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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Ueber Jdeale der Alten; schöne Natur; Nachahmung.
suchen, und unter zehnmalen kaum einmal diese Linie erreichen; und gewiß nicht ohne Abweichung
einer Haaresbreite erreichen -- und Abweichung einer Haaresbreite ist schon wieder wichtig für
Schönheit -- Eben diese Haarbreiten; dieß wenig mehr -- sind das unerreichbare der Kunst ...
Wenn nun nicht die einfachste Schönlinie zu erreichen ist -- wie wird's eine ganze Fläche seyn
können? eine schattirte Fläche? eine sich rundende Figur? eine gefärbte, warme, lebendige, ath-
mende Schönheit?

Wie viele haben sich schon am Apoll, und der Venus und dem Torso von Herkules versucht?
Wer hat sie übertroffen, wer erreicht? und es sind doch unbewegliche Statuen -- welch ein Un-
terschied gegen lebendige Gesichter, die kein Moment ruhen, und in stäter äußerlicher und inner-
licher Bewegung sind -- O wer fühlt nicht, daß nicht dran zu gedenken ist -- daß die Griechen
ihre hochgepriesenen Jdeale -- (ja! Jdeale für uns -- Larven entflohener Vorwelt -- und besserer
Menschen) daß sie, sag' ich, ihre Jdeale -- erschaffen? Nicht nur Copieen waren's, sondern Car-
rikaturen der schönern sie umgebenden Natur -- wenigstens Zug für Zug einzeln betrachtet, und
mit dem Originale verglichen, woher es entlehnt ward.

Alle Umrisse der Kunst, und wenn eine Engelshand sie zeichnete, sind ihrer unveränderli-
chen Natur nach immer höchst ruhend und fest; da hingegen alle lebende und athmende Natur in
unaufhörlicher sanfter Fluxion und Wallung ist. Jmmer also, und wenn man die Natur noch so
genau zu erreichen geglaubt hat -- Man hat sie nicht erreicht, und nicht erreichen können. Die
Zeichnung ist stehender Punkt; nicht einmal Moment, und in der Natur ist kein stehender Punkt --
Bewegung, ewige Bewegung alles. Also ist die beste Copie, ihrer Natur nach, eine Rei-
he von Momenten, die in der Natur nie so coexistirten.
Mithin immer Unwahrheit; Un-
natur -- höchstens Aproximation! -- Noch einmal: Nicht ein genauer Schattenriß von einem
lebenden Menschengesichte ist physisch möglich, und man will -- Jdeale schaffen! Wie über-
flüßig offenbar wird durch dieß alles, daß alles Jdealisiren im Grunde nichts anders ist, als Wie-
dervergegenwärtigung gewisser Sensationen von Schönheiten, die uns affizirten; Nachahmung
dieser Schönheiten; Zusammenschmelzung derselben in Eine, uns wenigstens, homogenschei-
nende Form.

Also waren die Griechen schönere Menschen -- bessere Menschen! und das itzige Menschen-
geschlecht ist sehr gesunken!

Aber
F 3

Ueber Jdeale der Alten; ſchoͤne Natur; Nachahmung.
ſuchen, und unter zehnmalen kaum einmal dieſe Linie erreichen; und gewiß nicht ohne Abweichung
einer Haaresbreite erreichen — und Abweichung einer Haaresbreite iſt ſchon wieder wichtig fuͤr
Schoͤnheit — Eben dieſe Haarbreiten; dieß wenig mehr — ſind das unerreichbare der Kunſt ...
Wenn nun nicht die einfachſte Schoͤnlinie zu erreichen iſt — wie wird’s eine ganze Flaͤche ſeyn
koͤnnen? eine ſchattirte Flaͤche? eine ſich rundende Figur? eine gefaͤrbte, warme, lebendige, ath-
mende Schoͤnheit?

Wie viele haben ſich ſchon am Apoll, und der Venus und dem Torſo von Herkules verſucht?
Wer hat ſie uͤbertroffen, wer erreicht? und es ſind doch unbewegliche Statuen — welch ein Un-
terſchied gegen lebendige Geſichter, die kein Moment ruhen, und in ſtaͤter aͤußerlicher und inner-
licher Bewegung ſind — O wer fuͤhlt nicht, daß nicht dran zu gedenken iſt — daß die Griechen
ihre hochgeprieſenen Jdeale — (ja! Jdeale fuͤr uns — Larven entflohener Vorwelt — und beſſerer
Menſchen) daß ſie, ſag’ ich, ihre Jdeale — erſchaffen? Nicht nur Copieen waren’s, ſondern Car-
rikaturen der ſchoͤnern ſie umgebenden Natur — wenigſtens Zug fuͤr Zug einzeln betrachtet, und
mit dem Originale verglichen, woher es entlehnt ward.

Alle Umriſſe der Kunſt, und wenn eine Engelshand ſie zeichnete, ſind ihrer unveraͤnderli-
chen Natur nach immer hoͤchſt ruhend und feſt; da hingegen alle lebende und athmende Natur in
unaufhoͤrlicher ſanfter Fluxion und Wallung iſt. Jmmer alſo, und wenn man die Natur noch ſo
genau zu erreichen geglaubt hat — Man hat ſie nicht erreicht, und nicht erreichen koͤnnen. Die
Zeichnung iſt ſtehender Punkt; nicht einmal Moment, und in der Natur iſt kein ſtehender Punkt —
Bewegung, ewige Bewegung alles. Alſo iſt die beſte Copie, ihrer Natur nach, eine Rei-
he von Momenten, die in der Natur nie ſo coexiſtirten.
Mithin immer Unwahrheit; Un-
natur — hoͤchſtens Aproximation! — Noch einmal: Nicht ein genauer Schattenriß von einem
lebenden Menſchengeſichte iſt phyſiſch moͤglich, und man will — Jdeale ſchaffen! Wie uͤber-
fluͤßig offenbar wird durch dieß alles, daß alles Jdealiſiren im Grunde nichts anders iſt, als Wie-
dervergegenwaͤrtigung gewiſſer Senſationen von Schoͤnheiten, die uns affizirten; Nachahmung
dieſer Schoͤnheiten; Zuſammenſchmelzung derſelben in Eine, uns wenigſtens, homogenſchei-
nende Form.

Alſo waren die Griechen ſchoͤnere Menſchen — beſſere Menſchen! und das itzige Menſchen-
geſchlecht iſt ſehr geſunken!

Aber
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[45/0063] Ueber Jdeale der Alten; ſchoͤne Natur; Nachahmung. ſuchen, und unter zehnmalen kaum einmal dieſe Linie erreichen; und gewiß nicht ohne Abweichung einer Haaresbreite erreichen — und Abweichung einer Haaresbreite iſt ſchon wieder wichtig fuͤr Schoͤnheit — Eben dieſe Haarbreiten; dieß wenig mehr — ſind das unerreichbare der Kunſt ... Wenn nun nicht die einfachſte Schoͤnlinie zu erreichen iſt — wie wird’s eine ganze Flaͤche ſeyn koͤnnen? eine ſchattirte Flaͤche? eine ſich rundende Figur? eine gefaͤrbte, warme, lebendige, ath- mende Schoͤnheit? Wie viele haben ſich ſchon am Apoll, und der Venus und dem Torſo von Herkules verſucht? Wer hat ſie uͤbertroffen, wer erreicht? und es ſind doch unbewegliche Statuen — welch ein Un- terſchied gegen lebendige Geſichter, die kein Moment ruhen, und in ſtaͤter aͤußerlicher und inner- licher Bewegung ſind — O wer fuͤhlt nicht, daß nicht dran zu gedenken iſt — daß die Griechen ihre hochgeprieſenen Jdeale — (ja! Jdeale fuͤr uns — Larven entflohener Vorwelt — und beſſerer Menſchen) daß ſie, ſag’ ich, ihre Jdeale — erſchaffen? Nicht nur Copieen waren’s, ſondern Car- rikaturen der ſchoͤnern ſie umgebenden Natur — wenigſtens Zug fuͤr Zug einzeln betrachtet, und mit dem Originale verglichen, woher es entlehnt ward. Alle Umriſſe der Kunſt, und wenn eine Engelshand ſie zeichnete, ſind ihrer unveraͤnderli- chen Natur nach immer hoͤchſt ruhend und feſt; da hingegen alle lebende und athmende Natur in unaufhoͤrlicher ſanfter Fluxion und Wallung iſt. Jmmer alſo, und wenn man die Natur noch ſo genau zu erreichen geglaubt hat — Man hat ſie nicht erreicht, und nicht erreichen koͤnnen. Die Zeichnung iſt ſtehender Punkt; nicht einmal Moment, und in der Natur iſt kein ſtehender Punkt — Bewegung, ewige Bewegung alles. Alſo iſt die beſte Copie, ihrer Natur nach, eine Rei- he von Momenten, die in der Natur nie ſo coexiſtirten. Mithin immer Unwahrheit; Un- natur — hoͤchſtens Aproximation! — Noch einmal: Nicht ein genauer Schattenriß von einem lebenden Menſchengeſichte iſt phyſiſch moͤglich, und man will — Jdeale ſchaffen! Wie uͤber- fluͤßig offenbar wird durch dieß alles, daß alles Jdealiſiren im Grunde nichts anders iſt, als Wie- dervergegenwaͤrtigung gewiſſer Senſationen von Schoͤnheiten, die uns affizirten; Nachahmung dieſer Schoͤnheiten; Zuſammenſchmelzung derſelben in Eine, uns wenigſtens, homogenſchei- nende Form. Alſo waren die Griechen ſchoͤnere Menſchen — beſſere Menſchen! und das itzige Menſchen- geſchlecht iſt ſehr geſunken! Aber F 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/63>, abgerufen am 22.11.2024.