitzkoͤpfe. Die Spitzkoͤpfe, wenn ſie ſchwaͤrmen, ſchwaͤrmen mit Worten und Zei-
chen, deren Bedeutungen, deren Gehalt ſie nicht verſtehen; ſind philoſophiſche, unpoetiſche Schwaͤr-
mer. Die Schwaͤrmer der Jmagination, oder der Empfindung, haben ſelten platte, einfoͤrmige
Geſichtsbildungen. —

6.

„Eigenſinnige Leute haben das mit den Schwaͤrmern gemein, daß ihre Stirnen perpendi-
„kular ſind.“ — Perpendikularitaͤt zeigt immer Kaͤlte, Unelaſtizitaͤt, Beſchraͤnktheit — daher Fe-
ſte, die Standhaftigkeit, die Eigenſinn, die Hartſinn, die Schwaͤrmerey werden kann — Ganz
perpendikular — und ganz Null an Verſtand iſt Eins.

7.

„Einer jeden Geiſtesdiſpoſition entſpricht eine gewiſſe Miene oder Bewegung der Geſichts-
„muskeln. Hieraus folgt, was fuͤr Mienen einem Menſchen am natuͤrlichſten und gelaͤufigſten ſind,

eben
O 3
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[109/0137] Einige phyſiognomiſche Gedanken mit Anmerkungen. denkensunfaͤhiger iſt ſie — das ſage ich nach vielfaͤltigen Beobachtungen. Je mehr gerade Li- nien eine Stirn hat, mithin je weniger geraͤumig ſie iſt; denn je gewoͤlbter, deſto geraͤumiger; je geradlinigter, deſto enger — je mehr gerade Linien eine Stirn hat, ohne ganz Bretaͤhnlich zu ſeyn — denn vollkommene Bretaͤhnlichkeit hebt allen Verſtand auf — Je mehr gerade Linien eine Stirn hat, deſto mehr Verſtand und deſto weniger Empfindung hat der Menſch. Es giebt aber unſtreitig breite, viel umfaſſende Stirnen, die zum tiefen Denken vorzuͤglich geſchickt ſind, die keine geraden Linien haben — allein dieſe zeichnen ſich ſodann durch die Schweifungen der Umriſſe aus. 5. Was der Verfaſſer von den Schwaͤrmern ſagt — bedarf wiederum vieler Beſtimmung, ehe es als wahr angenommen werden kann. Doch vielleicht bin ich mit den Schwaͤrmern im Aus- ſtande. — „Man ſagt, daß die Schwaͤrmer gemeiniglich platte, perpendikulare Geſichter haben.“ — Lieber, laͤnglicht runde, cylindriſche, oder oben zugeſpitzte. Die Schwaͤrmer naͤmlich, die’s mit Ruhe, Kaͤlte, und ihr ganz Lebenlang ſind. Andre Schwaͤrmer, das heißt, ſolche Menſchen, die Einbildungen mit Empfindungen verwechſeln — Taͤuſchung mit ſinnlicher Erfahrung, haben ſelten cylindriſche Spitzkoͤpfe. Die Spitzkoͤpfe, wenn ſie ſchwaͤrmen, ſchwaͤrmen mit Worten und Zei- chen, deren Bedeutungen, deren Gehalt ſie nicht verſtehen; ſind philoſophiſche, unpoetiſche Schwaͤr- mer. Die Schwaͤrmer der Jmagination, oder der Empfindung, haben ſelten platte, einfoͤrmige Geſichtsbildungen. — 6. „Eigenſinnige Leute haben das mit den Schwaͤrmern gemein, daß ihre Stirnen perpendi- „kular ſind.“ — Perpendikularitaͤt zeigt immer Kaͤlte, Unelaſtizitaͤt, Beſchraͤnktheit — daher Fe- ſte, die Standhaftigkeit, die Eigenſinn, die Hartſinn, die Schwaͤrmerey werden kann — Ganz perpendikular — und ganz Null an Verſtand iſt Eins. 7. „Einer jeden Geiſtesdiſpoſition entſpricht eine gewiſſe Miene oder Bewegung der Geſichts- „muskeln. Hieraus folgt, was fuͤr Mienen einem Menſchen am natuͤrlichſten und gelaͤufigſten ſind, eben O 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/137>, abgerufen am 24.11.2024.