Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.IX. Fragment. Von der Harmonie So kann auf der andern Seite ein Mensch mit besonderer Disposition zu unedlen Lei- Ein sehr gescheuter, aber dabey, ich sag' es ungern, sehr unbilliger *) Recensent mei- Man *) Sehr gelinde heiß' ich es Unbilligkeit, wenn
ein Recensent von 3 oder 4 Gründen, die ein Schrift- steller für seine Meynung oder zur Rechtfertigung der Herausgabe seiner Schrift anführt, 2 oder 3 unter- drückt, den schwächsten heraushebt, noch falsch aus-[Spaltenumbruch] schreibt, und sich drüber mit dem Publikum über den Verfasser lustig macht. Wie würde man in Rechts- sachen, einen solchen falschen Richter ansehn? Welche Namen ihm geben? IX. Fragment. Von der Harmonie So kann auf der andern Seite ein Menſch mit beſonderer Diſpoſition zu unedlen Lei- Ein ſehr geſcheuter, aber dabey, ich ſag' es ungern, ſehr unbilliger *) Recenſent mei- Man *) Sehr gelinde heiß' ich es Unbilligkeit, wenn
ein Recenſent von 3 oder 4 Gruͤnden, die ein Schrift- ſteller fuͤr ſeine Meynung oder zur Rechtfertigung der Herausgabe ſeiner Schrift anfuͤhrt, 2 oder 3 unter- druͤckt, den ſchwaͤchſten heraushebt, noch falſch aus-[Spaltenumbruch] ſchreibt, und ſich druͤber mit dem Publikum uͤber den Verfaſſer luſtig macht. Wie wuͤrde man in Rechts- ſachen, einen ſolchen falſchen Richter anſehn? Welche Namen ihm geben? <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0096" n="68"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">IX.</hi> <hi rendition="#g">Fragment. Von der Harmonie</hi> </hi> </fw><lb/> <p>So kann auf der andern Seite ein Menſch mit beſonderer Diſpoſition zu unedlen Lei-<lb/> denſchaften, denen eine verderbte Erziehung noch auf den Thron geholfen hat — und die alſo<lb/> Jahre lang uͤber ihn geherrſcht haben, der alſo auch ziemlich haͤßlich drein ſieht — von einer ge-<lb/> wiſſen Zeit an ſich ſeine Vervollkommnung aͤußerſt angelegen ſeyn laſſen — gegen ſeine niedri-<lb/> gen Leidenſchaften zu Felde ziehen, auch bisweilen nicht geringe Siege uͤber ſie erhalten: Er<lb/> kann wenigſtens viele grobe Ausbruͤche derſelben vermeiden, und aus den edelſten Abſichten ſie<lb/> ſchwaͤchen. Dieß heißt alſo in einem ſehr richtigen Sinne ein eigentlich tugendhafter Menſch; —<lb/> und es giebt einen moraliſchen Richter, deſſen Urtheil uns uͤber alles gilt, der in ihm wirklich<lb/> groͤßere Tugend ſieht, als in keinem natuͤrlich <hi rendition="#fr">guten</hi> Geſchoͤpfe; und den wird man alſo als<lb/> ein Beyſpiel anfuͤhren wollen, von einem haͤßlichen Tugendhaften? Freylich! Seine Haͤßlich-<lb/> keiten aber ſind jedennoch ein treuer Ausdruck von allem dem moraliſchen Unflath, der doch in<lb/> ihm lag und lange wirkte, und deſſen ſchwere Menge das Verdienſt ſeiner Tugend, ja eben um<lb/> ſo mehr erhoͤhet. Und abermal, ehe dieſe Beſtrebungen der Tugend anfiengen, wie viel haͤßlicher<lb/> war die Haͤßlichkeit des Geſichtes! und ſeither, man beobachte! wie hat es ſich verſchoͤnert!<lb/><hi rendition="#fr">Sokrates</hi> von allen Phyſiognomiſten und Antiphyſiognomiſten tauſendmal angefuͤhrtes Bey-<lb/> ſpiel gehoͤrt ganz hieher.</p><lb/> <p>Ein ſehr geſcheuter, aber dabey, ich ſag' es ungern, ſehr unbilliger <note place="foot" n="*)">Sehr gelinde heiß' ich es Unbilligkeit, wenn<lb/> ein Recenſent von 3 oder 4 Gruͤnden, die ein Schrift-<lb/> ſteller fuͤr ſeine Meynung oder zur Rechtfertigung der<lb/> Herausgabe ſeiner Schrift anfuͤhrt, 2 oder 3 unter-<lb/> druͤckt, den ſchwaͤchſten heraushebt, noch falſch aus-<cb/><lb/> ſchreibt, und ſich druͤber mit dem Publikum uͤber den<lb/> Verfaſſer luſtig macht. Wie wuͤrde man in Rechts-<lb/> ſachen, einen ſolchen falſchen Richter anſehn? Welche<lb/> Namen ihm geben?</note> Recenſent mei-<lb/> nes erſten unreifen phyſiognomiſchen Verſuchs, den ich nennen koͤnnte, aber nicht nennen mag,<lb/> hat mit der Miene des triumphirenden Spottes gefragt: „ob <hi rendition="#fr">Conſtantinus</hi> nach ſeiner Be-<lb/> „kehrung andere Geſichtszuͤge gehabt haben werde, als vor derſelben?“ — Jch wuͤrde glauben,<lb/> einen Menſchen auf keine Weiſe tiefer erniedrigen und beſchaͤmen zu koͤnnen, als wenn ich ihm alles<lb/> ſagen wollte, was ſich auf dieſe Frage antworten ließe, und gewiß wuͤrde ſeine Phyſiognomie nach<lb/> dieſen Beantwortungen eine ganz andere ſeyn, als vor denſelben! — Doch von der Verſchoͤnerung<lb/> und Verſchlimmerung der Phyſiognomie ein eigenes Fragment.</p><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Man</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [68/0096]
IX. Fragment. Von der Harmonie
So kann auf der andern Seite ein Menſch mit beſonderer Diſpoſition zu unedlen Lei-
denſchaften, denen eine verderbte Erziehung noch auf den Thron geholfen hat — und die alſo
Jahre lang uͤber ihn geherrſcht haben, der alſo auch ziemlich haͤßlich drein ſieht — von einer ge-
wiſſen Zeit an ſich ſeine Vervollkommnung aͤußerſt angelegen ſeyn laſſen — gegen ſeine niedri-
gen Leidenſchaften zu Felde ziehen, auch bisweilen nicht geringe Siege uͤber ſie erhalten: Er
kann wenigſtens viele grobe Ausbruͤche derſelben vermeiden, und aus den edelſten Abſichten ſie
ſchwaͤchen. Dieß heißt alſo in einem ſehr richtigen Sinne ein eigentlich tugendhafter Menſch; —
und es giebt einen moraliſchen Richter, deſſen Urtheil uns uͤber alles gilt, der in ihm wirklich
groͤßere Tugend ſieht, als in keinem natuͤrlich guten Geſchoͤpfe; und den wird man alſo als
ein Beyſpiel anfuͤhren wollen, von einem haͤßlichen Tugendhaften? Freylich! Seine Haͤßlich-
keiten aber ſind jedennoch ein treuer Ausdruck von allem dem moraliſchen Unflath, der doch in
ihm lag und lange wirkte, und deſſen ſchwere Menge das Verdienſt ſeiner Tugend, ja eben um
ſo mehr erhoͤhet. Und abermal, ehe dieſe Beſtrebungen der Tugend anfiengen, wie viel haͤßlicher
war die Haͤßlichkeit des Geſichtes! und ſeither, man beobachte! wie hat es ſich verſchoͤnert!
Sokrates von allen Phyſiognomiſten und Antiphyſiognomiſten tauſendmal angefuͤhrtes Bey-
ſpiel gehoͤrt ganz hieher.
Ein ſehr geſcheuter, aber dabey, ich ſag' es ungern, ſehr unbilliger *) Recenſent mei-
nes erſten unreifen phyſiognomiſchen Verſuchs, den ich nennen koͤnnte, aber nicht nennen mag,
hat mit der Miene des triumphirenden Spottes gefragt: „ob Conſtantinus nach ſeiner Be-
„kehrung andere Geſichtszuͤge gehabt haben werde, als vor derſelben?“ — Jch wuͤrde glauben,
einen Menſchen auf keine Weiſe tiefer erniedrigen und beſchaͤmen zu koͤnnen, als wenn ich ihm alles
ſagen wollte, was ſich auf dieſe Frage antworten ließe, und gewiß wuͤrde ſeine Phyſiognomie nach
dieſen Beantwortungen eine ganz andere ſeyn, als vor denſelben! — Doch von der Verſchoͤnerung
und Verſchlimmerung der Phyſiognomie ein eigenes Fragment.
Man
*) Sehr gelinde heiß' ich es Unbilligkeit, wenn
ein Recenſent von 3 oder 4 Gruͤnden, die ein Schrift-
ſteller fuͤr ſeine Meynung oder zur Rechtfertigung der
Herausgabe ſeiner Schrift anfuͤhrt, 2 oder 3 unter-
druͤckt, den ſchwaͤchſten heraushebt, noch falſch aus-
ſchreibt, und ſich druͤber mit dem Publikum uͤber den
Verfaſſer luſtig macht. Wie wuͤrde man in Rechts-
ſachen, einen ſolchen falſchen Richter anſehn? Welche
Namen ihm geben?
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