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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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IX. Fragment. Von der Harmonie

-- Der hübsche Bauerssohn war aber auch Stadt- und Landbekanntermaßen ein stol-
zer, harter, hitziger, frecher Mann, und sein Gesicht ein zu treuer Ausdruck davon. -- Der-
gleichen Wirkungen menschlicher Angesichter, beobachtete ich schon eine Menge an dem Kinde,
viel früher als dieß geschehen war; und an welchem Kinde nicht? *)

3. Für's dritte müssen wir uns nur über die Worte recht verstehen.

Geht man man hin und spricht den Satz so schlecht und roh aus: "der Tugendhafte
"ist schön, der Lasterhafte körperlich häßlich:" so giebt's auch beynahe eben so viele Einwen-
dungen als verschiedene Begriffe von tugendhaft und lasterhaft! moralisch gut und schlimm!
Die höfliche Welt, die jeden Menschen, von dem sie nicht geradezu sagen darf, er sey laster-
haft, einen tugendhaften nennt; und der schwache Religiose, dem jeder, den er nicht nach sei-
nem Jdeale tugendhaft nennen kann, lasterhaft heißt; der Officier, der den Mann von Ehre,
und den Soldaten, der gut in seinen Dienst taugt, tugendhaft -- der Pöbel; der niemanden, als
wer wider den Buchstaben des sechsten, siebenten, achten und neunten Gebots sündigt, laster-
haft nennt; und der Bauer, der tugendhaft bleibt, so lang er nicht in des Landvoigts Ge-
richt fällt; der eingeschränkte Moralist, der nichts moralisch gut heißt, als was durch Wider-
stand und ängstliche Verläugnungen erworben ist, oder dem Tugend gar Stoicismus ist: --
diese alle werden, ein jeder nach seinen Begriffen, gegen diesen so schwebenden, unbestimmten, para-
dox-vorgetragenen Satz aufstehen, und zeugen! Allein man hat ja schon von oben herunter
merken können, daß ich hier die Wörter Tugend und Laster im allerweitesten Umfang, in
der größten Ausdehnung nehme, oder eigentlich nur überhaupt von moralischer Schönheit
und Häßlichkeit rede! Zu jener rechne ich alles Edle, Gute, Wohlwollende, zu guten Zwecken
sich Regende und Wirksame, wie's immer in die Seele gekommen seyn mag; zu dieser alles
Unedle, Uebelwollende, Widrige, Kleine, wie's immer in's Herz gekommen sey.

So kann es also kommen, daß der eine viel vortreffliche Anlagen, viel Gutes hat,
auch lange Zeit dieses Gute angebaut hat, aber später einer Leidenschaft den Zügel läßt -- in

einem
*) Die Kinder die besten Physiognomisten, die
wahrsten Gegenstände der Physiognomik, wären wohl[Spaltenumbruch]
eines besondern Fragments -- wären eines ganzen
Bandes werth. Aber wer will es verfassen?
IX. Fragment. Von der Harmonie

— Der huͤbſche Bauersſohn war aber auch Stadt- und Landbekanntermaßen ein ſtol-
zer, harter, hitziger, frecher Mann, und ſein Geſicht ein zu treuer Ausdruck davon. — Der-
gleichen Wirkungen menſchlicher Angeſichter, beobachtete ich ſchon eine Menge an dem Kinde,
viel fruͤher als dieß geſchehen war; und an welchem Kinde nicht? *)

3. Fuͤr's dritte muͤſſen wir uns nur uͤber die Worte recht verſtehen.

Geht man man hin und ſpricht den Satz ſo ſchlecht und roh aus: „der Tugendhafte
„iſt ſchoͤn, der Laſterhafte koͤrperlich haͤßlich:“ ſo giebt's auch beynahe eben ſo viele Einwen-
dungen als verſchiedene Begriffe von tugendhaft und laſterhaft! moraliſch gut und ſchlimm!
Die hoͤfliche Welt, die jeden Menſchen, von dem ſie nicht geradezu ſagen darf, er ſey laſter-
haft, einen tugendhaften nennt; und der ſchwache Religioſe, dem jeder, den er nicht nach ſei-
nem Jdeale tugendhaft nennen kann, laſterhaft heißt; der Officier, der den Mann von Ehre,
und den Soldaten, der gut in ſeinen Dienſt taugt, tugendhaft — der Poͤbel; der niemanden, als
wer wider den Buchſtaben des ſechſten, ſiebenten, achten und neunten Gebots ſuͤndigt, laſter-
haft nennt; und der Bauer, der tugendhaft bleibt, ſo lang er nicht in des Landvoigts Ge-
richt faͤllt; der eingeſchraͤnkte Moraliſt, der nichts moraliſch gut heißt, als was durch Wider-
ſtand und aͤngſtliche Verlaͤugnungen erworben iſt, oder dem Tugend gar Stoicismus iſt: —
dieſe alle werden, ein jeder nach ſeinen Begriffen, gegen dieſen ſo ſchwebenden, unbeſtimmten, para-
dox-vorgetragenen Satz aufſtehen, und zeugen! Allein man hat ja ſchon von oben herunter
merken koͤnnen, daß ich hier die Woͤrter Tugend und Laſter im allerweiteſten Umfang, in
der groͤßten Ausdehnung nehme, oder eigentlich nur uͤberhaupt von moraliſcher Schoͤnheit
und Haͤßlichkeit rede! Zu jener rechne ich alles Edle, Gute, Wohlwollende, zu guten Zwecken
ſich Regende und Wirkſame, wie's immer in die Seele gekommen ſeyn mag; zu dieſer alles
Unedle, Uebelwollende, Widrige, Kleine, wie's immer in's Herz gekommen ſey.

So kann es alſo kommen, daß der eine viel vortreffliche Anlagen, viel Gutes hat,
auch lange Zeit dieſes Gute angebaut hat, aber ſpaͤter einer Leidenſchaft den Zuͤgel laͤßt — in

einem
*) Die Kinder die beſten Phyſiognomiſten, die
wahrſten Gegenſtaͤnde der Phyſiognomik, waͤren wohl[Spaltenumbruch]
eines beſondern Fragments — waͤren eines ganzen
Bandes werth. Aber wer will es verfaſſen?
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[66/0094] IX. Fragment. Von der Harmonie — Der huͤbſche Bauersſohn war aber auch Stadt- und Landbekanntermaßen ein ſtol- zer, harter, hitziger, frecher Mann, und ſein Geſicht ein zu treuer Ausdruck davon. — Der- gleichen Wirkungen menſchlicher Angeſichter, beobachtete ich ſchon eine Menge an dem Kinde, viel fruͤher als dieß geſchehen war; und an welchem Kinde nicht? *) 3. Fuͤr's dritte muͤſſen wir uns nur uͤber die Worte recht verſtehen. Geht man man hin und ſpricht den Satz ſo ſchlecht und roh aus: „der Tugendhafte „iſt ſchoͤn, der Laſterhafte koͤrperlich haͤßlich:“ ſo giebt's auch beynahe eben ſo viele Einwen- dungen als verſchiedene Begriffe von tugendhaft und laſterhaft! moraliſch gut und ſchlimm! Die hoͤfliche Welt, die jeden Menſchen, von dem ſie nicht geradezu ſagen darf, er ſey laſter- haft, einen tugendhaften nennt; und der ſchwache Religioſe, dem jeder, den er nicht nach ſei- nem Jdeale tugendhaft nennen kann, laſterhaft heißt; der Officier, der den Mann von Ehre, und den Soldaten, der gut in ſeinen Dienſt taugt, tugendhaft — der Poͤbel; der niemanden, als wer wider den Buchſtaben des ſechſten, ſiebenten, achten und neunten Gebots ſuͤndigt, laſter- haft nennt; und der Bauer, der tugendhaft bleibt, ſo lang er nicht in des Landvoigts Ge- richt faͤllt; der eingeſchraͤnkte Moraliſt, der nichts moraliſch gut heißt, als was durch Wider- ſtand und aͤngſtliche Verlaͤugnungen erworben iſt, oder dem Tugend gar Stoicismus iſt: — dieſe alle werden, ein jeder nach ſeinen Begriffen, gegen dieſen ſo ſchwebenden, unbeſtimmten, para- dox-vorgetragenen Satz aufſtehen, und zeugen! Allein man hat ja ſchon von oben herunter merken koͤnnen, daß ich hier die Woͤrter Tugend und Laſter im allerweiteſten Umfang, in der groͤßten Ausdehnung nehme, oder eigentlich nur uͤberhaupt von moraliſcher Schoͤnheit und Haͤßlichkeit rede! Zu jener rechne ich alles Edle, Gute, Wohlwollende, zu guten Zwecken ſich Regende und Wirkſame, wie's immer in die Seele gekommen ſeyn mag; zu dieſer alles Unedle, Uebelwollende, Widrige, Kleine, wie's immer in's Herz gekommen ſey. So kann es alſo kommen, daß der eine viel vortreffliche Anlagen, viel Gutes hat, auch lange Zeit dieſes Gute angebaut hat, aber ſpaͤter einer Leidenſchaft den Zuͤgel laͤßt — in einem *) Die Kinder die beſten Phyſiognomiſten, die wahrſten Gegenſtaͤnde der Phyſiognomik, waͤren wohl eines beſondern Fragments — waͤren eines ganzen Bandes werth. Aber wer will es verfaſſen?

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/94>, abgerufen am 11.05.2024.