Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.VII. Fragment. "volonte s'y oppose, elle les bride, les tient prisonniers, elle s'efforce d'en detourner le"cours & les effets, pour donner le change. Mais il s'en echappe beaucoup, & les "fuyards vont porter des nouvelles certaines de ce, qui se passe dans le secret du con- "seil. Ainsi plus on veut cacher le vrai, plus le trouble augmente, & mieux on se de- "couvre." *) So denke ich mit Dom Pernetty. Jndem ich dieses schreibe, ereignet sich eben ein hieher gehöriges trauriges Beyspiel; ich Zwo Personen, von ungefähr 24. Jahren, sind mehr als einmal vor mir erschienen, und be- Also *) Memoires de l'Acad. de Berl. Tom. XXV. p. 444. **) Arvieux Reisen, 3. Theil, 14. Kapitel.
"Die arabischen Richter sind so genau in ihrer Sa- "che, daß der Leute Ansehen, ihre Gebehrden, der Ton "der Stimme, die Bewegung der Augen, die Farbe des [Spaltenumbruch] "Gesichts, mit einem Worte, alles Aeusserliche, in Be- "trachtung gezogen, und untersucht wird, und ihnen "dienen muß, die Wahrheit, welche die, so den Rechts- "handel führen, oft aus Eigennutz verbergen, heraus- "zubringen." VII. Fragment. „volonté s’y oppoſe, elle les bride, les tient priſonniers, elle s’efforce d’en détourner le„cours & les effets, pour donner le change. Mais il s’en échappe beaucoup, & les „fuyards vont porter des nouvelles certaines de ce, qui ſe paſſe dans le ſecret du con- „ſeil. Ainſi plus on veut cacher le vrai, plus le trouble augmente, & mieux on ſe de- „couvre.“ *) So denke ich mit Dom Pernetty. Jndem ich dieſes ſchreibe, ereignet ſich eben ein hieher gehoͤriges trauriges Beyſpiel; ich Zwo Perſonen, von ungefaͤhr 24. Jahren, ſind mehr als einmal vor mir erſchienen, und be- Alſo *) Mémoires de l’Acad. de Berl. Tom. XXV. p. 444. **) Arvieux Reiſen, 3. Theil, 14. Kapitel.
„Die arabiſchen Richter ſind ſo genau in ihrer Sa- „che, daß der Leute Anſehen, ihre Gebehrden, der Ton „der Stimme, die Bewegung der Augen, die Farbe des [Spaltenumbruch] „Geſichts, mit einem Worte, alles Aeuſſerliche, in Be- „trachtung gezogen, und unterſucht wird, und ihnen „dienen muß, die Wahrheit, welche die, ſo den Rechts- „handel fuͤhren, oft aus Eigennutz verbergen, heraus- „zubringen.“ <TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0080" n="58"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g"><hi rendition="#aq">VII.</hi> Fragment.</hi></hi></fw><lb/> „<hi rendition="#aq">volonté s’y oppoſe, elle les bride, les tient priſonniers, elle s’efforce d’en détourner le<lb/> „cours & les effets, pour donner le change. Mais il s’en échappe beaucoup, & les<lb/> „fuyards vont porter des nouvelles certaines de ce, qui ſe paſſe dans le ſecret du con-<lb/> „ſeil. Ainſi plus on veut cacher le vrai, plus le trouble augmente, & mieux on ſe de-<lb/> „couvre.“</hi> <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">Mémoires de l’Acad. de Berl. Tom. XXV. p.<lb/> 444.</hi></note> So denke ich mit <hi rendition="#fr">Dom Pernetty.</hi></p><lb/> <p>Jndem ich dieſes ſchreibe, ereignet ſich eben ein hieher gehoͤriges trauriges Beyſpiel; ich<lb/> weiß nicht, ob wider, oder fuͤr mich?</p><lb/> <p>Zwo Perſonen, von ungefaͤhr 24. Jahren, ſind mehr als einmal vor mir erſchienen, und be-<lb/> zeugen zugleich mit der moͤglichſten Dreiſtigkeit zwo ſich vollkommen widerſprechende Sachen — <note place="foot" n="**)">Arvieux Reiſen, 3. Theil, 14. Kapitel.<lb/> „Die arabiſchen Richter ſind ſo genau in ihrer Sa-<lb/> „che, daß der Leute Anſehen, ihre Gebehrden, der Ton<lb/> „der Stimme, die Bewegung der Augen, die Farbe des<lb/><cb/> „Geſichts, mit einem Worte, alles Aeuſſerliche, in Be-<lb/> „trachtung gezogen, und unterſucht wird, und ihnen<lb/> „dienen muß, die Wahrheit, welche die, ſo den Rechts-<lb/> „handel fuͤhren, oft aus Eigennutz verbergen, heraus-<lb/> „zubringen.“</note><lb/> Eine: „Du biſt Vater meines Kindes“ — die andere: „Jch habe dich nie beruͤhret.“ — Bey-<lb/> de muͤſſen wiſſen, daß eine von dieſen Ausſagen wahr, die andere falſch iſt; eine von beyden Per-<lb/> ſonen muß wiſſentlich Wahrheit, die andere wiſſentlich Luͤgen reden. Alſo ſtehen die boshaf-<lb/> teſte Verlaͤumdung und die leidendſte Unſchuld vor mir? — „Alſo muß ſich eine von beyden<lb/> „erſtaunlich verſtellen koͤnnen? — Alſo kann die boshafteſte Luͤge die Miene der leidendſten Un-<lb/> „ſchuld annehmen?“ — Ja, ſie kann’s! und es iſt ſchrecklich, daß ſie’s kann; oder vielmehr:<lb/> Nicht, daß ſie’s <hi rendition="#fr">kann</hi> — denn das iſt Vorrecht der freyen Menſchennatur, deren Vollkommen-<lb/> heit und Ehre nicht allein ihre graͤnzenloſe Perfektibilitaͤt, ſondern auch ihre graͤnzenloſe Cor-<lb/> ruptibilitaͤt iſt — denn erſt dieſe letztere giebt der wuͤrklichen freywilligen moraliſchen Verbeſſe-<lb/> rung und Vervollkommnung des Menſchen ihren groͤßten Werth — Alſo — es iſt erſchreck-<lb/> lich; nicht, daß die boshafte Luͤge die Miene der leidendſten Unſchuld annehmen <hi rendition="#fr">kann,</hi> ſondern<lb/> daß ſie dieſe Miene <hi rendition="#fr">annimmt.</hi></p><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Alſo</fw><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [58/0080]
VII. Fragment.
„volonté s’y oppoſe, elle les bride, les tient priſonniers, elle s’efforce d’en détourner le
„cours & les effets, pour donner le change. Mais il s’en échappe beaucoup, & les
„fuyards vont porter des nouvelles certaines de ce, qui ſe paſſe dans le ſecret du con-
„ſeil. Ainſi plus on veut cacher le vrai, plus le trouble augmente, & mieux on ſe de-
„couvre.“ *) So denke ich mit Dom Pernetty.
Jndem ich dieſes ſchreibe, ereignet ſich eben ein hieher gehoͤriges trauriges Beyſpiel; ich
weiß nicht, ob wider, oder fuͤr mich?
Zwo Perſonen, von ungefaͤhr 24. Jahren, ſind mehr als einmal vor mir erſchienen, und be-
zeugen zugleich mit der moͤglichſten Dreiſtigkeit zwo ſich vollkommen widerſprechende Sachen — **)
Eine: „Du biſt Vater meines Kindes“ — die andere: „Jch habe dich nie beruͤhret.“ — Bey-
de muͤſſen wiſſen, daß eine von dieſen Ausſagen wahr, die andere falſch iſt; eine von beyden Per-
ſonen muß wiſſentlich Wahrheit, die andere wiſſentlich Luͤgen reden. Alſo ſtehen die boshaf-
teſte Verlaͤumdung und die leidendſte Unſchuld vor mir? — „Alſo muß ſich eine von beyden
„erſtaunlich verſtellen koͤnnen? — Alſo kann die boshafteſte Luͤge die Miene der leidendſten Un-
„ſchuld annehmen?“ — Ja, ſie kann’s! und es iſt ſchrecklich, daß ſie’s kann; oder vielmehr:
Nicht, daß ſie’s kann — denn das iſt Vorrecht der freyen Menſchennatur, deren Vollkommen-
heit und Ehre nicht allein ihre graͤnzenloſe Perfektibilitaͤt, ſondern auch ihre graͤnzenloſe Cor-
ruptibilitaͤt iſt — denn erſt dieſe letztere giebt der wuͤrklichen freywilligen moraliſchen Verbeſſe-
rung und Vervollkommnung des Menſchen ihren groͤßten Werth — Alſo — es iſt erſchreck-
lich; nicht, daß die boshafte Luͤge die Miene der leidendſten Unſchuld annehmen kann, ſondern
daß ſie dieſe Miene annimmt.
Alſo
*) Mémoires de l’Acad. de Berl. Tom. XXV. p.
444.
**) Arvieux Reiſen, 3. Theil, 14. Kapitel.
„Die arabiſchen Richter ſind ſo genau in ihrer Sa-
„che, daß der Leute Anſehen, ihre Gebehrden, der Ton
„der Stimme, die Bewegung der Augen, die Farbe des
„Geſichts, mit einem Worte, alles Aeuſſerliche, in Be-
„trachtung gezogen, und unterſucht wird, und ihnen
„dienen muß, die Wahrheit, welche die, ſo den Rechts-
„handel fuͤhren, oft aus Eigennutz verbergen, heraus-
„zubringen.“
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Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/80>, abgerufen am 16.07.2024. |