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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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IX. Fragment. Von der Harmonie

So kann auf der andern Seite ein Mensch mit besonderer Disposition zu unedlen Lei-
denschaften, denen eine verderbte Erziehung noch auf den Thron geholfen hat -- und die also
Jahre lang über ihn geherrscht haben, der also auch ziemlich häßlich drein sieht -- von einer ge-
wissen Zeit an sich seine Vervollkommnung äußerst angelegen seyn lassen -- gegen seine niedri-
gen Leidenschaften zu Felde ziehen, auch bisweilen nicht geringe Siege über sie erhalten: Er
kann wenigstens viele grobe Ausbrüche derselben vermeiden, und aus den edelsten Absichten sie
schwächen. Dieß heißt also in einem sehr richtigen Sinne ein eigentlich tugendhafter Mensch; --
und es giebt einen moralischen Richter, dessen Urtheil uns über alles gilt, der in ihm wirklich
größere Tugend sieht, als in keinem natürlich guten Geschöpfe; und den wird man also als
ein Beyspiel anführen wollen, von einem häßlichen Tugendhaften? Freylich! Seine Häßlich-
keiten aber sind jedennoch ein treuer Ausdruck von allem dem moralischen Unflath, der doch in
ihm lag und lange wirkte, und dessen schwere Menge das Verdienst seiner Tugend, ja eben um
so mehr erhöhet. Und abermal, ehe diese Bestrebungen der Tugend anfiengen, wie viel häßlicher
war die Häßlichkeit des Gesichtes! und seither, man beobachte! wie hat es sich verschönert!
Sokrates von allen Physiognomisten und Antiphysiognomisten tausendmal angeführtes Bey-
spiel gehört ganz hieher.

Ein sehr gescheuter, aber dabey, ich sag' es ungern, sehr unbilliger *) Recensent mei-
nes ersten unreifen physiognomischen Versuchs, den ich nennen könnte, aber nicht nennen mag,
hat mit der Miene des triumphirenden Spottes gefragt: "ob Constantinus nach seiner Be-
"kehrung andere Gesichtszüge gehabt haben werde, als vor derselben?" -- Jch würde glauben,
einen Menschen auf keine Weise tiefer erniedrigen und beschämen zu können, als wenn ich ihm alles
sagen wollte, was sich auf diese Frage antworten ließe, und gewiß würde seine Physiognomie nach
diesen Beantwortungen eine ganz andere seyn, als vor denselben! -- Doch von der Verschönerung
und Verschlimmerung der Physiognomie ein eigenes Fragment.

Man
*) Sehr gelinde heiß' ich es Unbilligkeit, wenn
ein Recensent von 3 oder 4 Gründen, die ein Schrift-
steller für seine Meynung oder zur Rechtfertigung der
Herausgabe seiner Schrift anführt, 2 oder 3 unter-
drückt, den schwächsten heraushebt, noch falsch aus-[Spaltenumbruch]
schreibt, und sich drüber mit dem Publikum über den
Verfasser lustig macht. Wie würde man in Rechts-
sachen, einen solchen falschen Richter ansehn? Welche
Namen ihm geben?
IX. Fragment. Von der Harmonie

So kann auf der andern Seite ein Menſch mit beſonderer Diſpoſition zu unedlen Lei-
denſchaften, denen eine verderbte Erziehung noch auf den Thron geholfen hat — und die alſo
Jahre lang uͤber ihn geherrſcht haben, der alſo auch ziemlich haͤßlich drein ſieht — von einer ge-
wiſſen Zeit an ſich ſeine Vervollkommnung aͤußerſt angelegen ſeyn laſſen — gegen ſeine niedri-
gen Leidenſchaften zu Felde ziehen, auch bisweilen nicht geringe Siege uͤber ſie erhalten: Er
kann wenigſtens viele grobe Ausbruͤche derſelben vermeiden, und aus den edelſten Abſichten ſie
ſchwaͤchen. Dieß heißt alſo in einem ſehr richtigen Sinne ein eigentlich tugendhafter Menſch; —
und es giebt einen moraliſchen Richter, deſſen Urtheil uns uͤber alles gilt, der in ihm wirklich
groͤßere Tugend ſieht, als in keinem natuͤrlich guten Geſchoͤpfe; und den wird man alſo als
ein Beyſpiel anfuͤhren wollen, von einem haͤßlichen Tugendhaften? Freylich! Seine Haͤßlich-
keiten aber ſind jedennoch ein treuer Ausdruck von allem dem moraliſchen Unflath, der doch in
ihm lag und lange wirkte, und deſſen ſchwere Menge das Verdienſt ſeiner Tugend, ja eben um
ſo mehr erhoͤhet. Und abermal, ehe dieſe Beſtrebungen der Tugend anfiengen, wie viel haͤßlicher
war die Haͤßlichkeit des Geſichtes! und ſeither, man beobachte! wie hat es ſich verſchoͤnert!
Sokrates von allen Phyſiognomiſten und Antiphyſiognomiſten tauſendmal angefuͤhrtes Bey-
ſpiel gehoͤrt ganz hieher.

Ein ſehr geſcheuter, aber dabey, ich ſag' es ungern, ſehr unbilliger *) Recenſent mei-
nes erſten unreifen phyſiognomiſchen Verſuchs, den ich nennen koͤnnte, aber nicht nennen mag,
hat mit der Miene des triumphirenden Spottes gefragt: „ob Conſtantinus nach ſeiner Be-
„kehrung andere Geſichtszuͤge gehabt haben werde, als vor derſelben?“ — Jch wuͤrde glauben,
einen Menſchen auf keine Weiſe tiefer erniedrigen und beſchaͤmen zu koͤnnen, als wenn ich ihm alles
ſagen wollte, was ſich auf dieſe Frage antworten ließe, und gewiß wuͤrde ſeine Phyſiognomie nach
dieſen Beantwortungen eine ganz andere ſeyn, als vor denſelben! — Doch von der Verſchoͤnerung
und Verſchlimmerung der Phyſiognomie ein eigenes Fragment.

Man
*) Sehr gelinde heiß' ich es Unbilligkeit, wenn
ein Recenſent von 3 oder 4 Gruͤnden, die ein Schrift-
ſteller fuͤr ſeine Meynung oder zur Rechtfertigung der
Herausgabe ſeiner Schrift anfuͤhrt, 2 oder 3 unter-
druͤckt, den ſchwaͤchſten heraushebt, noch falſch aus-[Spaltenumbruch]
ſchreibt, und ſich druͤber mit dem Publikum uͤber den
Verfaſſer luſtig macht. Wie wuͤrde man in Rechts-
ſachen, einen ſolchen falſchen Richter anſehn? Welche
Namen ihm geben?
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[68/0096] IX. Fragment. Von der Harmonie So kann auf der andern Seite ein Menſch mit beſonderer Diſpoſition zu unedlen Lei- denſchaften, denen eine verderbte Erziehung noch auf den Thron geholfen hat — und die alſo Jahre lang uͤber ihn geherrſcht haben, der alſo auch ziemlich haͤßlich drein ſieht — von einer ge- wiſſen Zeit an ſich ſeine Vervollkommnung aͤußerſt angelegen ſeyn laſſen — gegen ſeine niedri- gen Leidenſchaften zu Felde ziehen, auch bisweilen nicht geringe Siege uͤber ſie erhalten: Er kann wenigſtens viele grobe Ausbruͤche derſelben vermeiden, und aus den edelſten Abſichten ſie ſchwaͤchen. Dieß heißt alſo in einem ſehr richtigen Sinne ein eigentlich tugendhafter Menſch; — und es giebt einen moraliſchen Richter, deſſen Urtheil uns uͤber alles gilt, der in ihm wirklich groͤßere Tugend ſieht, als in keinem natuͤrlich guten Geſchoͤpfe; und den wird man alſo als ein Beyſpiel anfuͤhren wollen, von einem haͤßlichen Tugendhaften? Freylich! Seine Haͤßlich- keiten aber ſind jedennoch ein treuer Ausdruck von allem dem moraliſchen Unflath, der doch in ihm lag und lange wirkte, und deſſen ſchwere Menge das Verdienſt ſeiner Tugend, ja eben um ſo mehr erhoͤhet. Und abermal, ehe dieſe Beſtrebungen der Tugend anfiengen, wie viel haͤßlicher war die Haͤßlichkeit des Geſichtes! und ſeither, man beobachte! wie hat es ſich verſchoͤnert! Sokrates von allen Phyſiognomiſten und Antiphyſiognomiſten tauſendmal angefuͤhrtes Bey- ſpiel gehoͤrt ganz hieher. Ein ſehr geſcheuter, aber dabey, ich ſag' es ungern, ſehr unbilliger *) Recenſent mei- nes erſten unreifen phyſiognomiſchen Verſuchs, den ich nennen koͤnnte, aber nicht nennen mag, hat mit der Miene des triumphirenden Spottes gefragt: „ob Conſtantinus nach ſeiner Be- „kehrung andere Geſichtszuͤge gehabt haben werde, als vor derſelben?“ — Jch wuͤrde glauben, einen Menſchen auf keine Weiſe tiefer erniedrigen und beſchaͤmen zu koͤnnen, als wenn ich ihm alles ſagen wollte, was ſich auf dieſe Frage antworten ließe, und gewiß wuͤrde ſeine Phyſiognomie nach dieſen Beantwortungen eine ganz andere ſeyn, als vor denſelben! — Doch von der Verſchoͤnerung und Verſchlimmerung der Phyſiognomie ein eigenes Fragment. Man *) Sehr gelinde heiß' ich es Unbilligkeit, wenn ein Recenſent von 3 oder 4 Gruͤnden, die ein Schrift- ſteller fuͤr ſeine Meynung oder zur Rechtfertigung der Herausgabe ſeiner Schrift anfuͤhrt, 2 oder 3 unter- druͤckt, den ſchwaͤchſten heraushebt, noch falſch aus- ſchreibt, und ſich druͤber mit dem Publikum uͤber den Verfaſſer luſtig macht. Wie wuͤrde man in Rechts- ſachen, einen ſolchen falſchen Richter anſehn? Welche Namen ihm geben?

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/96>, abgerufen am 21.11.2024.