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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Religiose.
Funfzehntes Fragment.
Kontraste. Sechs Köpfe in Ovalen. Vier männliche,
zween weibliche.

1. Spener. 2. Spinosa. 3. Bourrignon. 4. Güion. 5. La Mettrie.
6. Zinzendorf.

Unaussprechlich viel religioser und irreligioser Ausdruck -- auf diesen verschiedenen Gesichtern.

1) Spener. Sollte dieß Gesicht in den muthwilligen Spott des 5, je in die sinnlich Lie-
bessüße Religion des 6, in die geistlichen Verliebtheiten von 3. und 4. sich formen können? Jn der
gedehnten, durchfurchten Stirne, Bedächtlichkeit, Fleiß, Treue. Keine Festigkeit, Kühnheit,
Poesie; keine weder im Blicke, noch in den Augenbraunen. Aber Frömmigkeit, anhaltende Treue,
Gewissenhaftigkeit, Ernst und Weisheit; Ruhe und Salz -- und Vatergüte im Munde. Diese
Gestalt scheint zum Eigensinn der Schwäche (denn es giebt auch einen Eigensinn der Kraft)
gebildet.
2) Nicht das beste Bild, das ich schon von Spinosa gesehen. Nicht drinn die starken Au-
genbraunen des tiefen Denkers -- nicht im untern Umrisse der Nase die unkindische Spürerey --
nicht im Munde die Mäßigkeit und Melancholie des Urbildes .. Aber, so wie's da ist -- welch ein
sprechender Kopf! Wie steht der Mann in sich und auf sich allein! Wie wandelt er eignen Pfades
ohne Rückblick auf Schmäher oder Nachfolge! Wie bildete, wurzelte der sich in tiefer Stille! Wel-
che stille Festigkeit in der Stirne! Was liegt nicht für erstaunlicher Verstand zwischen den Augen-
braunen bis zur Nasenwurzel! Wie viel und tief bemerkend der Blick! Wie aufspürend alle lockere
Stellen jedes ihm begegnenden Systems! Wie ermüdet von Denken, Forschen, Zweifeln -- Jn
dem obgleich gewiß nur halb wahren Munde -- wie viel Weisheit und stiller Adel -- Laune
und Salz!
Das
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Religioſe.
Funfzehntes Fragment.
Kontraſte. Sechs Koͤpfe in Ovalen. Vier maͤnnliche,
zween weibliche.

1. Spener. 2. Spinoſa. 3. Bourrignon. 4. Guͤion. 5. La Mettrie.
6. Zinzendorf.

Unausſprechlich viel religioſer und irreligioſer Ausdruck — auf dieſen verſchiedenen Geſichtern.

1) Spener. Sollte dieß Geſicht in den muthwilligen Spott des 5, je in die ſinnlich Lie-
besſuͤße Religion des 6, in die geiſtlichen Verliebtheiten von 3. und 4. ſich formen koͤnnen? Jn der
gedehnten, durchfurchten Stirne, Bedaͤchtlichkeit, Fleiß, Treue. Keine Feſtigkeit, Kuͤhnheit,
Poeſie; keine weder im Blicke, noch in den Augenbraunen. Aber Froͤmmigkeit, anhaltende Treue,
Gewiſſenhaftigkeit, Ernſt und Weisheit; Ruhe und Salz — und Vaterguͤte im Munde. Dieſe
Geſtalt ſcheint zum Eigenſinn der Schwaͤche (denn es giebt auch einen Eigenſinn der Kraft)
gebildet.
2) Nicht das beſte Bild, das ich ſchon von Spinoſa geſehen. Nicht drinn die ſtarken Au-
genbraunen des tiefen Denkers — nicht im untern Umriſſe der Naſe die unkindiſche Spuͤrerey —
nicht im Munde die Maͤßigkeit und Melancholie des Urbildes .. Aber, ſo wie’s da iſt — welch ein
ſprechender Kopf! Wie ſteht der Mann in ſich und auf ſich allein! Wie wandelt er eignen Pfades
ohne Ruͤckblick auf Schmaͤher oder Nachfolge! Wie bildete, wurzelte der ſich in tiefer Stille! Wel-
che ſtille Feſtigkeit in der Stirne! Was liegt nicht fuͤr erſtaunlicher Verſtand zwiſchen den Augen-
braunen bis zur Naſenwurzel! Wie viel und tief bemerkend der Blick! Wie aufſpuͤrend alle lockere
Stellen jedes ihm begegnenden Syſtems! Wie ermuͤdet von Denken, Forſchen, Zweifeln — Jn
dem obgleich gewiß nur halb wahren Munde — wie viel Weisheit und ſtiller Adel — Laune
und Salz!
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[277/0447] Religioſe. Funfzehntes Fragment. Kontraſte. Sechs Koͤpfe in Ovalen. Vier maͤnnliche, zween weibliche. 1. Spener. 2. Spinoſa. 3. Bourrignon. 4. Guͤion. 5. La Mettrie. 6. Zinzendorf. Unausſprechlich viel religioſer und irreligioſer Ausdruck — auf dieſen verſchiedenen Geſichtern. 1) Spener. Sollte dieß Geſicht in den muthwilligen Spott des 5, je in die ſinnlich Lie- besſuͤße Religion des 6, in die geiſtlichen Verliebtheiten von 3. und 4. ſich formen koͤnnen? Jn der gedehnten, durchfurchten Stirne, Bedaͤchtlichkeit, Fleiß, Treue. Keine Feſtigkeit, Kuͤhnheit, Poeſie; keine weder im Blicke, noch in den Augenbraunen. Aber Froͤmmigkeit, anhaltende Treue, Gewiſſenhaftigkeit, Ernſt und Weisheit; Ruhe und Salz — und Vaterguͤte im Munde. Dieſe Geſtalt ſcheint zum Eigenſinn der Schwaͤche (denn es giebt auch einen Eigenſinn der Kraft) gebildet. 2) Nicht das beſte Bild, das ich ſchon von Spinoſa geſehen. Nicht drinn die ſtarken Au- genbraunen des tiefen Denkers — nicht im untern Umriſſe der Naſe die unkindiſche Spuͤrerey — nicht im Munde die Maͤßigkeit und Melancholie des Urbildes .. Aber, ſo wie’s da iſt — welch ein ſprechender Kopf! Wie ſteht der Mann in ſich und auf ſich allein! Wie wandelt er eignen Pfades ohne Ruͤckblick auf Schmaͤher oder Nachfolge! Wie bildete, wurzelte der ſich in tiefer Stille! Wel- che ſtille Feſtigkeit in der Stirne! Was liegt nicht fuͤr erſtaunlicher Verſtand zwiſchen den Augen- braunen bis zur Naſenwurzel! Wie viel und tief bemerkend der Blick! Wie aufſpuͤrend alle lockere Stellen jedes ihm begegnenden Syſtems! Wie ermuͤdet von Denken, Forſchen, Zweifeln — Jn dem obgleich gewiß nur halb wahren Munde — wie viel Weisheit und ſtiller Adel — Laune und Salz! Das M m 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/447>, abgerufen am 23.11.2024.