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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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X. Abschnitt. XV. Fragment.
Das ganze Gesicht ein liebliches Gemisch von Trübsinn, Kampf mit Zweifeln und phi-
losophischer Behaglichkeit -- die geglaubtes Gefundenhaben der Wahrheit erzeugt. Die Miene
lächelt den Voltärischen Vers:
J'ai des plats ecoliers & des mauvais critiques.
Man vergleiche diesen Kopf mit 5. -- und entscheide -- oder entscheide und richte nicht
vor der Zeit, bis Gott den Rath der Herzen offenbaren, und einem jeden vergelten wird nach sei-
nem Denken und Thun.
3) Bourrignon. Der Kopf ist schlecht gezeichnet. Besonders viel zu kleinlich und unbe-
stimmt der Mund. Jm Ganzen eine große Form von dem entscheidendsten Charakter der Jdeen-
empfänglichkeit und Produktivität. Eine Morgenröthe, die sich aus der Nacht erhebt. --
Ein Profil von diesem Gesichte müßte ganz herrlich sprechend seyn. Jch kann mir ganz
vorstellen, und doch auch nicht vorstellen, wie viel dieß Gesicht in diesem Bilde verloren haben muß.
Jch schließe von den Trümmern, die übrig sind, (denn wahrlich, es sind nur Trümmern) auf das
majestätische Gebäude .. und bey diesen Trümmern sag' ich: Hier gräbt sich nicht mühsame Zwei-
feley Durchgänge durch Felsen -- auch wird hier gewiß kein liebeloses Religionssystem ausgebo-
ren. Aber hier seh' ich holdes, sanftes Schweben in unsichtbaren Welten des Lichts; unwegrä-
sonnirbares Festhalten an erfahrener, tief empfundener Wahrheit; ihrer scheint die Welt nicht
werth, und sie schwebt leise und erhaben über sie hin in Taubeneinfalt. Jch kann nicht ausspre-
chen, wie erhaben, Wolkenlos, Lichtvoll, Jdeenreich ich mir das Original dieser Stirne denken
kann. Und im Auge, welch sanft durchschauender, möchte sagen, einfältig durchliebender Blick!
Unaussprechlich fatal das linke Nasenloch -- gewiß nur durch Schuld der Zeichnung.
Jm Munde -- jungfräulich andächtige Unschuld -- "qui, pour alimenter son ame,
"ne veut prendre autre chose, que le lait de la divine sapience, lequel decoule conti-
"nuellement de la mamelle de la bonte de Dieu.
*)
4) Non
*) Le nouveau Ciel & la nouvelle Terre. P. I. p. 113.
X. Abſchnitt. XV. Fragment.
Das ganze Geſicht ein liebliches Gemiſch von Truͤbſinn, Kampf mit Zweifeln und phi-
loſophiſcher Behaglichkeit — die geglaubtes Gefundenhaben der Wahrheit erzeugt. Die Miene
laͤchelt den Voltaͤriſchen Vers:
J’ai des plats ecoliers & des mauvais critiques.
Man vergleiche dieſen Kopf mit 5. — und entſcheide — oder entſcheide und richte nicht
vor der Zeit, bis Gott den Rath der Herzen offenbaren, und einem jeden vergelten wird nach ſei-
nem Denken und Thun.
3) Bourrignon. Der Kopf iſt ſchlecht gezeichnet. Beſonders viel zu kleinlich und unbe-
ſtimmt der Mund. Jm Ganzen eine große Form von dem entſcheidendſten Charakter der Jdeen-
empfaͤnglichkeit und Produktivitaͤt. Eine Morgenroͤthe, die ſich aus der Nacht erhebt. —
Ein Profil von dieſem Geſichte muͤßte ganz herrlich ſprechend ſeyn. Jch kann mir ganz
vorſtellen, und doch auch nicht vorſtellen, wie viel dieß Geſicht in dieſem Bilde verloren haben muß.
Jch ſchließe von den Truͤmmern, die uͤbrig ſind, (denn wahrlich, es ſind nur Truͤmmern) auf das
majeſtaͤtiſche Gebaͤude .. und bey dieſen Truͤmmern ſag’ ich: Hier graͤbt ſich nicht muͤhſame Zwei-
feley Durchgaͤnge durch Felſen — auch wird hier gewiß kein liebeloſes Religionsſyſtem ausgebo-
ren. Aber hier ſeh’ ich holdes, ſanftes Schweben in unſichtbaren Welten des Lichts; unwegraͤ-
ſonnirbares Feſthalten an erfahrener, tief empfundener Wahrheit; ihrer ſcheint die Welt nicht
werth, und ſie ſchwebt leiſe und erhaben uͤber ſie hin in Taubeneinfalt. Jch kann nicht ausſpre-
chen, wie erhaben, Wolkenlos, Lichtvoll, Jdeenreich ich mir das Original dieſer Stirne denken
kann. Und im Auge, welch ſanft durchſchauender, moͤchte ſagen, einfaͤltig durchliebender Blick!
Unausſprechlich fatal das linke Naſenloch — gewiß nur durch Schuld der Zeichnung.
Jm Munde — jungfraͤulich andaͤchtige Unſchuld — „qui, pour alimenter ſon ame,
„ne veut prendre autre choſe, que le lait de la divine ſapience, lequel decoule conti-
„nuellement de la mamelle de la bonte de Dieu.
*)
4) Non
*) Le nouveau Ciel & la nouvelle Terre. P. I. p. 113.
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[278/0448] X. Abſchnitt. XV. Fragment. Das ganze Geſicht ein liebliches Gemiſch von Truͤbſinn, Kampf mit Zweifeln und phi- loſophiſcher Behaglichkeit — die geglaubtes Gefundenhaben der Wahrheit erzeugt. Die Miene laͤchelt den Voltaͤriſchen Vers: J’ai des plats ecoliers & des mauvais critiques. Man vergleiche dieſen Kopf mit 5. — und entſcheide — oder entſcheide und richte nicht vor der Zeit, bis Gott den Rath der Herzen offenbaren, und einem jeden vergelten wird nach ſei- nem Denken und Thun. 3) Bourrignon. Der Kopf iſt ſchlecht gezeichnet. Beſonders viel zu kleinlich und unbe- ſtimmt der Mund. Jm Ganzen eine große Form von dem entſcheidendſten Charakter der Jdeen- empfaͤnglichkeit und Produktivitaͤt. Eine Morgenroͤthe, die ſich aus der Nacht erhebt. — Ein Profil von dieſem Geſichte muͤßte ganz herrlich ſprechend ſeyn. Jch kann mir ganz vorſtellen, und doch auch nicht vorſtellen, wie viel dieß Geſicht in dieſem Bilde verloren haben muß. Jch ſchließe von den Truͤmmern, die uͤbrig ſind, (denn wahrlich, es ſind nur Truͤmmern) auf das majeſtaͤtiſche Gebaͤude .. und bey dieſen Truͤmmern ſag’ ich: Hier graͤbt ſich nicht muͤhſame Zwei- feley Durchgaͤnge durch Felſen — auch wird hier gewiß kein liebeloſes Religionsſyſtem ausgebo- ren. Aber hier ſeh’ ich holdes, ſanftes Schweben in unſichtbaren Welten des Lichts; unwegraͤ- ſonnirbares Feſthalten an erfahrener, tief empfundener Wahrheit; ihrer ſcheint die Welt nicht werth, und ſie ſchwebt leiſe und erhaben uͤber ſie hin in Taubeneinfalt. Jch kann nicht ausſpre- chen, wie erhaben, Wolkenlos, Lichtvoll, Jdeenreich ich mir das Original dieſer Stirne denken kann. Und im Auge, welch ſanft durchſchauender, moͤchte ſagen, einfaͤltig durchliebender Blick! Unausſprechlich fatal das linke Naſenloch — gewiß nur durch Schuld der Zeichnung. Jm Munde — jungfraͤulich andaͤchtige Unſchuld — „qui, pour alimenter ſon ame, „ne veut prendre autre choſe, que le lait de la divine ſapience, lequel decoule conti- „nuellement de la mamelle de la bonte de Dieu. *) 4) Non *) Le nouveau Ciel & la nouvelle Terre. P. I. p. 113.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/448>, abgerufen am 19.05.2024.