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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.
einem Grade, daß ihn alle Welt, nach dem Sprachgebrauch vollkommen richtig, als lasterhaft
verurtheilt. Will man nun sagen: "Siehe da deinen lasterhaften Schönen! was will denn
"deine Harmonie der Tugend und Schönheit!"

Aber wir haben ja angenommen, daß der Mann "vortreffliche Anlagen, viel Gutes"
hatte? daß er seinen natürlich guten Character eine Zeitlang weiter fortgebaut und befestigt?

Er hatte also und hat noch Gutes, nachahmens- anstrebenswürdiges Gutes? und je
natürlicher *) es ihm ist, je tiefern Grund es in seinen ersten Anlagen hat, desto tiefern und
festern Eindruck schöner Züge hat's auf sein Angesicht gepflanzt. Die Wurzeln und der
Stamm können noch sichtbar seyn, obgleich wilde Zweige eingeimpft worden; der Acker, der
gute Grund noch merkbar, obgleich Unkraut unter den guten Waizen gesäet ward! So, wer
kann's nicht begreifen, wie das noch ein schön Gesicht ist, ungeachtet der Lasterhaftigkeit der
Person! desto wahrer bleibt unser Satz.

Und dann warlich braucht's kaum ein wenig geübte Augen, so wird man finden und
gestehen müssen, daß eben das Gesichte, wovon wir reden, vor der Herrschaft dieser Leiden-
schaft noch schöner war? und nun wenigstens häßlicher sey, als ehedem! Ach wie viel unange-
nehmer, gröber, häßlicher, sey als ehedem -- wenn's auch lange noch nicht auf den Grad
kommt, den Gellerts Lied bezeichnet:

"Wie blühte nicht des Jünglings Jugend;
"Doch er vergaß den Weg der Tugend,
"Und seine Kräfte sind verzehrt!
"Verwesung schändet sein Gesichte,
"Und predigt schrecklich die Geschichte
"Der Lüste, die den Leib verheert!"

Jch habe recht schöne und gute Jünglinge gesehen, die sich in wenig Jahren durch Geilheit und
Unmäßigkeit sehr verhäßlicht haben; man nannte sie überhaupt noch immer schön; sie waren's
auch; aber guter Gott! wie tief unter der vormahligen Schönheit!

So
*) Was natürlich gut, oder böse, Tugend, La-
ster, so auch Vernunft, Verstand, Genie, Einsicht,
natürliche Anlage, Erwerb, u. s. w. heißen könne,[Spaltenumbruch]
davon werden wir häufig zu reden Gelegenheit ha-
ben. Nähere Bestimmungen werden bey unsern Un-
tersuchungen unentbehrlich seyn.
K 2

der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
einem Grade, daß ihn alle Welt, nach dem Sprachgebrauch vollkommen richtig, als laſterhaft
verurtheilt. Will man nun ſagen: „Siehe da deinen laſterhaften Schoͤnen! was will denn
„deine Harmonie der Tugend und Schoͤnheit!“

Aber wir haben ja angenommen, daß der Mann „vortreffliche Anlagen, viel Gutes“
hatte? daß er ſeinen natuͤrlich guten Character eine Zeitlang weiter fortgebaut und befeſtigt?

Er hatte alſo und hat noch Gutes, nachahmens- anſtrebenswuͤrdiges Gutes? und je
natuͤrlicher *) es ihm iſt, je tiefern Grund es in ſeinen erſten Anlagen hat, deſto tiefern und
feſtern Eindruck ſchoͤner Zuͤge hat's auf ſein Angeſicht gepflanzt. Die Wurzeln und der
Stamm koͤnnen noch ſichtbar ſeyn, obgleich wilde Zweige eingeimpft worden; der Acker, der
gute Grund noch merkbar, obgleich Unkraut unter den guten Waizen geſaͤet ward! So, wer
kann's nicht begreifen, wie das noch ein ſchoͤn Geſicht iſt, ungeachtet der Laſterhaftigkeit der
Perſon! deſto wahrer bleibt unſer Satz.

Und dann warlich braucht's kaum ein wenig geuͤbte Augen, ſo wird man finden und
geſtehen muͤſſen, daß eben das Geſichte, wovon wir reden, vor der Herrſchaft dieſer Leiden-
ſchaft noch ſchoͤner war? und nun wenigſtens haͤßlicher ſey, als ehedem! Ach wie viel unange-
nehmer, groͤber, haͤßlicher, ſey als ehedem — wenn's auch lange noch nicht auf den Grad
kommt, den Gellerts Lied bezeichnet:

„Wie bluͤhte nicht des Juͤnglings Jugend;
„Doch er vergaß den Weg der Tugend,
„Und ſeine Kraͤfte ſind verzehrt!
„Verweſung ſchaͤndet ſein Geſichte,
„Und predigt ſchrecklich die Geſchichte
„Der Luͤſte, die den Leib verheert!“

Jch habe recht ſchoͤne und gute Juͤnglinge geſehen, die ſich in wenig Jahren durch Geilheit und
Unmaͤßigkeit ſehr verhaͤßlicht haben; man nannte ſie uͤberhaupt noch immer ſchoͤn; ſie waren's
auch; aber guter Gott! wie tief unter der vormahligen Schoͤnheit!

So
*) Was natuͤrlich gut, oder boͤſe, Tugend, La-
ſter, ſo auch Vernunft, Verſtand, Genie, Einſicht,
natuͤrliche Anlage, Erwerb, u. ſ. w. heißen koͤnne,[Spaltenumbruch]
davon werden wir haͤufig zu reden Gelegenheit ha-
ben. Naͤhere Beſtimmungen werden bey unſern Un-
terſuchungen unentbehrlich ſeyn.
K 2
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[67/0095] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. einem Grade, daß ihn alle Welt, nach dem Sprachgebrauch vollkommen richtig, als laſterhaft verurtheilt. Will man nun ſagen: „Siehe da deinen laſterhaften Schoͤnen! was will denn „deine Harmonie der Tugend und Schoͤnheit!“ Aber wir haben ja angenommen, daß der Mann „vortreffliche Anlagen, viel Gutes“ hatte? daß er ſeinen natuͤrlich guten Character eine Zeitlang weiter fortgebaut und befeſtigt? Er hatte alſo und hat noch Gutes, nachahmens- anſtrebenswuͤrdiges Gutes? und je natuͤrlicher *) es ihm iſt, je tiefern Grund es in ſeinen erſten Anlagen hat, deſto tiefern und feſtern Eindruck ſchoͤner Zuͤge hat's auf ſein Angeſicht gepflanzt. Die Wurzeln und der Stamm koͤnnen noch ſichtbar ſeyn, obgleich wilde Zweige eingeimpft worden; der Acker, der gute Grund noch merkbar, obgleich Unkraut unter den guten Waizen geſaͤet ward! So, wer kann's nicht begreifen, wie das noch ein ſchoͤn Geſicht iſt, ungeachtet der Laſterhaftigkeit der Perſon! deſto wahrer bleibt unſer Satz. Und dann warlich braucht's kaum ein wenig geuͤbte Augen, ſo wird man finden und geſtehen muͤſſen, daß eben das Geſichte, wovon wir reden, vor der Herrſchaft dieſer Leiden- ſchaft noch ſchoͤner war? und nun wenigſtens haͤßlicher ſey, als ehedem! Ach wie viel unange- nehmer, groͤber, haͤßlicher, ſey als ehedem — wenn's auch lange noch nicht auf den Grad kommt, den Gellerts Lied bezeichnet: „Wie bluͤhte nicht des Juͤnglings Jugend; „Doch er vergaß den Weg der Tugend, „Und ſeine Kraͤfte ſind verzehrt! „Verweſung ſchaͤndet ſein Geſichte, „Und predigt ſchrecklich die Geſchichte „Der Luͤſte, die den Leib verheert!“ Jch habe recht ſchoͤne und gute Juͤnglinge geſehen, die ſich in wenig Jahren durch Geilheit und Unmaͤßigkeit ſehr verhaͤßlicht haben; man nannte ſie uͤberhaupt noch immer ſchoͤn; ſie waren's auch; aber guter Gott! wie tief unter der vormahligen Schoͤnheit! So *) Was natuͤrlich gut, oder boͤſe, Tugend, La- ſter, ſo auch Vernunft, Verſtand, Genie, Einſicht, natuͤrliche Anlage, Erwerb, u. ſ. w. heißen koͤnne, davon werden wir haͤufig zu reden Gelegenheit ha- ben. Naͤhere Beſtimmungen werden bey unſern Un- terſuchungen unentbehrlich ſeyn. K 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/95>, abgerufen am 11.05.2024.