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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Religiose.
4) Non mali quidem animi -- sagt der sammelnde, aus begränztem Blick und von
der Höhe seines Credits und der alles begießenden Beredsamkeit wie viel entscheidende Mosheim,
"vitaeque emendatae, sed mobilis ingenii, et ex sensu suo, quo nihil est fallacius, re-
"ligionis naturam definiens.
--
"So seyd ihr Menschen mit einander,
"An Muth ist keiner Alexander,
"An Thorheit gehn ihm tausend vor.
Nun an unsere Güion. Nicht den erhabnen Schwung und Reichthum, nicht die Pracht
der Kühnheit erblick' ich in ihrem Gesichte, wie in der Bourrignon -- Aber dann, wie viel ge-
Des III. Ban-
des LXXVII.
Tafel.
drängter, durch Einsamkeit und Leiden stärker -- und prüfender, erlesender, scheidender!
Ein allerliebstes Gesicht! so gesalbt; so rein auffassend, so rein und lieb und treu zu-
rückgebend. Die Stirne scheint reiner, wie alles, aber nicht so groß, als der Bourrignon. Die
Jmagination dieser Stirne, dieser Nase, dieses Mundes reiner -- aber ja im Blicke schwebt --
die andächtige, edle, fromme Schwärmerey. --
Aber der Mund -- ist Copie eines Engelmundes von Reinheit, Treue und Güte. Jm
Ganzen wieder diese stille, tiefe, unerschütterliche, von dem Wirbel der Welt unabhängige, in sich
zusammen gekräftigte Ruhe, an unsichtbare Pfeiler sich festhaltend. --
5) Laßt uns da nicht lange weilen. Spottgeist, Witzmuthwill, crasse, triefende Sinn-
lichkeit möcht' ich sagen. Das Gesicht steht da, wie unter den -- Kindern Gottes vor dem Herrn.
Welche Viehheit -- gefangen in den Stricken des Lügners und Mörders vom Anfang. Der un-
tere Theil des Gesichtes hat den letzten Tropfen von Religionsgefühl für Wollust hingegeben.
6) Das edelste Porträt, das ich noch von Zinzendorf gesehen .. Zinzendorf -- wieder
welch seltenes und vom kalten Vernünftler wie tief zertretenes Religionsgenie! -- Wie viel besser
und größer und geistiger dieß Gesicht, als das auf dem Titel dieses X. Abschnitts. So muß Zin-
zendorf
in seinen frömmsten, heiligsten Stunden ausgesehen haben -- wo er nicht betete, aber be-
tende Brüder und Schwestern erblickte -- oder eine Seele in Jesusliebe schmelzen sah. Dieß An-
gesicht ist nicht Angesicht eines Betrügers -- Wie mußte dieß Gesicht anziehen und bezaubern!
wie
Religioſe.
4) Non mali quidem animi — ſagt der ſammelnde, aus begraͤnztem Blick und von
der Hoͤhe ſeines Credits und der alles begießenden Beredſamkeit wie viel entſcheidende Mosheim,
„vitaeque emendatae, ſed mobilis ingenii, et ex ſenſu ſuo, quo nihil eſt fallacius, re-
„ligionis naturam definiens.

„So ſeyd ihr Menſchen mit einander,
„An Muth iſt keiner Alexander,
„An Thorheit gehn ihm tauſend vor.
Nun an unſere Guͤion. Nicht den erhabnen Schwung und Reichthum, nicht die Pracht
der Kuͤhnheit erblick’ ich in ihrem Geſichte, wie in der Bourrignon — Aber dann, wie viel ge-
Des III. Ban-
des LXXVII.
Tafel.
draͤngter, durch Einſamkeit und Leiden ſtaͤrker — und pruͤfender, erleſender, ſcheidender!
Ein allerliebſtes Geſicht! ſo geſalbt; ſo rein auffaſſend, ſo rein und lieb und treu zu-
ruͤckgebend. Die Stirne ſcheint reiner, wie alles, aber nicht ſo groß, als der Bourrignon. Die
Jmagination dieſer Stirne, dieſer Naſe, dieſes Mundes reiner — aber ja im Blicke ſchwebt —
die andaͤchtige, edle, fromme Schwaͤrmerey. —
Aber der Mund — iſt Copie eines Engelmundes von Reinheit, Treue und Guͤte. Jm
Ganzen wieder dieſe ſtille, tiefe, unerſchuͤtterliche, von dem Wirbel der Welt unabhaͤngige, in ſich
zuſammen gekraͤftigte Ruhe, an unſichtbare Pfeiler ſich feſthaltend. —
5) Laßt uns da nicht lange weilen. Spottgeiſt, Witzmuthwill, craſſe, triefende Sinn-
lichkeit moͤcht’ ich ſagen. Das Geſicht ſteht da, wie unter den — Kindern Gottes vor dem Herrn.
Welche Viehheit — gefangen in den Stricken des Luͤgners und Moͤrders vom Anfang. Der un-
tere Theil des Geſichtes hat den letzten Tropfen von Religionsgefuͤhl fuͤr Wolluſt hingegeben.
6) Das edelſte Portraͤt, das ich noch von Zinzendorf geſehen .. Zinzendorf — wieder
welch ſeltenes und vom kalten Vernuͤnftler wie tief zertretenes Religionsgenie! — Wie viel beſſer
und groͤßer und geiſtiger dieß Geſicht, als das auf dem Titel dieſes X. Abſchnitts. So muß Zin-
zendorf
in ſeinen froͤmmſten, heiligſten Stunden ausgeſehen haben — wo er nicht betete, aber be-
tende Bruͤder und Schweſtern erblickte — oder eine Seele in Jeſusliebe ſchmelzen ſah. Dieß An-
geſicht iſt nicht Angeſicht eines Betruͤgers — Wie mußte dieß Geſicht anziehen und bezaubern!
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[279/0449] Religioſe. 4) Non mali quidem animi — ſagt der ſammelnde, aus begraͤnztem Blick und von der Hoͤhe ſeines Credits und der alles begießenden Beredſamkeit wie viel entſcheidende Mosheim, „vitaeque emendatae, ſed mobilis ingenii, et ex ſenſu ſuo, quo nihil eſt fallacius, re- „ligionis naturam definiens. — „So ſeyd ihr Menſchen mit einander, „An Muth iſt keiner Alexander, „An Thorheit gehn ihm tauſend vor. Nun an unſere Guͤion. Nicht den erhabnen Schwung und Reichthum, nicht die Pracht der Kuͤhnheit erblick’ ich in ihrem Geſichte, wie in der Bourrignon — Aber dann, wie viel ge- draͤngter, durch Einſamkeit und Leiden ſtaͤrker — und pruͤfender, erleſender, ſcheidender! Ein allerliebſtes Geſicht! ſo geſalbt; ſo rein auffaſſend, ſo rein und lieb und treu zu- ruͤckgebend. Die Stirne ſcheint reiner, wie alles, aber nicht ſo groß, als der Bourrignon. Die Jmagination dieſer Stirne, dieſer Naſe, dieſes Mundes reiner — aber ja im Blicke ſchwebt — die andaͤchtige, edle, fromme Schwaͤrmerey. — Aber der Mund — iſt Copie eines Engelmundes von Reinheit, Treue und Guͤte. Jm Ganzen wieder dieſe ſtille, tiefe, unerſchuͤtterliche, von dem Wirbel der Welt unabhaͤngige, in ſich zuſammen gekraͤftigte Ruhe, an unſichtbare Pfeiler ſich feſthaltend. — 5) Laßt uns da nicht lange weilen. Spottgeiſt, Witzmuthwill, craſſe, triefende Sinn- lichkeit moͤcht’ ich ſagen. Das Geſicht ſteht da, wie unter den — Kindern Gottes vor dem Herrn. Welche Viehheit — gefangen in den Stricken des Luͤgners und Moͤrders vom Anfang. Der un- tere Theil des Geſichtes hat den letzten Tropfen von Religionsgefuͤhl fuͤr Wolluſt hingegeben. 6) Das edelſte Portraͤt, das ich noch von Zinzendorf geſehen .. Zinzendorf — wieder welch ſeltenes und vom kalten Vernuͤnftler wie tief zertretenes Religionsgenie! — Wie viel beſſer und groͤßer und geiſtiger dieß Geſicht, als das auf dem Titel dieſes X. Abſchnitts. So muß Zin- zendorf in ſeinen froͤmmſten, heiligſten Stunden ausgeſehen haben — wo er nicht betete, aber be- tende Bruͤder und Schweſtern erblickte — oder eine Seele in Jeſusliebe ſchmelzen ſah. Dieß An- geſicht iſt nicht Angeſicht eines Betruͤgers — Wie mußte dieß Geſicht anziehen und bezaubern! wie

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/449>, abgerufen am 22.11.2024.